Sein politisches Denken verliert sich in diesen Jahren immer mehr in monarchistischen Illusionen. Er schwärmt von der Wiederauferstehung der Habsburg-Dynastie und wird Legitimist. »Ich konnte mit Ihnen in diesen Tagen nicht zusammenkommen, weil jetzt der Jahrestag der Eroberung Österreichs ist und ich seit 3 Tagen in 6 Versammlungen der Österreicher spreche«, heißt es in einem Brief vom März 1939.14 Er glaubt allen Ernstes, dass der Kaisersohn Otto von Habsburg der Retter seines Heimatlandes sein könnte. »Der Monarch, der Monarch allein verhütet den Usurpator. … Es kann auf die Dauer keine wirkliche Selbstkontrolle geben ohne ein Vorbild. Dieses Vorbild ist der Monarch, der Nicht-Gewählte, sondern der Gesalbte. … Wenn das österreichische Volk keinen Diktator will, so rufe es von jetzt ab: ›Es lebe Kaiser Otto‹.«15 So fern solche Wertungen der Wirklichkeit der 30er-Jahre des 20. Jahrhunderts sind, Roth steht mit dieser Haltung keineswegs allein. Leo Perutz, in Prag geboren und bis 1933 ein viel gelesener jüdischer Autor spannender und raffinierter Romane, lässt den Freund, Reiseschriftsteller und Journalisten Richard A. Bermann 1939 wissen: »Aber was den Legitimismus betrifft, so ist und bleibt es meine Überzeugung, daß nur durch ihn übernationale Staaten möglich werden. Nationalstaaten in diesem Europa bedeuten immer Krieg. Übernationale monarchistische Staaten sind die einzig wirkliche Friedensgarantie.«16 Auch der ebenfalls aus Prag stammende Franz Werfel hegt große Sympathien für den österreichischen Legitimismus. Und noch 1947 – Europa liegt nach einem Weltkrieg in Trümmern – liest der Heidelberger Philosoph Karl Jaspers ein spätes Echo auf den Niedergang der europäischen Monarchien in einem Brief des Historikers Golo Mann: »Die konstitutionelle Monarchie ist die beste Regierungsform für Europa und das sicherste Bollwerk der Rechte des Einzelnen gegen totalitäre Tyrannei.«17
Die Niederlage der europäischen Republiken und der Sieg der diktatorischen Regime in zahlreichen Staaten löst in den 30er-Jahren im Kreise der linken und der demokratisch-bürgerlichen Intellektuellen einen Schock aus. Die allerorts einsetzende Menschenjagd auf Andersdenkende und jüdische Mitbürger und der sich immer deutlicher abzeichnende Weg in den Krieg lässt nicht wenige unter ihnen von der monarchistischen Vergangenheit schwärmen – nicht nur, aber vor allem in Österreich. Stefan Zweig deutet in seinen von Nostalgie und Verzweiflung über den Ersten Weltkrieg geprägten Erinnerungen an, warum gerade so viele noch im 19. Jahrhundert geborene Österreicher Monarchisten geblieben sind: »›Der Kaiser‹, dieses Wort war für uns der Inbegriff aller Macht, allen Reichtums gewesen, das Symbol von Österreichs Dauer, und man hatte von Kind an gelernt, diese zwei Silben mit Ehrfurcht auszusprechen.«18 Roth hält 1929 in seinem Roman »Der stumme Prophet« verklärend fest: »Und doch war zu meinen Zeiten, als noch der Mensch wichtiger war als seine Nationalität, die Möglichkeit vorhanden, aus der alten Monarchie eine Heimat aller zu machen.«19 Fast 70 Jahre nach Roths Tod meint der ungarische Literatur-Nobelpreisträger und Roth-Übersetzer Imre Kertész: »… Joseph Roth hat vielleicht am schärfsten unter den Schriftstellern verstanden, was der Zusammenbruch der österreichisch-ungarischen Monarchie bedeutete: Die Wurzel des Nazismus, das Leichengift liegt hier. Es wurden kleine Nationalstaaten gegründet, deren Nationalismus berechtigt erschien. Das führte schließlich zum Nazismus und zum Zweiten Weltkrieg.«20
Die Melancholie, diese späthabsburgische Krankheit, die sich in nahezu allen Werken der österreichischen Roman- und Theaterliteratur seit den 90er-Jahren des 19. Jahrhunderts zu Wort meldet, ist im letzten Lebensjahrzehnt auch in Roths Romanen, Artikeln und Briefen nicht zu übersehen. Es ist eine Flucht aus der Geschichte. »Wie jeder Österreicher jener Zeit liebte Morstin das Bleibende im unaufhörlich Wandelbaren«, heißt es in der Novelle »Die Büste des Kaisers«, »das Gewohnte im Wechsel und das Vertraute inmitten des Ungewohnten. So wurde ihm das Fremde heimisch, ohne seine Farbe zu verlieren, und so hatte die Heimat den ewigen Zauber der Fremde.«21
Im August 1914 nimmt die europäische Katastrophe ihren Anfang. In den folgenden dreißig Jahren erlebt Europa einen kontinentalen Bürgerkrieg von unvorstellbarem Ausmaß. Er wird den Kulturpessimismus Roths bestimmen, der sein Denken in den späteren 20er- und 30er-Jahren immer stärker beeinflusst.
