[ Zum Inhaltsverzeichnis ]
KAPITEL 3
Verlorene Wunder
Die größte und zugleich eine der bedeutendsten Bibliotheken der Welt liegt nur ein paar Schritte von meinem Büro entfernt. Die Kongressbibliothek, die 1800 gegründet wurde, war ursprünglich im Kapitol untergebracht, bis es von den Briten im Krieg von 1812 niedergebrannt wurde.7 Die dreitausend Buchbände fachten das Feuer erst recht an. Am 30. Januar 1815 entschied der Kongress, die Nationalbibliothek wiederaufzubauen, indem sie den Ankauf der größten privaten Buchsammlung der Vereinigten Staaten genehmigte, die Thomas Jefferson gehörte, dem dritten Präsidenten der USA. Jefferson witzelte einmal: „Ich kann ohne Bücher nicht leben.“ Aber offenbar war er bereit, sich für die läppische Summe von 23 950 Dollar von seinen 6487 Büchern zu trennen.
Zusammen mit der derzeitigen Sammlung von 35 Millionen Büchern hütet die Kongressbibliothek 136 Millionen Fotografien, 6,5 Millionen Notenblätter und 5,4 Millionen Landkarten. Wenn man alle Regale in einer Linie aufstellen würde, käme man auf eine Länge von 1349 Kilometern. Das ist grob einmal die Strecke von Washington, D. C. nach St. Louis. Und täglich kommen 11 000 neue Artikel dazu. Darunter befinden sich auch eines von nur drei vollständig existierenden Exemplaren der Gutenbergbibel; The Bay Psalm Book, das erste Buch, das 1640 in Amerika gedruckt wurde; die amerikanische „Geburtsurkunde“ – eine Weltkarte von Martin Waldseemüller aus dem Jahr 1507, auf der der Name America erstmals auftaucht; und die weltgrößte Sammlung historischer Telefonbücher, in der manch einer noch die Adressen und fünfstelligen Telefonnummern seiner Urgroßeltern finden kann.
Eines der unbekannteren Werke aus Jeffersons Sammlung – und gleichzeitig vielleicht das bedeutendste überhaupt – wurde 1555 in Genf gedruckt. Es veränderte die Art und Weise, wie wir die Bibel lesen, radikal. Der französische Druckhandwerker, Verleger und Bibelübersetzer Robert Estienne kam auf die neuartige Idee, Zahlen zu ergänzen, um den Text in Verse und Kapitel einzuteilen. Wenn Sie also das nächste Mal Psalm 23 lesen oder Römer 8,28 oder Epheser 3,20, haben Sie das der Biblia von Robert Estienne zu verdanken. Und er war es auch, der „Johannes 3,16“-Plakate ermöglichte!
Auch wenn es reine Spekulation ist, frage ich mich, ob es Estiennes einzigartige Bibelübersetzung war, die Thomas Jefferson dazu animierte, seine eigene Version zu schaffen – The Jefferson Bible. Doch anstatt Ziffern zu ergänzen, ließ Jefferson Verse weg. Er schuf eine gekürzte Fassung der Bibel, indem er alle Wunder herausstrich.
Das Schneidebrett
Thomas Jefferson brachte den Lehren Jesu eine tiefe Wertschätzung entgegen, aber er war auch ein Kind der Aufklärung. In seinem ersten Collegejahr lernte er als Sechzehnjähriger die Schriften der britischen Empiriker kennen. John Locke, Sir Francis Bacon und Gleichgesinnte hoben die Vernunft auf den Thron und machten die Logik zum Herrscher. Jefferson tat es ihnen gleich.
Im Februar 1804 ging er mit einem Rasiermesser zu Werk. Er schnitt seine Lieblingspassagen aus der Bibel heraus und klebte sie in zwei Spalten auf 46 DIN A5-Seiten. Jefferson übernahm die Predigten Jesu, aber die Wunder ließ er weg. Er entfernte die Jungfrauengeburt, die Auferstehung und jedes übernatürliche Ereignis dazwischen. Um es mit den Worten des Historikers Edwin Gaustad zu sagen: „Wenn sich eine moralische Lektion in einem Wunder verbarg, dann überlebte die Lektion in der Jefferson-Fassung, aber nicht das Wunder. Selbst wenn es bedeutete, sie mit größter Sorgfalt auszuschneiden.“8 Die Geschichte des Mannes mit der verkrüppelten Hand ist dafür ein klassisches Beispiel. In Jeffersons Bibel gibt Jesus immer noch Hinweise zum Sabbat, aber die Hand des Mannes heilt er nicht. Als Jefferson beim Johannesevangelium ankam, „war seine Klinge anhaltend beschäftigt“, bemerkt Gaustad.9 Jeffersons Version des Evangeliums endet damit, dass der Stein vors Grab gerollt wird. Jesus starb am Kreuz, aber er stand nie von den Toten auf.
An der Heiligen Schrift herumzubasteln, ist schwer vorstellbar, nicht wahr? Aber tun wir nicht manchmal dasselbe? Natürlich würden wir es niemals wagen, eine Schere in die Hand zu nehmen, aber wir schneiden und kleben trotzdem. Wir picken unsere Lieblingsverse heraus und ignorieren die, die wir nicht verstehen oder die wir nicht besonders mögen. Wir relativieren die Verse, die uns zu radikal erscheinen. Wir verwässern diejenigen, die zu übernatürlich daherkommen. Wir werfen die Schrift aufs Schneidebrett der menschlichen Logik und lassen eine kastrierte, wirkungslose Botschaft zurück. Wir begehen intellektuellen Götzendienst, wenn wir Gott nach unserem Bilde schaffen. Anstatt so zu leben, dass wir die übernatürliche Norm der Heiligen Schrift spiegeln, halten wir uns an eine gekürzte Fassung der Bibel, die uns furchtbar ähnlich sieht.
