Prolog
»FURCHTBARER MORD IN WHITECHAPEL. FRAU ERSTOCHEN. KEINE SPUR VOM TÄTER.« titelte der East London Advertiser am 11. August 1888.
Martha Tabram, eine rundliche 40-jährige Frau, war wenige Tage zuvor im Treppenhaus eines Gebäudes im George Yard in einer großen Blutlache liegend tot aufgefunden worden. Sie war übersät mit Messereinstichen. Damit begann eine Mordserie, die in London, das als Millionenmetropole eigentlich an Mord und Totschlag gewohnt sein sollte, ihresgleichen suchte. Im ausklingenden Sommer und Herbst 1888 mussten noch weitere Frauen aus dem Armenviertel Whitechapel ihr Leben lassen, getötet offenbar von ein und derselben Hand. 1888/89 rechnete man diesem einen Täter sechs bis elf Morde zu. Nach heutigem Forschungsstand wird diese Zahl aber üblicherweise auf fünf begrenzt, die so genannten »Kanonischen Fünf«. Ein Name ist bis heute untrennbar mit der blutigen Spur, die sich durch das Londoner East End zog, verbunden: »Jack the Ripper« – ein Pseudonym, das der Täter sich in einem Brief an die Nachrichtenagentur »Central News Agency« vermeintlich selbst gegeben hatte.
Alle Opfer des Rippers waren Frauen und mit einer Ausnahme zwischen 40 und 50 Jahre alt, alle waren sehr arm, alle hatten Alkoholprobleme, alle außer einer hatten keinen ständigen Wohnsitz und alle gingen – zumindest gelegentlich – der Prostitution nach. Sie lebten und starben im Armenviertel von London, dem östlich gelegenen Whitechapel, das mit einem Geflecht von düsteren, engen, oftmals unbeleuchteten und mit Unrat übersäten Straßen durchzogen war. Whitechapel war ein Schmelztiegel gescheiterter Existenzen. Die Lebensgeschichten der Opfer zeigen, dass sie alle schon bessere Zeiten erlebt hatten. Keine der Frauen stammte ursprünglich direkt aus Whitechapel, aber sie alle waren nach einer Spirale aus Arbeitslosigkeit, Alkoholsucht und gescheiterten Beziehungen im Londoner East End gestrandet.
Im Jahre 1888 setzte ein Unbekannter ihrem traurigen Dasein ein ebenso jähes wie brutales Ende. Tief in der Nacht lauerte er ihnen in den Straßen des East End auf: Vielleicht gab er sich als potenzieller Freier aus, zumindest wird es ihm gelungen sein, das Vertrauen der Opfer zu gewinnen, denn sie gingen mit ihm stets an weniger belebte Orte. Dort muss er sich in wilder Raserei auf sie gestürzt haben. Er würgte sie und durchtrennte ihnen die Kehlen, einige der Opfer wurden auf das Schlimmste verstümmelt, sogar Organe schnitt der Täter aus den Leichen heraus und nahm diese wohl als Trophäen mit. Das alles geschah direkt unter den Augen der Einwohner Whitechapels und so wunderte sich schon die Kölnische Zeitung: »[Die Menschen] können es nicht verstehen, wie ein solcher Mord möglich ist in einer Nachbarschaft, die zu den dichtest bevölkerten gehört, wo die Arbeit schon vor Tagesanbruch beginnt, wo ein beständiger Zu- und Abzug von Menschen stattfindet und wo der von oben bis unten mit Blut bespritzte Mörder nur durch ein Wunder wachsamen Augen entgehen kann.«1
Der Täter tauchte auf wie ein Phantom, um ebenso schnell wieder zu verschwinden. Einen vorläufigen Höhepunkt erreichte die Mordserie mit einem Doppelmord in der Nacht vom 29. auf den 30. September 1888, als »Jack the Ripper« innerhalb einer Dreiviertelstunde zweimal zuschlug.
Die Polizei erwies sich in diesen Tagen als hilflos und überfordert. Trotz intensiver Bemühungen gelang es ihr nicht, dem Täter auf die Schliche zu kommen. Dem nicht genug, trafen in Londoner Polizeistationen und Nachrichtenagenturen Hunderte von Briefen ein, die vorgaben, von »Jack the Ripper« zu sein. In ihnen wurden nicht nur die Opfer verhöhnt, sondern auch die fruchtlose Arbeit der Polizei. Viele der Briefe waren sicherlich makabere Scherze von Trittbrettfahrern, aber es gibt doch einige, bei denen nicht auszuschließen war, dass sie tatsächlich vom Mörder stammten.
Der finale Schlusspunkt der Mordserie wurde am 9. November 1888 gesetzt, als der Ripper Mary Jane Kelly wie ein wildes Tier in ihrer eigenen Wohnung zerfleischte. Die Leiche war so entstellt, dass ihr ehemaliger Lebensgefährte sie nur noch anhand ihrer Augen und Ohren identifizieren konnte. Danach nahm das Morden in Whitechapel ein plötzliches Ende. Warum die Mordserie so abrupt abbrach, ist bis heute ebenso ungewiss wie die Identität des Täters.
