Der »Countdown« beginnt immer früher
»Was tun Sie«, wurde Herr K. gefragt,
wenn Sie einen Menschen lieben?«
»Ich mache einen Entwurf von ihm«, sagte Herr K.,
»und sorge dafür, dass er ihm ähnlich wird.«
»Wer, der Entwurf?«
»Nein«, sagte Herr K., »der Mensch!«
(Bertolt Brecht)
Vor einigen Jahrzehnten war es mit der Einschulung eines Kindes noch recht einfach. Es gab einen jährlich festgelegten Stichtag, an dem die Kinder, die nun schulpflichtig waren, zur Einschulung angemeldet wurden. Es folgte eine Untersuchung durch einen beauftragten (Schul-)Arzt und gleichzeitig wurde eine Überprüfung der »Schulreife« vorgenommen, meist durch den Rektor der Grundschule, in manchen Fällen auch durch bestimmte Lehrkräfte der entsprechenden Grundschule oder – seltener – durch den (Schul-)Arzt selbst. Die Kinder wurden zum anberaumten Termin gebracht, die Eltern warteten vor der Tür des Untersuchungszimmers und im Anschluss an den »Test« wurde den Eltern das Ergebnis mitgeteilt, ob das Kind nun eingeschult werden sollte/konnte oder ob eine Rückstellung angezeigt war.
Vor allem aber galt bis dahin eine unausgesprochene Regel: Die Kindergarten- oder häusliche Zeit war der Zeitraum zum Spielen und Kind-Sein. Mit dem Beginn der Einschulung begann der »Ernst des Lebens«. Diesem neuen Lebensabschnitt folgte ein weiterer (der Übertritt zur Realschule oder zum Gymnasium beziehungsweise der Besuch der Hauptschule), die Konfirmation bei den »Evangelen« läutete wiederum einen neuen Lebensabschnitt ein, es folgte der Schulabschluss, die Berufsausbildung beziehungsweise das Studium und der Beruf selbst.
War für viele Eltern die Zeit des Kindergartens vor allem eine Zeit, in der sie ihre Kinder gut aufgehoben wissen wollten, in der sie »spielen und basteln« konnten, in der kleinere und größere Ausflüge unternommen wurden, in der die Kinder Lieder lernten und kleinere Aufführungen probten, so waren die Eltern davon überzeugt, dass »die Schule noch früh genug kommt« und die Kinder ihre Kindheit möglichst unbelastet und fröhlich verbringen sollten. Kindergarten und Schule waren damit zwei völlig unterschiedliche Institutionen, die wenig miteinander zu tun hatten, und jede Einrichtung hatte ihren eigenen Schwerpunkt.
Doch mit der Zeit hat sich das gravierend verändert. So fragen inzwischen viele Eltern die Erzieher/-innen nicht nur während der Kindergartenzeit, sondern schon vor der Aufnahme, ob denn neben dem Spiel auch »was Vernünftiges« gemacht werde, ob vielleicht »das Programm zum frühen Lesenlernen« oder das »Projekt Englischlernen mit vier Jahren« ein Schwerpunkt der Kindergartenarbeit sei, ob gezielte Angebote »zum Umgang mit dem Computer« zum Schwerpunktprogramm gehören oder ob beispielsweise »Konzentrationsübungen« einmal pro Woche angeboten würden. Schließlich sei immer wieder zu lesen, dass die Lernmöglichkeiten der Kinder im Kindergartenalter besonders groß seien.
Ganz besonders im letzten Kindergartenjahr ist das Interesse der Eltern hoch zu erfahren,
- wie die Kinder auf die Grundschulzeit vorbereitet werden,
- ob gezielte Übungen mit den Kindern gemacht werden, damit sie einen guten Schulstart haben,
- welche speziellen Arbeitsblätter als Schulvorbereitung berücksichtigt werden und ob diese gegebenenfalls als Kopien an die Eltern ausgehändigt werden können, um die Arbeit zu Hause fortzusetzen,
- ob das Freispiel nun eingeschränkt wird und stattdessen »geeignete Lernspiele« in den Vordergrund rücken,
- inwieweit schon Testverfahren zur Feststellung der Schulreife im Vorfeld des Kindergartens angewandt werden,
- wie oft ein Kontakt mit der Grundschule gesucht und hergestellt wird, damit die Kinder schon einmal einen Eindruck von der zukünftigen Institution Schule gewinnen können,
- ob auch schon das Stillsitzen geübt wird und beispielsweise Schulspiele üblich sind,
- inwieweit der Kindergarten sich der Aufgabe bewusst ist, bestimmte Schulfertigkeiten zu üben, beispielsweise das Zählen bis 20 oder das Schreiben des Vornamens,
- wie der Kindergarten der allgemein bekannten Bildungsmisere entgegenwirkt und
- welche Handlungsstrategien die Erzieher/-innen umsetzen, um auffällige Defizite der Kinder abzubauen.
Daneben fragen besorgte Eltern nach, ob
- ihr Kind wohl schulreif ist,
- das Kind – belegt durch bestimmte Verhaltensweisen – vielleicht unterfordert ist,
- das Kind vielleicht schon mit fünf Jahren eingeschult werden sollte,
- man als Eltern vielleicht mit der Einschulung noch ein Jahr warten sollte, weil es noch so verspielt ist, oder
- das Kind neben dem Besuch des Kindergartens vielleicht den einen oder anderen Kurs zur Intelligenzförderung besuchen sollte, zumal die Volkshochschule oder Familienbildungsstätte solche Trainingskurse anbietet.