Der kühnste Satz der Bibel
Lässt man wie Thomas Jefferson die Wunder weg, bekommt man einen weisen, aber schwachen Jesus. Ich fürchte, das ist genau der Jesus, dem viele Leute folgen. Er ist freundlich und barmherzig, aber seine pure Allmacht zeigt sich nie. Man folgt seinen Lehren, aber seine Wunder bleiben aus. Und das wird dem, was er uns für ein Leben mit ihm zugesagt hat, nicht bloß nicht ganz gerecht – es verfehlt den Kern des Ganzen gründlich! Eine der kühnsten Aussagen der Bibel steht in Johannes 14,12:
Wer an mich glaubt, der wird die Werke auch tun, die ich tue, und er wird noch größere als diese tun. (LUT)
Noch größere? Dieser Satz würde sehr nach Gotteslästerung klingen, wenn er nicht Jesus selbst über die Lippen gekommen wäre. Das ist einer der Verse, die wir gerne kleinreden, daher möchte ich einmal deutlich klarstellen, was damit gemeint ist. Wenn wir Jesus nachfolgen, werden wir tun, was er tat. Wir werden uns als Allererstes wünschen, unserem himmlischen Vater eine Freude zu machen. Wir werden uns um die Armen kümmern und Füße waschen, und wir werden nebenbei bei ein paar Pharisäern anecken. Wir werden uns außerdem in der Welt der Wunder bewegen. Und zwar nicht nur als Augenzeugen, sondern als Auslöser. Bitte glauben Sie mir, wenn ich sage, dass Sie für jemand anderen ein Wunder sind!
Nur, damit kein Missverständnis aufkommt: Nur Gott kann Wunder vollbringen. Deswegen gebührt Gott die ganze Ehre. Aber wie wir auf den nächsten Seiten sehen werden, hat fast jedes Wunder einen menschlichen Anteil. Manchmal muss man wie die Priester Israels in den Jordan steigen, bevor Gott das Wasser teilt (vgl. Josua 3). Manchmal muss man auch siebenmal hineintauchen, so wie Naaman (vgl. 2. Könige 5,14). Gott allein konnte sein Lepraleiden durch ein Wunder heilen, aber Naaman hätte es verpasst, wenn er nicht wiederholten Gehorsam gezeigt hätte. Während also manche Wunder nur einen einzigen Glaubensschritt benötigen, fordern andere viele Versuche! Aber egal, ob nur bis zum Knöchel oder doch hüfthoch – man muss ins Wasser hinein. Manchmal muss man das Natürliche erledigen, bevor Gott das Übernatürliche tut.
Die irdische Spielwiese, auf der wir leben, hat natürliche Begrenzungen, die die äußerlichen Grenzen der menschlichen Möglichkeiten markieren. Die Lichtgeschwindigkeit ist der Zaun und die Naturgesetzte sind die Zaunpfähle. Manche sind allseits bekannt, wie das Gesetz der Schwerkraft. Andere sind nicht so leicht nachzuvollziehen, wie der Lehrsatz von Bell. Obwohl diese Zaunpfähle durch wissenschaftliche Untersuchungen immer wieder neu ausgerichtet werden, ziehen sie doch eine Trennlinie zwischen dem, was möglich ist, und dem was unmöglich ist. Die unsichtbare, unpassierbare Grenze, die das Natürliche vom Übernatürlichen trennt, kann kein Mensch überwinden oder untergraben oder irgendwie anders umgehen. Aber Gott hat einen Durchgang eingebaut. Er heißt Jesus.
Wenn Sie Jesus lang und weit genug folgen, werden Sie schließlich den Raum des Unmöglichen betreten. Sie werden Wasser in Wein verwandeln, den Hunger von 5000 Menschen mit zwei Fischen stillen und auf dem Wasser laufen. Ich schlage nicht vor, dass Sie vom nächsten Steg laufen und testen, wie viele Schritte es werden. Wahrscheinlich wird Gott seine Macht bei Ihnen ganz anders demonstrieren, als er es bei den ersten Jüngern getan hat. Aber wenn Sie glauben, was Jesus sagte, dann werden Sie tun, was er tat. Gemessen an Quantität und Qualität sollten die Wunder, die Sie erleben, sogar größer sein als die, die Jesus vollbracht hat. Und die Wunder, denen wir auf den nächsten Seiten begegnen werden, untermauern diese Aussage.
Stolpersteine
Bevor wir das Geheimnis der sieben Zeichen lüften, möchte ich auf zwei Dinge eingehen, die uns ins Stolpern bringen und uns daran hindern, ins Wunderland einzuziehen. Das Erste ist unsere unterschwellige Skepsis.
Wunder sind per Definition eine Verletzung der Naturgesetze. Und wie jeder gute Anwalt erheben wir instinktiv gegen so eine Gesetzesübertretung Einspruch. Weshalb? Weil Wunder einfach nicht logisch sind und wir eine natürliche Neigung haben, das wegzuerklären, was wir nicht erklären können.
Wahrscheinlich haben Sie auch schon mal einen dieser fragwürdigen Fernsehprediger gesehen. Sie versprechen etwas, das die Bibel so gar nicht hergibt. Oder Sie haben erlebt, dass jemand ein Wunder aus eigener Kraft produzieren wollte. Wenn man schon einmal getäuscht wurde, kann es sein, dass sich Zweifel so hartnäckig...