Am Anfang ist der Zweifel.
Vor jedem Satz, jedem Wort gibt es diese Schwelle: Ist das richtig? Woher weißt du, dass es zutrifft? Ist es gerecht? Ist es nicht nur wahr, sondern auch wahrhaftig?
Und das sind nur die Zweifel an dem, was gesagt werden könnte.
Ich schreibe, als ob ich murmeln würde: leise, mehr vor mich hin als schon an andere gerichtet. Es ist eher ein Nachdenken mit Tastatur. Schreibend denkt es sich genauer. Das ist intim. Wie Flüstern. Oder eben wie Murmeln. Vielleicht schreibe ich deswegen immer barfuß. Als ob sich mit Füßen in Schuhen nur in Konventionen denken ließe.
Sobald ich mir ein Publikum vorstelle, verflüchtigt sich alles, dann entzieht sich mir umgehend das Wort. Dann schieben sich Einwände vor die eigenen Gedanken und verdecken sie. Von den Anfeindungen voller Furor und Verachtung einmal ganz abgesehen. Die machen mir Angst, kriechen unter die Haut, wie Gift, ich kann spüren wie es sich ausbreitet, im Körper, überall, wie es lähmt, die Sprache, den Willen, das Ich.
Am Anfang ist immer der Zweifel.
Manchmal wünschte ich, ich könnte ihn abstellen. Aber damit wäre das schreibende Ich nicht mehr Ich. Schreibend findet und erfindet es sich.
*
In meiner Kindheit wurde das vermeintlich Unaussprechliche, wenn es denn ausgesprochen werden musste, angedeutet durch ein Wort im Dialekt. »Mitschnacker«, das war Platt, und auch Kinder, die kein Platt konnten, ahnten das unbestimmt Böse, das sich damit verband. »Lass dich nicht mitschnacken«, das bekamen wir gesagt auf dem Weg in die Welt, zur Schule oder zum Sportplatz.[1] Es sprach die Gefahr an, aber versetzt. Als ob der Dialekt das, vor dem da gewarnt werden musste, abfedern könnte. Wir sollten uns nicht ansprechen lassen von einem, der uns mit-schnackt, also anspricht und mitnimmt. Aber was dann geschehen würde, wenn uns ein Fremder mitgenommen hätte, das wurde verschwiegen.
Wir haben das so hingenommen, nehmen es bis heute so hin.
Das, was geschehen kann, das, was immer wieder geschehen ist, das, was Generationen von (nicht nur, aber vor allem …) Mädchen und Frauen vor uns geschehen ist, das, was immer noch geschieht, überall auf der Welt, auf dem Weg zur Schule, auf dem Weg zum Wasserholen, auf dem Weg zur Weide, auf dem Weg nach Hause, das, was mit uns dann getan werden kann, das wird nicht benannt. Schon unsere Mütter und Großmütter wurden so informiert – ohne informiert zu werden. Dass wir manipuliert, belogen, aufgegriffen, angegriffen, entführt, im Auto, im Gebüsch, im Wald, in einer Hütte, in einem Keller missbraucht, vergewaltigt, gewürgt, verletzt und getötet werden könnten, das sprach niemand aus. Dass die Gefahr nicht allein durch Fremde, draußen, sondern auch und vor allem in der Nähe, im eigenen Haus, durch die eigene Familie drohen würde, das sprach erst recht niemand aus.
»Lass dich nicht mitschnacken.«
Das ist Maskerade. Es klingt lustig. Als handelte es sich um jemanden, der bloß zu viel plappert. Dabei geht es ja nicht um die Ansprache, sondern um die Gewalt, die nach der Ansprache droht.
Es sind diese rhetorischen Verhüllungen, die ermöglichen, was sie zu verhindern behaupten. Es ist erstaunlich: Da soll vor etwas gewarnt werden, aber was das sein soll, wird nicht benannt. Es wird nicht beschönigt, denn sonst brauchte davor ja nicht gewarnt zu werden. Es wird das, was jemand einem antun kann, beschwiegen. Als sei es unanständig, es auszusprechen – anstatt die Tat zu unterdrücken, wird das Reden darüber unterdrückt.
So wird nicht die verbrecherische Handlung tabuisiert, sondern das Sprechen. Von Anfang an. So unterwandert die Erwartung nicht der, der Gewalt ausübt, sondern jene, die davon erzählen wollen. Die sprachliche Verdrängung verschiebt die Last der Rechtfertigung. Es kommt sich falsch oder schmutzig vor, wer über etwas sprechen will, über das nicht gesprochen wird. Darin liegt das Komplizenhafte.
Um etwas kritisieren zu können, muss man es sich vorstellen können und wollen. Um sich etwas vorstellen zu können, muss man es benennen können. Wenn Gewalt abstrakt bleibt, wenn es für sie keine konkreten Begriffe und Beschreibungen gibt, bleibt sie
unvorstellbar,
unwahrscheinlich,
unantastbar.
*
Der Bademantel.
Ich kann mich einfach nicht einkriegen über den Bademantel.
Überall taucht in den #metoo-Geschichten dieser Bademantel auf …
Nicht im Urlaub am Strand. Nicht zu Hause im Schlafzimmer. Sondern im Büro. Bei einer Besprechung. Im Hotel. Bei einer Besprechung. In einem als professionell simulierten Kontext.
