Kindheit in Sool
Heiz (Heinrich) Dürst, geb. 1953, wuchs in der Nachbarschaft von This in Sool auf. Sie spielten zusammen und besuchten zusammen die Primarschule. Heiz erinnert sich sehr genau, welcher Entbehrung, Vernachlässigung und Gewalt This ausgesetzt war.
This Jennys Grossvater väterlicherseits war Metzger und Viehhändler. Er war ein wohlhabender, wenn nicht der wohlhabendste Sooler. Die Metzgerei und der schönste Stall von Sool, im Föhnen, waren im Besitz der Familie. This’ Vater hatte Ende der Fünfzigerjahre schon sehr viel Familienvermögen verloren. Er genoss zusammen mit seiner zweiten Frau Illa das Leben in vollsten Zügen. Damals gab es in Sool fünf Autos, und eines davon fuhr die junge Illa, die Mutter von This, einen dunkelgrünen Vauxhall. Ein Auto war in jenen Jahren ein erstrebenswertes Gut. Das Motorrad mit Seitenwagen, das hinter dem Hause stand, fuhr Illa nur noch gelegentlich.
Die Metzgerei war schon nicht mehr im Familienbesitz, der Föhnenstall dagegen schon. Pferde und Kühe standen aber immer weniger im grossen und schönen Stall. Der Knecht, der im Föhnenstall hauste und die Tiere besorgte, war eines Tages nicht mehr da. Es war vor allem die Grossmutter, die jetzt, arm und gebrechlich und unter der Häme der Bevölkerung, zu This und seiner jüngeren Schwester Anita schaute, die so ohne Wohlstand und leidlich beaufsichtigt ihre Vorschulzeit in Sool durchlebten.
Nach dem Tod der Grossmutter Jenny hausten die Geschwister mehr oder weniger allein im Hausteil neben der Metzgerei. Die Eltern verliessen jeden Werktag um etwa sechs Uhr morgens das Haus und kamen meistens nach neun Uhr abends zurück. Damals musste man am Samstagmorgen noch zur Arbeit oder zur Schule.
Meine Erinnerungen an This und seine Schwester Anita beginnen 1961 mit der Beerdigung ihrer Grossmutter Jenny in Sool. Zu jener Zeit war die Beerdigung einer Dorfbewohnerin ein Ereignis. Es gehörte sich, dass von jeder Familie ein Mitglied den dahingeschiedenen Dorfbewohner auf seiner letzten irdischen Reise im Trauerzug von Sool auf den Friedhof nach Schwanden hinunter begleitete.
Für mich war das die erste Konfrontation mit der Tatsache, dass gelebt und gestorben wird. Für die Kinder Anita und This war es der Beginn einer Verwahrlosung inmitten einer »funktionierenden« Gemeinschaft. Sie wurde von allen Bewohnern in Sool miterlebt, aber niemand wollte etwas gesehen oder gehört haben. Ich bin mir dessen bewusst, dass das Folgende der Erinnerung eines damals Sieben- bis Elfjährigen entspringt. Es sind keine dokumentierten Daten, aber Bilder, die mir noch immer sehr nahe sind.
Die »Bären«-Wirtin war meines Wissens die Einzige, welche die beiden Kinder zwischendurch richtig verpflegte. Sie durften immer wieder bei ihr das Mittagessen einnehmen. Alle andern schwiegen zu den Missständen bei den Jennys oder verboten ihren Kindern gar den Kontakt. Auch meine Eltern waren über meine damalige Freundschaft mit This nicht erfreut.
Meine Mutter musste morgens um halb sieben zur Arbeit. So war auch ich etwas weniger beaufsichtigt und behütet als meine Schulkollegen, deren Mütter zu Hause waren. Es ergab sich wie von selbst, dass ich vor der Schule bei Jennys vorbeiging und die Zeit bis zum Schulbeginn im Hause Jenny verbrachte. Bald sah ich, dass in dieser Familie und in diesem Hause nichts so war wie bei uns oder bei andern Kollegen. Im Winterhalbjahr, wenn die Tage kürzer wurden und die Temperaturen sanken, begriff ich schon als Neun- bis Zehnjähriger, dass der Strom nicht jederzeit einfach aus der Steckdose kommt und eine Stube ohne Holz im Ofen kalt bleibt.
Oft sassen This, Anita und ich in der Stube und hörten bei unseren Kindergesprächen Musik am Radio. Immer wieder kam es vor, dass das Radio plötzlich verstummte. Wenn nur das Radio nicht mehr lief und das Licht weiterbrannte, bedeutete dies, dass ein Zwanzigrappenstück in den Schlitz beim Radio gesteckt werden musste. Wenn auch das Licht ausging, war das keine Störung im Stromnetz, sondern der Frankenbetrag beim Stromtableau war aufgebraucht. Der Griff zur Taschenlampe und der Gang zum Tableau, um zu schauen, ob Vater und Mutter einen Franken bereitgelegt hatten, war in Jennys Haus alltäglich und zur Routine geworden. Auch ich – und ich war nicht der Einzige – steckte gelegentlich bei mir zu Hause einen Franken, der »unbeaufsichtigt« war, in den Sack, um bei This ein wenig Eindruck zu schinden. Den Strom zum Kochen konnte man getrost vernachlässigen, weil bei Jennys selten Koch- oder Essbares vorhanden war.
