Kapitel 1:
Tränen
Die schwarze Limousine gleitet in die Nacht. Ein Audi A8, getönte Scheiben, grelle Scheinwerfer, innen alles aus hellbeigem Leder. Solche Wagen holen Staatschefs wie Barack Obama von Regierungsgipfeln ab. Filmstars wie Angelina Jolie von der Oscar-Verleihung. Wirtschaftsbosse wie Apple-Boss Tim Cook von Milliardenverhandlungen. Solche Wagen holen Gewinner ab. In dieser magischen Nacht ist die Limousine auf dem Weg zum Gewinner dieser Fußballsaison. Sie ist auf dem Weg zu José Mourinho.
Es ist Samstag, der 22. Mai 2010, weit nach Mitternacht. Der Audi biegt in eine Gasse des Madrider Bezirks Chamartín ein, die zum Spielerausgang des legendären Estadio Santiago Bernabéu führt, dem berühmtesten Stadion der Welt.
In einer dunklen Ecke kommt der Wagen zum Stehen. Sein Motor läuft weiter. Vor dem Spielerausgang wartet José Mourinho. Er geht auf den Audi zu. Ein Sicherheitsmann öffnet ihm die rechte Hintertür der Limousine, ein paar Fans drängen sich um den Wagen und rufen seinen Namen. Mourinho lässt sich auf den Rücksitz fallen, sein dunkelgraues Jackett ist zerknittert. Er hat gerade den emotionalsten Abend seiner bisherigen Laufbahn erlebt. Den schönsten Abend. Den Abend, der sein Leben verändert. Er hat die Champions League gewonnen. Zum zweiten Mal in seiner Karriere. Das Größte, was ein Fußballtrainer mit einem Verein erreichen kann. Er hat bestätigt, dass der Triumph mit dem FC Porto 2004 für ihn keine einmalige Sache war, dass er mit verschiedenen Klubs den größten und wichtigsten Vereinswettbewerb der Welt gewinnen kann. José Mourinho hat ein neues Level erreicht.
2:0 gegen den FC Bayern. Zwei Tore von Diego Milito, dem argentinischen Topstürmer. 75 000 Zuschauer im Stadion. Rund 100 Millionen an Fernsehern und vor Leinwänden in aller Welt. 100 Millionen, die sehen, wie sich Mourinho zum König Europas krönt. Die pure Freude und Genugtuung erlebt er in dieser Nacht, aber auch Freude und Genugtuung machen müde.
Auf dem Beifahrersitz des Audis hat seine Frau Matilde Platz genommen, Mourinho nennt sie liebevoll »Tami«. Sie trägt ein blaues Kleid. Ihr Ehemann greift mit seiner rechten Hand nach der Kopfstütze des Beifahrersitzes, um sich zum Gespräch zu ihr vorzuziehen. Der Fahrer des Audis soll die beiden zur Siegesfeier in einem Restaurant in Madrids Innenstadt fahren. Er tritt aufs Gaspedal. Und dann passiert es.
Mourinho entdeckt aus dem Augenwinkel einen großen Mann. Der Inter-Trainer ruft: »Stopp!« Sein Fahrer tritt auf die Bremse, nach nur wenigen Metern steht der Audi wieder. Mourinho reißt die rechte Hintertür auf. Der Sicherheitsmann von eben ist jetzt nicht mehr zu finden, aber das ist ihm egal. Mourinho marschiert zielgerichtet los. Es riecht nach Benzin, Inters Mannschaftsbus steht mit laufendem Motor auf der Zufahrt des Spielerausgangs. Und vor dem Bus lehnt dieser große Mann in einer weißen Trainingsjacke an der Stadionwand und telefoniert mit seinem Handy. Seine Augen sind gedankenversunken auf den Asphalt gerichtet.
