»Jegliche Form von Antisemitismus hat in unserer WG ebenso nichts verloren wie Rassismen und Antifeminismus«, schreiben Studenten der Frankfurter Universität 2014 auf der Wohngemeinschaftsplattform www.wg.de, auf der sie einen neuen Mitbewohner suchen. Verblüffend. Meine Wohngemeinschaftserfahrungen sind vierzig Jahre her. Damals war es für uns völlig undenkbar, dass Menschen, die in eine WG ziehen, also links waren, antisemitisch sein könnten. Wer in eine WG zog, wollte ein anderes Leben, wollte frei sein. Antisemitismus war die Geschichte der Eltern. Vermieter fürchteten Wohngemeinschaften wie der Teufel das Weihwasser, was besonders für das katholische München ein schöner Vergleich ist, der Stadt, in der ich als junger Student 1970 strandete. Wir wollten die teuren Mieten in München untereinander aufteilen, in einer schönen Altbauwohnung leben, in Schwabing möglichst, und waren weit davon entfernt, eine Kommune zu gründen. Das erledigten Fritz Teufel und Co. in Berlin. Vielleicht waren wir mit dem Feminismus noch nicht in der Weise vertraut wie die Jüngeren heute, aber spätestens als eine bekennende Feministin bei uns einzog, war klar, dass wir nicht mehr im Stehen pinkeln durften und Abwasch und Putzen gemeinsam erledigt wurden. Wir waren gegen das Establishment, dessen korrekte Schreibweise uns mehr Mühe bereitete als dessen Definition: »Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment.« Das war übrigens genau die Vorstellung, die unsere Eltern vom Leben in einer Wohngemeinschaft hatten. Aber Eltern waren, gleichgültig, was sie tatsächlich im Krieg getan hatten, ohnehin von Haus aus Nazis und hatten somit jede Autorität verspielt. Wir fackelten da nicht lange, und ich fragte auch nicht nach, nicht einmal dann, als mein Vater sich in sein Arbeitszimmer verzog, es wochenlang nur zum Essen verließ und am Ende ein mehrbändiges Fotoalbum fertiggestellt hatte mit allen Fotos, die er während des Russlandfeldzuges gemacht hatte. Heimlich, wie er sagte. Es waren keine Heldenfotos, im Gegenteil. Es waren Momentaufnahmen eines Albtraums. Mittendrin mein Vater, der nie einen Menschen erschossen hat, wie er immer wieder beteuerte, als Funker aber über alle Verbrechen informiert gewesen sein muss. Bis heute sind mir drei Bilder unauslöschlich in Erinnerung. Ein Mann und seine Frau, die ihr totes Kind über einen Acker tragen; Männer, an einem Galgen aufgeknüpft; und eine Menschenschlange in einem Dorf in den Westkarpaten. Männer mit Hüten, Koffern und einem gelben Stern auf dem Mantel. »Judenabtransport« hat mein Vater mit seiner schönen Schrift daruntergeschrieben, »19. 4. 1944, Munkacz (heute: Mukatschewo)«. Es war keine Fotosammlung, die mein Vater stolz herumgereicht hat, sie war eigentlich nur für ihn selbst bestimmt. Es war seine Art, mit dem Horror des Krieges fertigzuwerden, die eigene Geschichte mit allen Gräueln zwischen zwei Buchdeckeln abgeheftet, zu öffnen nur bei Bedarf. Den aber verspürte ich lange Jahre nicht, und als ich endlich mehr wissen wollte, war er alt und dement, und aus dem »Judenabtransport« waren in seiner verklärten Erinnerung Menschen geworden, »die nach Lebensmitteln angestanden haben«.
Juden spielten in meinem studentischen Leben und auch danach keine Rolle. Ich kannte keine Juden, jedenfalls nicht bewusst. Das änderte sich erst, als ich, knapp fünfzig Jahre alt, für eine Filmdokumentation über Mengele-Zwillinge zum ersten Mal nach Israel fuhr. Bis dahin wusste ich wenig über dieses Land, wie hektisch es ist, wie lebhaft, wie winzig. Und auch über seine Bewohner wusste ich nicht viel, außer dass unter ihnen viele Juden waren aus der ganzen Welt, darunter viele, die Hitler und den KZs entkommen waren. Ein historisches Wissen, aber keines, das fühlt. Das änderte sich dramatisch. Ich saß in einem Vorort von Tel Aviv plötzlich einer Frau mit Auschwitznummer auf dem Unterarm gegenüber. Solche Nummern kannte ich aus dem Kino und aus Dokumentarfilmen, aber plötzlich war die Nummer mit einem Gesicht und einem Namen verbunden. Miri Schönberger. Sie war mit ihrer Zwillingsschwester Sarah als 13-Jährige nach Auschwitz deportiert worden und in die Hölle von Mengele geraten. Den Tod ihrer Eltern beschreibt sie in unserem Dokumentarfilm »Als das Lachen verbrannte« (1995): »Ich sehe ihre letzten Momente vor mir, wie meine Eltern die Wände hochklettern, man hatte ihnen gesagt, sie gehen ins Badehaus, aber dann kam statt Wasser Gas.« Sie sprach mit Esther Jiddisch, mir verweigerte sie jedes Gespräch, jeden Blickkontakt, ich war ein Deutscher und nicht da. Ich war nach dem Krieg geboren, aber ich war das Kind eines Täters. Es gab kein Entrinnen, ich war plötzlich mitschuldig für das, was meine Eltern angerichtet hatten.