Aber auch außerhalb des Kindergartens kommen Kinder mit der anstehenden Schulzeit in Berührung. Geschwister schauen häufig etwas mitleidig auf ihre kleinen Geschwister herab und fragen, »ob sie denn noch lange diesen Kinderkram im Kindergarten machen wollen«. Verwandte nehmen die Sechsjährigen zur Seite und meinen, dass »sie bald groß sind und in die Schule kommen«. Selbst Eltern sind davon überzeugt, dass sich ihre Kinder in der Regel sehr auf die Schule freuen, und fragen interessiert, »ob sie es denn noch aushalten können, bis zur Einschulung zu warten, um dann endlich Lesen, Schreiben und Rechnen zu lernen«. Alles scheint sich in diesem Lebensjahr um die Schule zu drehen und viele sind gespannt, wie der Übergang vom Kindergarten zur Grundschule gelingen wird.
Versucht man an dieser Stelle einmal, die Fragen, Erwartungen und Aussagen inhaltlich differenziert zu betrachten, so ergeben sich folgende (un)ausgesprochenen Annahmen und Meinungen:
- Der Kindergarten schafft es mit seiner üblichen Arbeit bei weitem nicht, die Schulfähigkeit eines Kindes aufzubauen.
- Das Spiel(en) der Kinder ist zwar eine »schöne Zeit« für die Kinder selbst, geht aber an der notwendigen Realität einer ernst zu nehmenden Bildungseinrichtung vorbei.
- Schulfähigkeit hat immer etwas mit einer gezielten Lernförderung zu tun.
- Ein erfolgreicher Schulstart in der Grundschule ist abhängig von der Art und Häufigkeit einer funktionsorientierten Vorbereitung.
- Schulfähigkeit ist hauptsächlich von einem bestimmten Wissenspotenzial des Kindes abhängig.
- Wenn der Kindergarten keine gezielten schulvorbereitenden Aufgaben mit den Kindern übernimmt, dann ist es notwendig, die Hilfe anderer Bildungseinrichtungen mit entsprechenden Kursen in Anspruch zu nehmen.
- Ein häufiger Kontakt zwischen Kindergarten und Grundschule ist eine gute Möglichkeit, Kindergartenkinder mit der zukünftigen Bildungseinrichtung vertraut zu machen.
- Das ruhige Sitzen auf einem Stuhl – wie es in der Grundschule überwiegend erwartet wird – kann im Kindergarten (und vielleicht auch zu Hause) »geübt« werden.
- Kinder, die schon kleinere Rechenaufgaben beherrschen oder ihren Namen schreiben können, haben es in der ersten Schulklasse leichter als diejenigen Kinder, die diese Fertigkeiten noch nicht besitzen.
- In dem Maße, in dem der Kindergarten bestimmte Bildungsaufgaben nicht übernimmt, ist er mit schuld, dass es zu der heutigen Bildungsmisere gekommen ist.
- Sollte der Kindergarten bestimmte Lern-Förderprogramme (wie frühes Englischlernen etc.) nicht in die Arbeit mit aufnehmen, wird ein Lernpotenzial der Kinder in diesem Alter für immer ungenutzt gelassen.
- Schule ist etwas »Schönes«, das der Mensch gar nicht früh genug in Anspruch nehmen kann.
Diese – und sicherlich noch andere – Annahmen und Meinungen ziehen sich wie ein roter Faden durch viele Erwachsenen- äußerungen. Auch wenn sie so nicht direkt formuliert sind: Sie finden sich in den entzifferten Inhalten der Aussagen wieder.
Es tragen sehr unterschiedliche Gründe dazu bei, dass solche Meinungen vom Kindergarten und von der Schulfähigkeit breiten Raum in der allgemeinen Vorstellung einnehmen, was Kinder können soll(t)en oder müssen, um einen erfolgreichen Schulstart zu erleben. So wird seit Jahrzehnten beispielsweise von der Kindergartenarbeit als »Vorschulpädagogik« gesprochen. Dies intendiert automatisch eine Form der Pädagogik, die vor der Schule stattfindet. Da wundert es nicht, wenn der Kindergarten als Bildungseinrichtung mit der Institution Schule ständig in Verbindung gebracht wird als »Zulieferer« für die eigentlich wesentlichere, wichtigere Einrichtung.
Es mutet schon eigenartig an, wenn man sich einmal klar macht, dass diese Begrifflichkeit, definiert quasi aus der Zukunft (Vor-Schul-Pädagogik, Vor-Schul-Kind, Vor-Schul-Zeit), in sonst keinem Wortgebrauch üblich ist: So spricht man von einem alten oder sehr kranken Menschen auch nicht von einem Vor-Toten, ein Viertklässler ist auch kein Vor-Gymnasiast und ein Abiturient auch kein Vor-Student. Ein Patient, der einen Arzt aufsucht, ist ebenso wenig ein Vor-Krankenhäusler und ein Mieter, der sich mit dem Gedanken beschäftigt, vielleicht einmal ein Haus zu kaufen, ist auch kein Vor-Hausbesitzer.
Diese Sprachspiele mögen zwar lustig erscheinen, drücken aber eine Tatsache aus, die sicherlich zum Nachdenken anregt beziehungsweise anregen sollte. Doch auch der Kindergarten selbst trägt – wenn auch sicherlich unbeabsichtigt – dazu bei, dass die Zukunft der Kinder zur Gegenwart...