Jerusalem zur Zeit von Jesus:
Kein Stein bleibt auf dem anderen
Die Heilige Stadt zur Zeit von Jesus verdankt ihr „Gesicht“ vor allem dem König Herodes. Er ist die große Figur in Jerusalem unter der Herrschaft der Römer. Die Bauwerke aus seiner Zeit – soweit sie noch zu sehen sind – erkennt man leicht an den typischen „Rahmen“, den die Bausteine aufweisen. In der Zitadelle rund um den sogenannten Davids-Turm sind noch viele solche Steine erhalten. Um die Zeitenwende beherrschte Rom die Provinz Judäa. Die Stadt Jerusalem hatte aber bis zur Zerstörung 70 n.Chr. noch nicht die typisch römischen Merkmale. Die heutigen Mauern und Tore der Altstadt folgen nicht dem antiken Muster. Die wichtigste christliche Gedenkstätte, die Grabeskirche, lag damals außerhalb der ummauerten Stadt.
› Typische Rahmen an Bausteinen aus der herodianischen Zeit.
Die archäologischen Schichten sind in Jerusalem so beschaffen wie überall, wo sich Ausgrabungsstätten befinden: Sie überlagern sich, sodass es schwierig zu erkennen ist, was wann gebaut wurde. David hatte den Tempelplatz oberhalb seiner damaligen Stadt ausgesucht und Baumaterialien gesammelt. Aus den biblischen Berichten kann das Aussehen der salomonischen Anbetungsstätte rekonstruiert werden. Wo genau der allerheiligste Teil des Bauwerks stand, ist Gegenstand vieler Spekulationen und Theorien. Genau weiß man es nicht. Heutigen Juden ist es deshalb generell nicht erlaubt, die Tempelplattform zu betreten, damit niemand unwissentlich in verbotenes Territorium gerät, das der Priesterschaft vorbehalten war. Möglicherweise befinden sich einige der ungeheuer großen Fundamentblöcke aus der Zeit Salomos noch vor Ort, aber an eher verborgenen Stellen.
Was heute noch gut sichtbar in der Klagemauer erhalten ist, stammt aus herodianischer Zeit. Der Tempelberg und die Burg Antonia überragten die Häuser. Vom sogenannten zweiten Tempel*2, der nach der Rückkehr aus dem Exil in Babylon erbaut wurde, sind kaum Reste erhalten geblieben. In jüngster Zeit kamen allerdings Balken zum Vorschein, die möglicherweise alle Umbauten überstanden haben. Das kostbare Holz aus dem Libanon wurde immer wieder verwendet.
Ein archäologischer Park
Im Schatten des Tempelbergs, der Südmauer entlang, befindet sich heute ein archäologischer Park. Er vermittelt Einblicke in das Leben der Stadt zur Zeit von Jesus. Benjamin Mazar und Meir Ben-Dov legten zwischen 1968 und 1977 Schichten von der Eisenzeit (der Zeit Davids) bis zur omajjadischen Bebauung (7.–8. Jahrhundert n.Chr.) frei. In der Bibel wird der Ort Ophel genannt. Keramikscherben aus unterschiedlichen Zeiten blieben dort in Felsspalten und Höhlen liegen.
Gräber wurden mit Beigaben bestückt und auch Depots, sogenannte favissae*1, wurden angelegt. Solche Gruben finden sich überall auf der Welt. Offenbar unterschieden die Menschen immer schon zwischen heiligen und alltäglichen Dingen. Krüge, Schalen, Figurinen*2, Opfergaben und anderes, was nicht verbrannt werden konnte, begrub man rituell und warf es nicht einfach weg. Solche Depots sind Fundgruben im wahrsten Sinn des Wortes. Die Interpretation der solcherart bestatteten Gegenstände ist zwar nicht einfach, zeigt aber die ganze Bandbreite der religiösen Gepflogenheiten längst vergangener Zeiten. Ein Vorratskrug trug die Inschrift für Jescha(j)ahu, eine Schüssel die Buchstaben qd(sch), was „heilig“ bedeuten könnte. Namen wie Haggai und Nachum waren in Stempelsiegel geritzt. In einem Speicherhaus kamen viele Vorratskrüge für Öl oder Wein zum Vorschein. Einer trug die Bezeichnung für den Obersten der Bäcker.4
› Ein Familiengrab der Herodianer in Jerusalem zeigt die Beschaffenheit von Gräbern mit Rollstein, wie sie zur Zeit von Jesus gebaut wurden.
Als Herodes den Tempel von Grund auf erneuerte und vergrößerte, wurde die alte Bebauung zum Teil bis auf den Felsen abgetragen. Ein monumentaler Treppenzugang zur Plattform entstand. Auch durch die Huldatore (heute verschlossen und in die Mauer integriert) konnten die Gläubigen zum Tempel gelangen.
