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Das Kriegskind
»Ich war kein Wunschkind«
John Lennon kam mit einer musikalischen und komödiantischen Begabung auf die Welt, die ihn weit von seinen Wurzeln forttragen sollte. Als junger Mann lockten ihn die scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten und der Glamour jenseits des Atlantiks. Es gelang ihm das seltene Kunststück, als Brite den Amerikanern ihre eigene Musik nahezubringen und dabei so überzeugend wie ein einheimischer Künstler – wenn nicht sogar besser – zu spielen. Er war mit seiner Truppe über Jahre in Amerika unterwegs, wo sie in einer Stadt nach der anderen ihr Publikum beglückten – mit grellen Anzügen, lustigen Frisuren und einem fröhlichen Grinsen, das ansteckend wirkte.
Die Rede ist hier natürlich nicht von dem Beatle John Lennon, sondern von seinem Großvater gleichen Namens, besser bekannt als Jack – Jack Lennon, 1855 in Dublin geboren. Der Familienname ist irischen Ursprungs, abgeleitet von O’Leannein oder O’Lonain. Jack gab als seinen Geburtsort immer Dublin an, obwohl es Belege dafür gibt, dass seine Familie schon lange vorher die Irische See überquert hatte, um sich in der großen irischen Gemeinde von Liverpool niederzulassen. Er arbeitete zunächst in einem Kontor, aber in den 1880ern wanderte er wie viele seiner Landsleute nach New York aus. Viele Iren in der Neuen Welt waren Arbeiter oder auch bei der Polizei beschäftigt. Jack jedoch wurde Mitglied der Andrew Roberton’s Coloured Operatic Kentucky Minstrels.
Sein Engagement dort mag kurz und oberflächlich gewesen sein, aber er wurde dadurch Teil der ersten transatlantischen Popmusikindustrie. Die amerikanischen Minstrelgruppen, in denen Weiße ihre Gesichter schwarz färbten und übergroße Anzüge und Schuhe trugen, sangen sentimentale Lieder vom Swanee River, von »Bimbos« und »Negern«. Solche Combos erfreuten sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts großer Beliebtheit, sowohl mit ihren Bühnenauftritten als auch mit ihren Kompositionen. Als Roberton’s Coloured Operatic Kentucky Minstrels 1897 durch Irland tourten, nannte der Limerick Chronicle sie die unbestrittenen Weltmeister des höheren Minstrel, und die Dublin Times meinte, sie seien die Besten, die man je in diesem Genre gesehen habe. Einem zeitgenössischen Handbuch ist zu entnehmen, dass die Truppe etwa 30 Mitglieder hatte, dass auch echte schwarze Künstler unter den Geschminkten waren und dass eine ihrer Spezialitäten eine Parade durch die Straßen der Städte war, in denen sie auftraten.
Die Musik brachte diesem John Lennon, im Gegensatz zu seinem Enkel, den er nie kennengelernt hat, keinen weltweiten Ruhm ein. Es war lediglich eine Episode seines Lebens, von der seine Nachkommen so gut wie nichts wussten. Um die Jahrhundertwende kehrte er nach Liverpool zurück und nahm sein altes bürgerliches Leben als Angestellter wieder auf, diesmal in den Diensten der Booth Shipping Line. Mit ihm zurück kam seine Tochter Mary, das einzige Kind seiner ersten Ehe – diese hatte seinen Ausflug in die Welt des Showgeschäfts nicht überlebt.
Als Mary auszog, um eine Stelle als Dienstmädchen anzutreten, schien Jack auf ein einsames Alter zuzusteuern. Stattdessen heiratete er jedoch seine Haushälterin, eine junge Liverpooler Irin namens Mary Maguire, meist Polly genannt. Zwar war sie zwanzig Jahre jünger als er und konnte weder lesen noch schreiben, aber sie erwies sich als die ideale Ehefrau – sie war selbstlos, praktisch veranlagt und sehr tüchtig. Die beiden wohnten in einem der kleinen Terrassenhäuser in der Copperfield Street in Toxeth, einem Stadtteil mit dem Spitznamen Dickens-Land, weil die Straßen nach Figuren aus Dickens’ Romanen benannt waren. Wie Mr. Micawber in der Geschichte von David Copperfield sprach Jack gelegentlich davon, zu seinem früheren Leben auf der Bühne zurückzukehren und so Reichtümer für seine Frau anzuhäufen, damit sie, wie er es formulierte, »in Seide furzen« könnte. Aber seine musikalischen Auftritte beschränkten sich auf den Pub um die Ecke und gelegentliche Familienfeiern.
In seiner zweiten Ehe brachte es Jack noch mal auf acht Kinder. Zwei starben im Säuglingsalter, was die abergläubische Polly auf ihre katholische Taufe zurückführte. Daher wurden die sechs anderen nach dem protestantischen Ritus getauft und überlebten alle: fünf Jungen, George, Herbert, Sydney, Alfred und Charles, und ein Mädchen, Edith. Polly vollbrachte die heroische Leistung, sie mit Jacks bescheidenem Einkommen alle durchzufüttern. Allerdings beschränkte sich ihr Speisezettel im Wesentlichen auf Brot, Margarine, starken Tee und Labskaus (von diesem Gericht leitet sich der Spitzname der Bewohner Liverpools, Scouses, ab) – eine Kost, der es an wichtigen Nährstoffen fehlte.