In meiner Geburtsstadt Heidelberg lebten vor 1933 über eintausend Juden. Vierzig von ihnen waren noch am Leben, als ich 1947 auf die Welt kam. Aber was hatte ich damit zu tun? Meine Generation, ausgestattet mit der »Gnade der späten Geburt«, war fein raus aus der Sache. Meine Mutter hatte den Krieg in Berlin überlebt, aber auch wenig darüber erzählt. Nicht einmal, dass ihr Vater kurz vor Kriegsende eine Jüdin im Haus versteckt hat. Niemand in der Familie hat diese kleine Heldentat je erwähnt, vielleicht weil das Verhalten meines Großvaters eher eigenwillig war und nicht von allen in der Familie gebilligt wurde. Erst als wir an einem Film und an einem Buch über Alois Brunner saßen, einem der größten Naziverbrecher, der bis zu seinem Tod 2009 fröhlich in Syrien untergeschlüpft war, stieß ich eher zufällig auf meinen mutigen Großvater. Meine Großmutter hielt bis zu ihrem Tod Kontakt mit der damals Versteckten, Clary Post, die nach dem Krieg nach England gegangen war. Soweit ich weiß, ist sie nie nach Deutschland zurückgekehrt. Die, die es wissen konnten, schwiegen sich beharrlich aus.
Meine Welt war aufgeteilt in gut und böse, und es war immer besser, bei den Guten zu sein. Die Bösen waren jetzt die Amerikaner, vor allem die, die in Vietnam kämpften, obwohl sie dort nichts verloren hatten. Dass sie es waren, die unser Land einst befreit hatten, nahm das verehrte Publikum erst vierzig Jahre später und eher widerwillig zur Kenntnis, als Richard von Weizsäcker daran erinnerte. Natürlich war ich gegen den Krieg in Vietnam, also gegen die Amerikaner. Wir waren gegen den Schah-Besuch und seine Schläger. Wir waren gegen Bild und die Bullen, die Benno Ohnesorg auf dem Gewissen hatten. Mit dem in seinem Blut liegenden Studenten endete das große Happening meiner Studienzeit. Der 2. Juni 1967 war eine Zäsur für uns alle. Es war ein Freitag, und am Montag drauf war Krieg, aber weit weg im Nahen Osten. Er ließ uns erst einmal kalt. Ein Scharmützel in der Ferne und sechs Tage nur. Sie endeten mit einem fulminanten Sieg Israels. »Blitzkrieg«, jubelte der Spiegel. Unsere Eltern nickten anerkennend. Blitzkrieg, damit kannten sie sich aus. Der neue Wüstenfuchs trug eine Augenklappe und war Jude: Moshe Dayan. Und Bild siegte mit. Wir waren gegen Springer und damit wie von selbst plötzlich auch gegen Israel. Aus »Ho, Ho, Ho Chi Minh« wurde »Shalom – Napalm«. Vietnam war gestern, Palästina heute. Die Opfer der Barbarei unserer Eltern wurden für uns über Nacht zu Tätern und Israel zum Schurkenstaat. Wie Juden in unserem Land dabei dachten und fühlten, war mir herzlich egal. Mir war der Mekong näher als der Jordan.
Meine Wohngemeinschaft lag mitten in Schwabing. Dass im damals noch wenig angesagten Stadtteil Haidhausen eine ganz andere Wohngemeinschaft ihre Zelte aufgeschlagen hatte, habe ich erst vierzig Jahre später während der Arbeit an meinem Dokumentarfilm »München 1970 – Als der Terror zu uns kam« erfahren. Es war die WG meiner Spaßikone Fritz Teufel. Seine Kommune 1 in Berlin war gerade abgewickelt worden. Nun plante Teufel von München aus und am Vorabend des Olympiaanschlags seine anfangs originellen, später weniger lustigen Aktionen. Zusammen mit Irmgard Möller übrigens, der späteren RAF-Terroristin, mit der er seit 1970 liiert war. Ihr schreibt er im selben Jahr aus Stadelheim, wo er gerade eine kurze Haftstrafe verbüßte: »Ich träume wirr, höre jeden Freitag die Hitparade (z.Zt. führen immer noch Simon und Garfunkel, das Zionistenduo mit dem israelischen Luftwaffenhit El Condor pasa).« Ich mochte die beiden Rockmusiker gerne und habe nie darüber nachgedacht, ob sie Juden sind. Und schon gar nicht wäre mir das Wort »Zionisten« in den Sinn gekommen. Vermutlich wusste auch Fritz Teufel nicht, ob die amerikanischen Juden Paul Simon und Art Garfunkel Theodor Herzls Idee von einem Judenstaat unterstützen. Das war ihm vermutlich auch völlig egal. Sie wurden nicht als Amerikaner, sondern weil sie Juden waren für die Politik Israels in Sippenhaft genommen. Schon damals. Mir wiederum war als Fan der beiden Musiker deren Religion nicht wichtig, die Musik war entscheidend, nicht ihr Gott. Und warum sollten sich gerade Linke für religiöse oder ethnische Zugehörigkeiten überhaupt interessieren? Oder jemanden deswegen sogar ausgrenzen? Aber da war ich viel zu naiv, wie ich heute weiß. Viel zu lange habe ich der Illusion nachgehangen, dass insbesondere Linke und Pazifisten keine Antisemiten sein können, von Natur aus sozusagen. »Kein Blut für Öl«, dafür ging ich Jahre später auf die Straße, aber Solidarität mit Israel? Warum?
Erst im Laufe meiner entschiedenen Beschäftigung mit dem Holocaust, mit dem jüdischen Staat Israel, mit Überlebenden der Shoa und mit meiner eigenen, persönlichen Geschichte habe ich herausgefunden, dass die Formel links sauber und rechts übel nicht stimmt und nie gestimmt hat. Spätestens durch die Ergebnisse der Recherche für meinen Dokumentarfilm wurde meine...