Mourinhos Blick fixiert ihn, seine linke Hand hängt locker in der Tasche seiner Anzugshose. Er wird beim Gehen immer schneller. So bewegt sich nur einer, der bis zum Anschlag mit Emotionen aufgeladen ist. Als Mourinho immer näher kommt, bemerkt ihn der Mann in der Trainingsjacke. Der Mann ist Marco Materazzi, italienischer Nationalspieler. Ein knallharter Verteidiger, der auf dem Spielfeld unverletzbar wirkt.
Mourinho fährt seinen rechten Arm aus und legt ihm Materazzi um die Schultern. Materazzi unterbricht sein Telefonat und umarmt ihn. Ineinander verschlungen stehen sie da. Obwohl der Motor des Inter-Busses weiter dröhnt, ist ihr Schluchzen zu hören. Materazzi weint, Mourinho weint. Materazzi klopft seinem Trainer mit der linken Hand immer wieder auf den Rücken. Die Oberkörper der Männer beben. So verharren sie. Zwei Große des Weltfußballs. In einer Busauffahrt. Zwei Stars, die gerade ein Ziel erreicht haben, auf das sie ihr Leben lang hingearbeitet hatten. Und die jetzt auseinandergehen. Auseinandergehen müssen. Für Mourinho war es das letzte Spiel als Inter-Trainer. Er hat sich entschlossen, sich den nächsten Traum zu erfüllen: Trainer von Real Madrid zu werden, dem gefühlt größten Klub der Welt.
In der Nachspielzeit des Finales stand Mourinho mit Materazzi an der Seitenauslinie des Bernabéu-Stadions. Der Sieg war Inter nicht mehr zu nehmen, nur noch wenige Sekunden zu spielen. Mourinho wollte noch etwas Zeit schinden und Materazzi mit einem Einsatz in diesem historischen Spiel für seine Leistungen der vergangenen Jahre danken. Als er den Italiener gerade für den Finalhelden Milito einwechseln wollte, sagte Materazzi: »Trainer, bitte bleib! Du wirst bei Real niemals so geliebt wie bei uns.« Der Satz trieb Mourinho bereits da Tränen in die Augen. Er sagte nur: »Ich muss gehen.«1
Jetzt stehen sie da in der Busauffahrt und umarmen sich. Zwei, die weltweit überall erkannt werden und viele Millionen Euro im Jahr verdienen. Materazzi kann kaum sprechen, seine Gefühle beuteln ihn. Vom Weinen sind seine Augen rot, sein Hals trocken, sein Körper und Geist sind in einem emotionalen Ausnahmezustand. Ganz leise presst er dann die Frage in Mourinhos Ohr, die ihn quält: »Was soll ich tun? Aufhören? Nach dir kann ich keinen anderen Trainer haben.«2
Materazzi ist 1,93 Meter groß, Mourinho 1,74 Meter klein. Mit noch mehr Tränen in den Augen löst sich Materazzi nach einer gefühlten Ewigkeit aus der Umarmung seines Trainers. Er führt seinen Kopf an Mourinhos Schläfe – und küsst ihn. Ein ganz zarter Kuss. Wie ein Sohn ihn seinem Vater bei einem Abschied schenkt.
Als die beiden Männer auseinandergehen, schauen sie sich nicht in die Augen. Das geht in diesem Moment nicht. Dann würde es sie erneut übermannen. Materazzi blickt Richtung Himmel, als würde er nach einem Stern suchen, dem er für diese magische Nacht danken kann. Er geht Richtung Eingang des Inter-Busses. Mourinho blickt auf den Boden. Er weint jetzt nicht mehr, er flennt. Die Tränen tropfen auf sein dunkelblaues Hemd. Seine linke Hand hat er immer noch in der Hosentasche. So schnell es geht, marschiert er zurück zum schwarzen Audi. Der Sicherheitsmann steht jetzt wieder da. Er öffnet Mourinho die rechte Hintertür, der Startrainer steigt ein. Sein Fahrer gibt Gas. Die Limousine schießt aus dem Stadion in die Madrider Nacht. Die Beschleunigung presst Mourinho in den Ledersessel der Rückbank.