Warum ziehen die Morde von »Jack the Ripper« noch immer so viele Menschen in ihren Bann? »Jack the Ripper« war keinesfalls der erste Serienkiller der Geschichte, aber er war zum Ausklang des 19. Jahrhunderts – einer Zeit, in der die Zeitung als Massenmedium ihren endgültigen Durchbruch gefunden hatte – der erste Serienmörder, der weltweiten »Ruhm« erlangte. Seine Untaten sind selbst heute noch, obwohl sich unsere Augen oftmals fast zwangsläufig durch das Fernsehen an blutige Bilder gewöhnt haben, von entmenschter Grausamkeit. Sie haben sich in das kollektive Gedächtnis Londons, Großbritanniens, ja der ganzen Welt gebrannt: Nahezu jedermann auf dem Globus kennt »Jack the Ripper«, ein Name, der gleichsam kommerziell ausgeschlachtet wie romantisiert wird. Er hat unsere Vorstellungen vom viktorianischen London mit seinen nebelschwangeren Straßen, den über das Kopfsteinpflaster klappernden Kutschen und den in Zylinder und knielangem Mantel gekleideten Gentleman – neben Arthur Conan Doyle’s Romanhelden Sherlock Holmes – wie vielleicht kein Anderer geprägt. Zwei Aspekte fesseln die Menschen seit jeher am Ripper: Seine blutigen Taten, die die Menschen in entsetzter Fassungslosigkeit zurücklassen, und das Mysterium, das ihn umgibt, da seine Identität bis heute unbekannt geblieben ist.
Die offiziellen Untersuchungen der Londoner Polizei endeten 1892, der Fall wurde zu den Akten gelegt. Das war aber keinesfalls das Ende der Bemühungen, die Identität des Mörders zu enthüllen. Seit nunmehr über 120 Jahren haben sich Hobby- wie Profifahnder – so genannte »Ripperologen« – daran gemacht, dem Rätsel des »Whitechapel«-Mörders auf die Spur zu kommen. Dabei sind im Laufe der Zeit die abenteuerlichsten Theorien aufgeworfen worden, die zwar viel zur weiteren Legendenbildung beigetragen haben, bei den sachlichen Bemühungen zur Identifizierung des Täters aber mehr Verwirrung stifteten, als dass sie an der Aufklärung hätten mithelfen können. Die Liste der Verdächtigen ist so mit den Jahren um ein Vielfaches angewachsen und offeriert teilweise ebenso obskure wie unhaltbare Theorien etwa zu Personen wie den »Elefantenmenschen« Joseph Merrick, den zeitgenössischen Darsteller des Theaterstückes »Dr. Jekyll und Mr. Hyde« Richard Mansfield, den Autor von »Alice im Wunderland« Lewis Carroll oder zu einem weiblichen Täter »Jill the Ripper«.
Ist es denn überhaupt möglich, nach einem Zeitraum von mehr als 120 Jahren, etwas Neues über »Jack the Ripper« herauszufinden?
In der Tat besteht diese Möglichkeit, und gerade in den letzten 25 Jahren haben wir die meisten Informationen über die »Whitechapel«-Morde erhalten. In nahezu steter Regelmäßigkeit tauchen Dokumente auf, die mehr Licht in den Fall bringen. Einer der bekanntesten Funde war der Autopsiebericht des letzten Ripper-Opfers Mary Kelly im Jahre 1987. Das Auffinden solcher Aktenstücke beweist, dass auch nach einem guten Jahrhundert der Fall weiterhin lebendig bleibt und das Interesse an den Ripper-Morden vielleicht heutzutage größer ist, als es jemals seit dem Jahre 1888 war.
Leider ist die Historiographie um »Jack the Ripper« auch eine Geschichte von Fälschungen, Halbwahrheiten und Lügengeschichten.2 Das Anliegen dieses Buches ist es, einen wertfreien und nüchternen Rückblick auf die damaligen Ereignisse zu geben, ohne dass versucht wird, krampfhaft eine Theorie zu einem speziellen Verdächtigen zu untermauern, wie es fast ausnahmslos in der heutigen Literatur zu »Jack the Ripper« zu finden ist. Nach all den Büchern über »Jack the Ripper« mit solch verheißungsvollen Untertiteln wie »des Rätsels Lösung«, »die blutige Wahrheit«, »the simple truth«, »case closed«, »the final solution« oder »the mystery solved« muss doch ernüchternd festgestellt werden, dass kein einziges dieser Bücher tatsächlich die Identität des Rippers zweifelsfrei klären konnte. Letztlich blieb jeder Lösungsansatz Spekulation.
Publikationen, in denen nicht nur einer der Verdächtigen im Fokus des Interesses steht und die dadurch nicht Gefahr laufen, Fakten zu verdrehen, zu verfälschen, wegzulassen oder einseitig darzustellen, können an einer Hand abgezählt werden. Für den deutschsprachigen Büchermarkt gab es bis 2006 überhaupt keine Veröffentlichungen dieser Art, denn in den wenigen aus dem Englischen übersetzten Werken versuchten die Autoren stets, ihren Verdächtigen »durchzuboxen«.
Bisher gab es also weder ein objektives deutschsprachiges Buch über...