Was ist das nur für eine Obsession mit dem Bademantel?
Ich versteh’s nicht. Ich versteh’s wirklich nicht. Verstehe die Szene einfach nicht. Was darin geschieht. Was das soll. Erklärt einem ja auch keiner. Nicht in der Situation und hinterher erst recht nicht. Alles muss man allein durchdenken.
Junge oder ältere Frauen, Kolleginnen, Mitarbeiterinnen, Hotelangestellte, Praktikantinnen, Frauen, mit denen diese Männer schon länger zusammen arbeiten oder die sie nicht kennen, Frauen, die einen Mann im Anzug, in Jeans, in was auch immer, aber jedenfalls bekleidet zu sehen erwarten, Frauen werden bestellt und dann:
Tarrraaaaah,
Auftritt im Bademantel.
Ich stelle mir das dauernd vor. Ich kann immer nur weiße Frottee-Bademäntel denken. Keine Ahnung, warum. Dabei tragen solche Typen vermutlich Seide. Wasweißich. Ich entwickle schon ein ganz gestörtes Verhältnis zu meinem eigenen Bademantel, seit ich diese Geschichten höre.
Die Begrüßung im Bademantel – was ist das? Ist das der Prolog zur Unterwerfung, die erwartet wird? Ist das eine Aufforderung zum Sex? Ist das Stolz? Schau mal her, was für einen fabelhaften Schwanz ich habe? Glauben die das ernsthaft? Eine Frau kommt in eine Besprechung, und da kommt ihr unaufgefordert und zusammenhangslos ein Schwanz entgegen? Könnte der Einstieg zu einem Witz sein. Wie die Witze über Irre früher. »Kommt ein Irrer und zieht eine Zahnbürste an einer Schnur hinter sich her.« Nur beginnen die hier eben anders:
»Kommt ein Schwanz mit Bademantel ins Büro …«
Das soll Lust bereiten? Wem? Was für eine Sorte Lust bereitet das dem Schwanzträger? Lust an der Demütigung?
Nicht der entblößte Körper wird gezeigt, sondern die Fähigkeit zu kontrollieren, die Möglichkeit, alles, was sich gehört (in einem Arbeitskontext), außer Kraft zu setzen, die Möglichkeit, zu dominieren, zu demütigen, nach Belieben, wann immer es einem passt. Umso besser also, wenn es nicht zur Situation passt, umso besser, wenn es verstößt gegen alle Formen, gegen das, was normalerweise ins Büro passt oder in eine Besprechung, was normalerweise zum Begehren gehört: wechselseitige Lust und Zartheit, Leidenschaft und Hingabe an eine andere.
Der Bademantel ist immer deplatziert.
Es gibt bislang keine einzige Erzählung, die den Bademantel so auftauchen lässt, dass es harmlos oder angemessen oder verführerisch wäre. Keine Erzählung, in der sich ein Paar nach einer durchliebten Nacht etwas überziehen will, keine Erzählung, in der ein Mann eine Frau, in der eine Frau eine andere, ein Mann einen anderen, eine Frau einen Mann erregen will dadurch, dass eine Person sich anschauen lässt, sich preisgeben, sich ausliefern möchte dem Blick einer anderen, erst im Bademantel, dann ohne. Keine Erzählung, in der der Bademantel etwas verhüllt, das erst langsam entblößt wird, die eigene Nacktheit, die verletzbare Körperlichkeit.
Der Bademantel ist immer deplatziert.
Fällt aus dem Kontext. Aus der Situation. Ist weder erotisch noch praktisch noch schön.
Trotzdem heißt es jetzt häufig: »Ja, was hat sie denn auch erwartet? Geht zu einer Besprechung ins Hotelzimmer – wie ahnungslos ist das denn?«
Ein Mann bittet in einem Arbeitskontext eine untergebene oder abhängige Frau zu sich. Das mag in einem Büro sein oder in einem anderen Raum. Bei Branchen, die mobil arbeiten, in verschiedenen Städten Menschen zu Arbeitsgesprächen treffen müssen, kann das sehr oft ein Hotelzimmer sein, das gebucht wird für Termine und Gespräche. Dahin bittet ein Mann eine Frau, die sich weniger geschützt weiß, weil sie weniger verdient, weniger bekannt, weniger vernetzt, weniger sichtbar, weniger hörbar ist, weil sie eine Frau ist, unsicher womöglich, weil sie noch nie allein mit einem verehrten oder auch nur berühmten Professor, einem Priester, einem Produzenten war, weil sie als Putzfrau für die Sauberkeit des Hotelzimmers oder der Büroräume zuständig ist, weil sie als Krankenpflegerin zuständig für den Patienten ist, weil sie als Polizistin oder Soldatin einem Vorgesetzten untergeordnet ist, weil sie ein Kopftuch trägt,
weil, weil, weil, …
weil sie nicht weiß, was sie erwartet.
Wie soll das auch jemand erwarten?
Ist ahnungslos, wer erwartet, nicht gedemütigt zu werden?
Ist selbst schuld, wer erwartet, nicht belästigt, angegriffen, verletzt, gewürgt zu werden? Ist naiv, wer nicht damit rechnet, mit dem Kopf gegen die Wand geschlagen zu werden, wer nicht damit...