Dr. Bernhard Ehler – »Ich bin das wahre
Brot«
Jesus Christus als »Lebensmittel« – als Mittler zum Leben
I. Das Brot für jeden Tag
»Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.« So heißt es in Bert Brechts »Dreigroschenoper«. Das drückt die Überzeugung aus: Zuerst müssen die menschlichen Grundbedürfnisse befriedigt sein, bevor man sich höheren kulturellen Interessen widmen kann. Die physiologischen Bedürfnisse wie Atmung (saubere Luft), Wärme (Kleidung), Trinken (sauberes Trinkwasser), Essen (gesunde Nahrung) und Schlaf (Ruhe und Entspannung) bilden in der Bedürfnispyramide des US-amerikanischen Psychologen Abraham Maslow die Basis für alle anderen Bedürfnisse. Darauf bauen als nächste Stufen das Bedürfnis nach Sicherheit (Unterkunft; Gesundheit; Schutz vor Gefahren; Ordnung) und sozialen Beziehungen (Liebe, Fürsorge, Kommunikation …) auf.
Lebensmittel heißen so, weil sie die grundlegenden Mittel für unser Leben darstellen. Auffallend ist, in welchem Umfang Lebensmittel und ihr Genuss, das Essen, auch in der Bibel eine Rolle spielen. Weitere Artikel in diesem Buch beschäftigen sich damit und machen deutlich: Christlich-jüdischer Glaube lässt sich nicht aus- und eingrenzen in einen rein spirituellen, geistig-geistlichen Bereich. Er hat zu tun mit dem ganzen menschlichen Leben in all seinen Dimensionen: mit Leib, Seele und Geist.
Das wird deutlich, wenn Jesus seine Jünger das rechte Beten lehrt. Neben die Bitte um das Ernstnehmen Gottes und das Kommen seines Reiches stellt er das ganz konkrete Anliegen, dass uns das Brot, das wir heute brauchen, gegeben werde (Mt 6,11; Lk 11,3). Er lehrt nicht nur, darum zu bitten, sondern erfüllt auch diese Bitte. Gleich an sechs Stellen berichten uns die Evangelien, dass Jesus große Menschenmengen mit den nötigen Lebensmitteln versorgt habe: Mt 14,13-21; 15,32-39; Mk 6,31-44; 8,1-10; Lk 9,10-17; Joh 6,1-13. So wenig wir historisch rekonstruieren können, was damals geschah, so eindeutig ist die Erinnerung daran und das Zeugnis dafür, dass Menschen durch Jesus Lebensnotwendiges empfangen haben. Ich möchte Ihnen die johanneische Fassung tiefer erschließen, da sie durch die an die Wundergeschichte angeschlossene Rede Jesu zeigt, welches das wahre Lebensmittel, das Mittel zum wahren, ewigen Leben ist.
Wie die synoptischen Evangelien lokalisiert Johannes das Geschehen am See Genezareth, den er nach dem Gebiet, in dem er liegt, »See von Galiläa« oder nach der größten Stadt an seinen Ufern »See von Tiberias« nennt. Eine große Menschenmenge hatte sich um Jesus geschart, um ihn zu hören und von Krankheiten geheilt zu werden. Die Menschen interessierten sich wohl deshalb so sehr für Jesus, weil sie spürten, wie sehr er an ihnen interessiert war. Dabei geht es ihm nicht nur um spirituelle oder jenseitige Wirklichkeiten. Er nimmt die Menschen in ihrer leiblichen Not wahr, in ihren Krankheiten und auch mit ihrem Hunger. Er macht seine Schüler aufmerksam auf das Problem, dass die vielen, die ihm aus Faszination gefolgt waren, nichts zu essen haben. Er provoziert Philippus zuzugeben, dass das Problem unlösbar ist: Selbst Brot für zweihundert Denare würde nicht ausreichen, um die vielen Menschen zu sättigen – wenn man denn das Geld hätte und eine Möglichkeit zum Einkauf bestünde! Und der Hinweis auf einen kleinen Jungen, der fünf Brote und zwei Fische hat, zeigt nur umso mehr die Diskrepanz auf: »doch was ist das für so viele!« (Joh 6,9) Und hier setzt nun das Wunder an. Die Jünger haben nicht darüber diskutiert, ob es nicht besser wäre, die fünf Brote und die zwei Fische selbst zu essen, damit wenigstens sie satt werden, wenn es schon für die vielen nicht reicht. Sie vertrauen das Wenige Jesus an. Er tut jetzt nichts Spektakuläres. Er spricht das Dankgebet und lässt austeilen. Und erstaunlicherweise reicht es für alle, ja – so betonen alle Brotvermehrungsgeschichten – es bleibt noch mehr als genug übrig: zwölf (die Zahl der Fülle) Körbe voll!