Wenn der Vater zu Geld gekommen war, erwachte in ihm erneut der Viehhändler. Von einem Tag auf den andern standen dann Kühe im Stall. In diesen Phasen war This, der neun- bis zehnjährige Knabe, auch Teilzeitbauer. Die zwei bis fünf Kühe mussten gemolken, gefüttert und getränkt werden. Auch der Stall wollte besorgt sein: Ausmisten, Streue einlegen, Kühe bürsten und säubern war jetzt Teil seiner Kindheit.
Nach diesen Arbeiten war aber für den Buben noch nicht Feierabend. Die Milch musste in Milchkannen, die fast so gross waren wie This selbst, mit dem Veloanhänger nach Schwanden, in die zwei Kilometer entfernte und hundert Meter tiefer im Tal gelegene Milchzentrale gebracht werden. Die steile Soolerstrasse war zu jener Zeit noch eine Naturstrasse und für den kleinen Buben mit dem grossen Anhänger ein steter Kampf mit dem stossenden Gewicht im Rücken.
Im Vorsommer durfte ich nach dem Nachtessen um achtzehn Uhr manchmal mit This in die Milchzentrale. This »kaufte« dann meistens im Laden, welcher der Milchzentrale angegliedert war, etwas zu essen. Er liess sich die gekauften Sachen auf der Milchrechnung anschreiben. Das heisst, die Verkäuferin musste seinen Einkauf beim Verdienst aus der Milch, den Milchrappen, in Abzug bringen. Dass This’ Einkäufe vom Standpunkt gesunder Ernährung aus nicht dem Optimum entsprachen, liegt auf der Hand.
In Erinnerung ist mir auch, wie This und ich an einem Frühsommerabend, von der Milchzentrale kommend, auf seine Mutter Illa in ihrem grünen Vauxhall trafen. Als sie uns sah, stoppte sie und öffnete den Kofferraum, damit wir uns hineinsetzen konnten. Nun mussten wir einerseits den Milch-Anhänger festhalten, andererseits uns gegen den Kofferraumdeckel schützen, der immer wieder zuzuklappen und uns auf den Kopf zu fallen drohte. Diesen Kraftakt zu bewältigen, war das eine. Die aufgewirbelte Staubwolke der Naturstrasse, die uns die Sicht und fast den Atem nahm, war das Schlimmere.
In Sool angekommen, waren wir müder, als wenn wir die Strecke gegangen wären. Diese Fahrt war eine der wenigen Situationen, in denen ich die Mutter von This persönlich wahrnahm. Aber er gab gern Geschichten über seine Mutter zum Besten. Er erzählte uns immer stolz, wie intelligent sie sei und welch gute Schulzeugnisse sie gehabt habe. Er schwärmte von der Auto und Motorrad fahrenden Mutter, vor allem wenn wir hinter dem Haus auf ihrem grossen Motorrad mit Seitenwagen – BMW oder Norton – sassen und darauf spielten. Leider wurde dann auch der Töff eines Tages von einem Gläubiger abgeholt. Rückblickend denke ich, dass solche kindlichen Schwärmereien ganz normal sind.
Selten bezog sich der Stolz auch auf den Vater. An einem Mittwochmorgen sagte This ganz aufgeregt: »Heute Nachmittag metzgen wir ein Schwein. Willst du dabei sein?« Für mich war klar, dass ich wollte. Der schöne Stall im Föhnen war praktisch leer, der Knecht ohnehin nicht mehr da. Dafür stand das Schwein im Stall.
This hatte den Auftrag erhalten, den Ofen anzuheizen und Wasser zu kochen. Das Wasser kochte schon lange, aber es wurde schon fast Abend, bis Hans, sein Vater, endlich kam. Er zog seine Metzgerjacke über, legte sein Metzgerset auf einem Tuch aus und befahl uns, das Tier zu holen. In diesem Moment war This richtig stolz auf seinen Vater. Wir brachten das Schwein, der Vater setzte den Bolzenschussapparat an, schoss und erstach das Tier. Das Blut wurde in einem Kübel aufgefangen, für Blutwürste, erklärte er uns. Damals durfte noch vor dem Stall geschlachtet werden. Die Hygienevorschriften waren noch nicht so streng oder wurden nicht eingehalten. Das war einer der seltenen Tage, an denen This wie andere Kinder auch etwas gemeinsam mit seinem Vater unternehmen durfte.
Wenn die Kühe draussen auf der Wiese hinter dem Wohnhaus grasten, gingen wir nach der Schule meistens auch auf die Weide. Auf der Hügelkuppe stand der Strommast einer Hochspannungsleitung des Kraftwerks Mettmen. Wir Buben kletterten gern auf diesem Mast herum, dabei entwickelte sich allmählich ein Wettbewerb. Wer sich weiter nach oben getraute, konnte sich rühmen! Im Alter von elf Jahren waren wir zu dritt (This, Tschüngg und ich), die sich brüsteten, bis über das »dritte Schiff« (Ausleger der Masten, an denen die Drähte auf beiden Seiten geführt werden) zum Blitzableiter hochgestiegen zu sein. Der Gefahr, der wir uns aussetzten, waren wir uns nie bewusst. Erwachsene, die uns sahen, schüttelten gelegentlich den Kopf, aber keiner unterband unser lebensgefährliches Treiben. Was gingen einem die Kinder anderer Leute an! Vielleicht lag...