Am schwersten von dieser einseitigen Ernährung betroffen war der vierte Junge, Alfred, geboren 1912. Er litt als Kleinkind an Knochenerweichung, mit der Folge, dass seine Beine verkrüppelten. Die einzige Behandlung, die Kinderärzte damals vornahmen, bestand darin, Eisenschienen an den Beinen zu befestigen. Man hoffte, dass das zusätzliche Gewicht und der Zug auf die Schienen das Wachstum der Beine und der Muskulatur fördern würde. Obwohl Alfs Beine über Jahre hinweg mit diesen Schienen belastet waren, blieben seine Beine verkrüppelt und verkürzt, und er wurde nicht größer als 1,50 Meter. Dennoch wuchs er zu einem gutaussehenden jungen Mann heran, mit einer üppigen schwarzen Mähne, fröhlichen Augen und der typischen Nase der Lennons, einem dünnen, steil abfallenden Zinken, mit scharf gezeichneten Nasenflügeln.
Jacks musikalisches Talent verteilte sich auf seine Kinder sehr unterschiedlich. George, Herbert, Sydney, Charles und Edith hatten passable Singstimmen, und die Jungen spielten darüber hinaus Mundharmonika, das einzige Musikinstrument, das sie sich bei diesem Lebensstandard leisten konnten. Alf aber spielte musikalisch in einer anderen Liga, was allerdings mit einem »Hang zur Angeberei« verbunden war, wie es sein Bruder Charlie (geboren 1918) formulierte. Er konnte alle Lieder aus den Music Halls und leichte Opernarien singen, die während des Ersten Weltkriegs in der Hitparade auftauchten. Er konnte Balladen rezitieren, Witze erzählen und andere Leute imitieren. Sein größter Erfolg war die Parodie von Charlie Chaplin, dem kleinwüchsigen anarchischen Tramp, der mit seinen Filmkomödien weltweiten Ruhm erlangte.
Jack starb an einer Leberkrankheit – möglicherweise eine Folge seines Alkoholkonsums – im Jahr 1921. Da sie mit der staatlichen Witwenpension von fünf Shilling pro Woche und Kind nicht überleben konnte, verdingte sich Polly als Wäscherin. Das bedeutete Rückenschmerzen und harte Arbeit, mit den Händen im brühend heißen Wasser, von vier Uhr morgens bis zum Einbruch der Dämmerung. Sie schrubbte die schmutzige Bettwäsche ihrer Kunden auf einem Waschbrett und trocknete sie mit einer schweren, handbetriebenen Eisenmangel. Aber selbst unter diesen Umständen – so die Erinnerung ihrer Enkelin Joyce Lennon – war das enge Häuschen, in dem sie lebten, immer so sauber, dass man vom Boden hätte essen können.
Polly hatte die fünf Söhne unter ihrer Knute, wie Mrs. Joe in Great Expectations von Charles Dickens, und sie zögerte nicht, sie mit einem Lederriemen zu züchtigen, als die ältesten von ihnen schon erwachsene Männer waren.
Trotz ihrer Schufterei erwies es sich als unmöglich, die sechs Mäuler ausreichend zu stopfen. Da ergab es sich, dass ihren Kindern Alf und Edith eine Unterkunft im Liverpooler Bluecoat Hospital in der Church Road in Wavertree angeboten wurde, einer Schule mit Internat für mittellose Kinder. Die Schule war nur einen Steinwurf von einer damals noch völlig unbekannten kleinen Durchgangsstraße namens Penny Lane entfernt. Die Bluecoat-Schule, gegründet im Jahr 1714, kleidete ihre männlichen Schüler immer noch wie im 18. Jahrhundert in einen blauen Frack mit goldenen Knöpfen, Reithosen, langen Gamaschen und Halstuch. Wegen des hohen Niveaus der Schule und der vergleichsweise freundlichen Leitung galten Kinder, denen es gelang, hier unterzukommen, als Glückspilze. Dennoch war es für Alf und Edith eine traumatische Erfahrung, ihr gemütliches Haus in der Copperfield Street und ihre angebetete Mutter verlassen zu müssen. Alf, der fröhlichere von den beiden, passte sich schnell an das Leben in der Institution an: Er kam in der Schule gut mit, wurde das Maskottchen der Footballmannschaft und unterhielt den ganzen Schlafsaal mit seinen Gesangs- und Tanznummern und der Chaplinparodie, mit denen er schon seine Familie und die Nachbarn zu Hause erheitert hatte.
Von seiner frühesten Jugend an war es sein Wunsch gewesen, wie sein Vater ins Showbusiness zu gehen. Dieser Wunsch erfüllte sich ihm im Alter von 14 Jahren, als sein Bruder Sydney ihn in das Empire Theatre in der Lime Street mitnahm, wo eine Truppe von singenden und tanzenden Jugendlichen auftrat, die Murray’s Gang. Nach der Vorstellung fragte sich Alf zu den Garderoben hinter der Bühne durch und gab vor Bill Murray, dem erwachsenen Manager der Truppe, eine spontane Vorstellung seines Könnens. Murray bot ihm daraufhin an, ihn ab und zu für einen Job anzuheuern. Als seine beiden älteren Brüder Herbert und George ihm das verbieten wollten, lief Alf aus der Bluecoat-Schule weg und fuhr mit der Truppe nach Glasgow, um dort mit ihr aufzutreten. Aber einer seiner Lehrer fuhr ihm nach und brachte ihn mit Schimpf und Schande zur Schule zurück, wo er sich vor seinen versammelten Mitschülern einer rituellen...