In der Begegnung mit Jesus haben Menschen erfahren und bezeugen es noch nach Jahrzehnten: Wo wir das Wenige, das wir besitzen, Jesus anvertrauen und miteinander teilen, da reicht es für alle! Das ist keine alte oder veraltete Geschichte! Das ist Realität in unserer Welt, in welcher sich viele Sorgen machen, wie eine ständig wachsende Menschheit künftig zu ernähren sein wird. Auf der Website des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (www.bmz.de) können Sie lesen: »Das Ziel der Agenda 2030, den Hunger zu beenden, und die G7-Beschlüsse von Elmau, 500 Millionen Menschen bis zum Jahr 2030 aus Hunger und Mangelernährung zu befreien, lassen sich erreichen. … eine Welt ohne Hunger ist möglich! Jede und jeder von uns kann helfen, eine solche Welt aufzubauen – als Einzelne/r, als Konsument oder durch Engagement in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Kirchen und Zivilgesellschaft.« An jeder und jedem von uns liegt es also, daran mitzuwirken, dass alle Menschen auf dieser Erde die nötigen Lebensmittel für jeden Tag bekommen. Die Einladung Jesu und sein Geist können uns helfen, nicht ängstlich festzuhalten, was wir meinen für uns selbst zu brauchen, sondern unsere materiellen und geistigen Mittel einzusetzen für eine menschenwürdige Welt.
II. Lebensmittel als Zeichen
Durch Jesus haben seine Zeitgenossen erfahren, dass es möglich ist, eine große Menschenmenge zu sättigen, auch wenn am Anfang der Mangel und erst am Ende die Menge steht. Voll Begeisterung wollen sie ihn zu ihrem König machen. Das wäre doch praktisch, wenn sie einen Herrscher hätten, der ihnen gibt, was sie brauchen! Im Unterschied aber zu den Mächtigen, die durch Brot und Spiele die Massen befriedigen und sich dadurch gefügig machen, nutzt Jesus die Situation nicht für sich aus, sondern zieht sich zurück. Als die Leute ihn am nächsten Tag am anderen Ufer des Sees finden, trifft er eine merkwürdige Unterscheidung: »Ihr sucht mich nicht, weil ihr Zeichen gesehen habt, sondern weil ihr von den Broten gegessen habt und satt geworden seid.« (Joh 6,26) So wichtig Lebensmittel sind, um das physische Überleben zu sichern: um wirklich menschlich leben zu können, braucht der Mensch mehr als die Zufuhr von Kalorien. Es genügt dem Menschen nicht, Brot zu essen und satt zu werden – so wichtig das für den Hungernden auch ist. Jesus lädt ein: »Müht euch nicht ab für die Speise, die verdirbt, sondern für die Speise, die für das ewige Leben bleibt und die der Menschensohn euch geben wird.« (Joh 6,27) Speisen sind verderblich, und auch nach dem üppigsten Mahl wird man irgendwann wieder hungrig. Die gesündesten Lebensmittel ermöglichen kein unbegrenztes Leben. Selbst die köstlichsten Speisen vermögen nicht jene Fülle des Glücks zu bringen, nach dem jeder Mensch sich sehnt. Weil aber Lebensmittel entscheidende Mittel zum Leben sind, werden sie zu Zeichen jener Dimensionen menschlichen Lebens, die über die leibliche Existenz hinausgehen. Im Johannesevangelium bekommen sie eine Mehrdimensionalität, werden sie zu Zeichen.
Da kommt Jesus in der Mittagshitze zum Jakobsbrunnen und bittet eine Frau, die aus ihrem Dorf zum Wasserholen an den Brunnen gekommen ist, um Wasser (Joh 4,6 f.). Dann ergibt sich ein Gespräch, in dessen Verlauf der dürstende Jesus dieser Frau seinerseits »lebendiges Wasser« anbietet – ein Wasser, nach dessen Genuss man nicht wieder durstig wird, das nicht nur für den Moment Lebensfunktionen aufrechterhält, sondern ewiges Leben schenkt (Joh 4,10.13 f.). Nicht das Wasser aus einer Quelle oder einer Zisterne vermag solches Leben zu schenken. Dieses »lebendige« Wasser ist Jesus selbst.
Da ist bei einer Hochzeit der Wein ausgegangen. Trotz der Bitte seiner Mutter zaubert Jesus keinen Wein herbei, sondern trägt den Dienern der Hochzeitsgesellschaft auf: »Füllt die Krüge mit Wasser!« (Joh 2,7) Wie bei der Brotvermehrung geschieht das Wunder nicht dadurch, dass Jesus als Wundertäter Spektakuläres tut, sondern indem die Diener nach Jesu Wort handeln, so unsinnig es für sie auch geklungen haben mag. Indem sie es tun und hunderte von Litern Wasser herbeischleppen, geschieht das Wunder, und aus Wasser wird Wein. Aber nicht dieser Wein, den die Hochzeitsgäste nun in feucht-fröhlicher Feier trinken können, ist das Lebensmittel, um das es in dieser Geschichte geht. Die »johanneische Weinregel«, wonach jeder zuerst den guten Wein vorsetzt, und erst, wenn die Gäste zu viel getrunken haben, den weniger guten (Joh 2,10), gab es in der Antike nicht. Wenn Jesus es umgekehrt macht, ist das ein Hinweis darauf, dass mit dem köstlichen Wein, den er in außerordentlicher Fülle gibt, seine vollendete Offenbarung Gottes gemeint ist. Deshalb steht am Ende der Geschichte kein außergewöhnliches Trinkgelage, sondern die Feststellung: »Er offenbarte seine Herrlichkeit, und seine Jünger glaubten an ihn.« Auch hier ist der Geber selbst die entscheidende Gabe. Nicht Wein aus Trauben...