Das Wohl-Museum
Um einen Einblick in das Leben der Priesterschaft werfen zu können, lohnt es sich, in das Wohl-Museum hinunterzusteigen. Aufwendige Grabungen und Rekonstruktionen unter den heutigen Häusern zeigen elegante Räume und Höfe, aufwendig verzierte Fußböden, Heizungsanlagen und Bäder. Besonders eindrücklich sind die Steingefäße, die von der wohlhabenden Priesterschaft verwendet wurden. Keramikschalen und -krüge, die mit etwas Unreinem in Berührung kamen, mussten zerbrochen und ausgemustert werden (3. Mose 11,33). Teure Steingefäße dagegen konnte man reinigen und wiederverwenden – für sie galt die Vorschrift aus dem 3. Mosebuch nicht.
Zisternen und Straßenpflaster
Um auf das Niveau der Straßen und Plätze zur Zeit von Jesus zu gelangen, muss man von der Via Dolorosa aus etliche Stufen hinuntersteigen. In Johannes 19,13 wird ein spezieller Ort erwähnt. „Auf diese Worte hin ließ Pilatus Jesus wieder hinausführen. Dann setzte er sich auf den Richterstuhl, an einer Stelle, die man ‚Steinpflaster‘ nannte (auf Hebräisch Gabbata).“ Grabungen unter der Ecce-Homo-Kirche legten fein gerillte Steinplatten frei, die als Lithostrotos-Forum bezeichnet werden und nach der Tradition auf jene Bibelstelle zurückgeführt werden. Heute weiß man, dass dieses Pflaster nichts mit dem Prozess Jesu zu tun hat. Die Bearbeitung der Platten sollte verhindern, dass Tiere darauf ausrutschten. Wer heute in der Altstadt von Jerusalem unterwegs ist, weiß diese Methode ebenfalls zu schätzen, denn durch das Begehen der Gassen und Treppen wurden diese im Laufe der Jahrhunderte sehr glatt.
Andere Spuren im Steinpflaster stellen bekannte und unbekannte Geschicklichkeits- und Zufallsspiele dar. Mit Wurfgegenständen wie Knöchelchen (sog. Astragalen*1), Nüssen, Steinchen und Würfeln wurde gespielt und gehüpft, wie es die Kinder heute noch tun. Solche Spielfelder im Straßenpflaster waren in römischer Zeit sehr beliebt und sind überall zu finden. In Jerusalem sind sie jedoch besonders gut erhalten, da sie jahrhundertelang zugedeckt waren.
› Spielplan aus römischer Zeit, ins Straßenpflaster eingeritzt.
Da Jerusalem 800 Meter über dem Meeresspiegel gelegen ist, erhält es im Winter eine beträchtliche Menge an Regen. Das kostbare Nass wurde sorgfältig gesammelt und in Zisternen*1 geleitet. Viele davon sind heute noch unter dem Straßenpflaster, den Kirchen und Häusern erhalten. Ablaufrinnen und Wassereinlässe transportierten die Niederschläge in einen unter dem erwähnten Steinpflaster liegenden riesigen Speicher, das Struthion-Becken. Diese Wasserspeicheranlage misst etwa 14 × 50 Meter und ist in den Fels gehauen. Schon vor Herodes dem Großen und dann unter ihm wurde das Becken ausgebaut und mit aufwendigen Gewölbekonstruktionen abgedeckt.
Auch die Teiche – wie im Bereich des Löwentores die riesige Bethesda-Anlage – dienten der Speicherung von Wasser. Jahrhundertelang nutzten Pilger die Becken zur rituellen Reinigung. Auch siedelten sich dort Ärzte an. Verschiedene Staubecken waren übereinander angelegt und mit einem ausgeklügelten Überlaufsystem versehen worden.
› Modell der Teichanlage Bethesda mit den beiden Becken und fünf Säulenhallen.
Ungeahnte Einblicke in das Zisternensystem der Stadt bietet ein Besuch der Kirche St. Peter in Gallicantu. Der Name dieser Kirche leitet sich vom lateinischen Wort für „Hahnenschrei“ ab und erinnert daran, dass der Hahn krähte, nachdem Petrus den Herrn zum dritten Mal verleugnet hatte. In herodianischer Zeit lag hier ein Wohnquartier. Wohnhöhlen mit Kellern und Küchen, eine Mühle mit Silos, Bäder und Werkstätten mit Vorratsräumen sind neben den zahlreichen Zisternen nachgewiesen.
› Die Kirche St. Peter in Gallicantu.
Besonders interessant ist ein ehemaliger Türsturz, der später in eine Kanalisation verbaut wurde. Die aramäische Inschrift lautet: le eschta qorban. Es bezieht sich auf das Gelübdewesen. Ein Gegenstand wurde durch diese Bezeichnung dem alltäglichen Gebrauch entzogen, wie es Jesus in Markus 7,10-13 als fromme Täuschung kritisiert. „Mose gab euch das Gebot von Gott: ‚Ehre deinen Vater und deine Mutter‘, und: ‚Wer Vater oder Mutter verflucht, soll mit dem Tod bestraft werden.‘ Ihr dagegen behauptet, es sei durchaus richtig, wenn jemand zu seinen Eltern sagt: ‚Es tut mir leid, ich kann euch nicht helfen. Ich habe gelobt, Gott alles zu geben, was ich euch hätte geben können.‘ “ Hier steht in der Bibel der Fachausdruck qorban, der die Widmung...