Roths nostalgischer, die Moderne und ihre Abwendung von der Religion voller Skepsis betrachtender Blick schlägt sich auch in seinem Romanwerk nieder. »Im Grunde hat Roth in allen seinen 15 Romanen einen einzigen Roman geschrieben, den Roman des Mannes (und immer sind seine Hauptfiguren Männer), der zur Modernität, zum Leben in der Gegenwart verdammt ist, der diese Wirklichkeit aber nicht erträgt, sondern flieht, in die Einsamkeit, in die Revolution, in die Vergangenheit.«22
Im »Radetzkymarsch« lässt Roth eine der Figuren die eigene Haltung formulieren: »Die Welt, in der es sich noch lohnte zu leben, war zum Untergang verurteilt. Die Welt, die ihr folgen sollte, verdiente keinen anständigen Bewohner mehr. Es hatte also keinen Sinn, dauerhaft zu lieben, zu heiraten und etwa Nachkommen zu zeugen.«23
Das Ende des Vielvölkerreiches der Habsburger bleibt für Joseph Roth weit mehr als nur ein politisches Ereignis. Er empfindet es als einen unwiederbringlichen kulturellen und geistigen Verlust. Denn das Reich der Habsburger »versank im Meer der Zeiten, das große Reich mit seiner gesamten bewaffneten Macht … so vollkommen, so für immer, wie die armselige mit dem Imperium nicht zu vergleichende Kindheit eines Untertanen. Aber in der Erinnerung, in der das Große klein und das Geringe mächtig werden kann, identifiziert sich der kleine Teil einer Kindheit mit einem kolossalen Reich …«24 Diese Sätze schreibt Joseph Roth in einem Artikel für die »Frankfurter Zeitung« im Juni 1929.
Als schließlich die Stunde der Barbaren schlägt und in Deutschland, in Italien, in Spanien, in Portugal, in Rumänien, in Polen, in Ungarn und auch in Österreich autoritäre, faschistische oder nationalsozialistische Regime triumphieren, wächst die Welt der Habsburger auch für Roth endgültig zur unauslöschlichen Sehnsucht heran. Sie wird ihm zum Gegenpol einer moralisch und politisch verfallenden Gegenwart. 1932 macht er in einem Brief die Bemerkung: »Mein stärkstes Erlebnis war der Krieg und der Untergang meines Vaterlandes, des einzigen, das ich je besessen: der österreichisch-ungarischen Monarchie.«25 In seiner Novelle »Die Büste des Kaisers«, geschrieben in den depressiven Exiljahren, resigniert auch der »alte, verbrauchte«, nach dem Zusammenbruch Österreichs an der Riviera lebende Protagonist Graf Morstin: »Meine alte Heimat, die Monarchie, allein war ein großes Haus mit vielen Türen und vielen Zimmern, für viele Arten von Menschen. Man hat das Haus verteilt, gespalten, zertrümmert. Ich habe dort nichts mehr zu suchen.«26 Der 13 Jahre ältere Freund Stefan Zweig wird in seiner Autobiographie ganz im Sinne Roths Abschied von der »Welt von Gestern« nehmen: »Wenn ich versuche für die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, in der ich aufgewachsen bin, eine handliche Formel zu finden, so hoffe ich am prägnantesten zu sein, wenn ich sage: es war das goldene Zeitalter der Sicherheit. Alles in unserer fast tausendjährigen österreichischen Monarchie schien auf Dauer gegründet und der Staat selbst der oberste Garant dieser Beständigkeit.«27
Roth und Zweig schlagen das große Thema nahezu aller österreichischen Schriftsteller an, deren frühe Jahre noch in die Zeit der Monarchie gefallen sind. So fern uns Heutigen die zahlreichen wehmütigen Rückblicke auf das Gestern der österreichischen Monarchie erscheinen mögen, ist es nicht tatsächlich so, dass nach den Habsburgern der mitteleuropäische Nationalismus eine für seine Völker verhängnisvolle Rolle zu spielen beginnt? Der »Ruhe« des Franz-Joseph-Zeitalters folgen jedenfalls für die Ukrainer, Tschechen, Ungarn, Rumänen, Serben oder Polen nach 1914 Jahrzehnte des Kriegsmordens, der zivilisatorischen Zerstörung und einer langen kommunistischen Zwangsherrschaft. Roths legitimistische Hoffnungen – in den letzten Lebensjahren vom Alkohol und von wachsenden Verfolgungsängsten verstärkt – sind aus seiner Sicht keine Traumgespinste. Sicher, da kokettiert und provoziert einer im Kreis der Exilanten, die aufgeregt und ratlos die immer düsterer werdende politische Lage diskutieren. Auch aus intellektuellem Trotz will er dem vielfach linken Zeitgeist Paroli bieten. Aber Roth glaubt letztlich wohl ernsthaft, dass die Wiedererrichtung der österreichischen Monarchie Europa retten könnte. Jedenfalls lassen sich seine öffentlichen Bekenntnisse in den Jahren nach 1935 kaum anders deuten. So versteigt er sich etwa in einem Vortrag von 1938 zu der pathetischen Formulierung: »In der Tat bin ich ein österreichischer Legitimist, den Kaiser Otto unglücklicherweise zu früh von seinem Eid entbunden hat.«28 Zwar kennt das 20. Jahrhundert keinen Habsburger »Kaiser Otto«, aber viele der Zuhörer, überwiegend aus ihrer Heimat geflohene Österreicher, wissen Roths Worte zweifellos richtig einzuordnen. Auch für sie ist der Neffe des legendären Franz Joseph der legitime Inhaber...