Er schweigt. Seine Tränen sagen alles.
Über ihn. Über seinen Charakter. Über seine Liebe zum Fußball. Über seinen Erfolg. Und vor allem über das Band zwischen ihm und seinen Spielern, das so dick sein kann wie bei keinem anderen Trainer.
***
Tränen spielen im Leben des José Mourinho eine tragende Rolle. Er weint vor Freude, er weint vor Erleichterung, er weint vor Wut und vor Trauer. Und er bringt Menschen zum Weinen. Sie weinen vor Freude. Vor Wut. Und auch mal aus Angst. Aus Furcht. Furcht vor der Stärke und Unberechenbarkeit Mourinhos. Furcht vor der Niederlage.
José Mourinho ist »The Special One«, der besondere Trainer. Für manche einfach nur ein Champion. Der einzige Trainer, der in Portugal,England, Italien und Spanien die Meisterschaft, den nationalen Pokal und den Supercup gewann. Der einzige, der das kleine und große Triple des europäischen Fußballs gewann. Der Trainer, von dem das berühmte Wachsfigurenkabinett Madame Tussauds in London eine Nachbildung angefertigt hat, mit der sich täglich unzählige Touristen fotografieren lassen. Der Trainer, nach dem seine Heimatstadt Setúbal eine Straße benannt hat. Der Trainer, den die größten Firmen der Welt als Werbeträger haben wollen.
Für manche ist José Mourinho ein Genie. Das mit seinem Image spielt, psychologische Tricks clever einsetzt, das Spiel mit den Medien beherrscht und Kleinigkeiten nur deshalb zu Skandalen aufbauscht, um seine Mannschaft zu schützen. Ein Genie, das enormen Zusammenhalt erzeugen kann. Das auf die Loyalität seiner Spieler setzt und mit ihrer Hilfe eine »Wir gegen den Rest der Welt«-Mentalität erzeugen kann. Das mit Belohnungen und Strafen arbeitet.
Für manche ist Mourinho skrupellos. Arrogant, egoistisch, taktlos. Einer, der auch mal mit zweifelhaften Methoden zu seinen Erfolgen kommt. Der Fairplay nicht immer so wichtig nimmt. Der Trainern und Spielern gegenüber zu wenig Respekt zeigt. Der keinen schönen Fußball spielen lässt. Doch auch seine Kritiker erkennen an: Mourinho ist immens erfolgreich. Eben weil er ist, wie er ist.
Mourinho hat den Fußball verändert. Früher richtete sich die Abneigung der Fans ausschließlich gegen die gegnerischen Spieler. Seit Mourinho auch und vor allem gegen den gegnerischen Trainer. Schon viele Zuschauer haben sich dabei erwischt, wie sie mit ihren 100-Euro-Eintrittskarten in den Händen gebannt mehr auf Mourinhos Verhalten an der Seitenlinie denn auf das Spielgeschehen auf dem Rasen geachtet haben.
Früher war der Spieler der Star. Uwe Seeler, Pele, Günter Netzer, David Beckham, Ronaldo, Michael Ballack. Seit Mourinho ist es auch der Trainer. Auch, weil er als Erster seines Berufstands das Interesse der Medien und Fans an ihm als Waffe nutzt. Als Waffe gegen seine Gegner. Und auch mal gegen seine Spieler. Meist aber zu ihren Gunsten.
Für manche Spieler ist er eine empathische Vaterfigur, für die meisten einfach ein außergewöhnlich guter Trainer mit starker Rhetorik, der die Profifußballbranche mit all ihren Facetten durchschaut. Für andere ein skrupelloser Diktator. Für manche Experten ein Giftmischer, für andere ein Guru. Vom Übersetzer zu einem der...