4. Antijudaismus in der Antike
Das Judentum war trotz aller Bemühungen, sein eigenes Selbstverständnis mit den hermeneutischen Mitteln hellenistischer Philosophie zu definieren, nicht restlos eingliederbar in die hellenistische und spätantike Gesellschaft. Sein Gott JHWH galt ihm als der Einzige und Unvergleichliche, dem das Judentum auch als eine in sich geschlossene und sich von den anderen deutlich unterscheidende Gemeinschaft zu dienen hatte. Die spätantike Frömmigkeit nahm nicht daran Anstoß, Götter der verschiedensten Völker und Länder einander gleichzusetzen. Überall sah der antike Mensch das Numinose, in den Tempeln und in der Natur, auch verstand er vielfach nicht, daß es ein Volk gibt, das für seinen – noch dazu unsichtbaren – Gott absolute Anerkennung mit Ausschließlichkeitsanspruch verlangte. Hätte Israel seinen Gott JHWH in der Antike mit Jupiter identifiziert, wäre die Verehrung eines Jupiter Jahvinus – wie z.B. die eines Jupiter Dolichenus – oder eines Jupiter Hierosolymitanus eine Möglichkeit innerhalb des Rahmens der jüdischen Religion gewesen, es wäre nie zu einem antiken Antijudaismus gekommen, aber das Judentum wäre schon längst in der Geschichte untergegangen. So aber wählte das Judentum den Weg der Einsamkeit und der Treue zu seinen alten Traditionen und Verheißungen. Diesen Weg verstand das Judentum – und es versteht ihn vielfach noch immer – als Widerspruch gegen eine sich selbst überschätzende Welt, und es verstand das Heidentum – und so verstehen es viele Nichtjuden auch heute noch – als Hochmut und als Kritik an ihren eigenen Lebenswerten.
Der Jude konnte, wie übrigens auch der Christ, der den eigenen Ausschließlichkeitsanspruch aus dem Alten Testament übernommen hatte, nicht am Kaiserkult teilnehmen. Aber die jüdische Religion, die ihrem Wesen nach nicht so sehr wie das Christentum eine missionierende Religion war, galt als eine religio licita, d.h. als eine zugelassene Religion. Daher waren auch die Juden – von kurzfristigen Ausnahmen abgesehen – vom Kaiserkult befreit. Im Kaiserkult aber drückte sich nicht nur die Loyalität zum Kaiser, sondern auch zur Gesellschaft des Staates aus. Das Judentum stand außerhalb dieses Bereiches. Sabbat-Vorschriften und Speisegesetze hinderten die Juden, am täglichen Leben ihrer heidnischen Mitbürger teilzunehmen, mit denen auch am Sabbat keine Geschäfte abgeschlossen werden durften. Die Juden begrüßten zwar vielfach das Interesse gebildeter Heiden an ihrer Religion. Als ‚gottesfürchtige Heiden‘ konnten diese sogar an den synagogalen Gottesdiensten teilnehmen. Selbst aber war es den Juden streng untersagt, die Tempel der Götter zu betreten. Somit war für Konfliktstoff schon in der vorchristlichen Antike gesorgt.
Das Judentum unterschied sich gerade durch das Befolgen jener Vorschriften, die es nach innen zur Einheit machten, von seiner jeweiligen nichtjüdischen Umgebung. Am Ausgang der hellenistischen Epoche und in der Spätantike war die jüdische Diaspora bereits über fast die ganze antike Oikumene verbreitet. Schwerpunkt war natürlich das östliche Mittelmeerbecken mit seinen Grenzländern bis hin zum Persischen Golf. Nicht nur die gleichzeitig religiöse und nationale Struktur des Judentums, sondern auch die weltweite Verbreitung der jüdischen Diaspora war ein weiterer Grund für den Antagonismus zwischen Juden und Heiden in der Antike. Das, was Israel als Treue zu seinem Gott verstand, wurde zum Gegenstand beißenden Spottes bei den Heiden. So sagte z.B. Juvenal, Satire 14,96f: „Wem das Schicksal einen Sabbat-fürchtigen Vater beschieden hat, der betet nur die Wolken und Himmelgottheiten an. Er unterscheidet auch nicht das menschliche Fleisch vom Schweine, dessen sich der Vater enthielt. Auch läßt er seine Vorhaut beschneiden. Die Juden verachten die römischen Gesetze, lernen aber das jüdische Recht, dem sie dienen und das sie fürchten, das ihnen Moses in irgendeinem arkanen Buch übergeben hat.“
Schon Hekataios von Abdera um 300 v. Chr. schrieb von den Juden, daß ihre Lebensweise „menschen- und fremdenfeindlich“ sei, doch entschuldigte er es noch mit den bösen Erfahrungen, die die Juden selbst als Fremde in Ägypten gemacht haben. Sonst ist seine Charakteristik der Juden durchaus positiv. Aber schon im Laufe des 3. Jhs. v. Chr. bot der ägyptische Priester Manetho ein äußerst entstelltes und polemisches Bild von den Juden in Ägypten, die nicht von Gott aus Ägypten befreit, sondern von den Ägyptern als Landplage vertrieben worden seien. Dieses polemische Bild wurde in der Zukunft noch weiter vergröbert. Selbst das Schilfmeerwunder wurde in einen Untergang der Juden umgewandelt. Es ist auffällig, daß sich Tacitus im 5. Buch seiner Historien bei der Schilderung des Judentums der antijüdischen alexandrinischen Pamphletliteratur bediente und die Septuaginta und das Werk des Josephus Flavius außer acht ließ. Offenbar teilte er die antijüdischen Vorurteile seiner Zeit.
Der antike Mensch konnte nicht verstehen, daß der Gott Israels, von dem kein Standbild Zeugnis ablegt, größer und erhabener sein sollte als seine Götter aus Gold und Marmor. Der nicht in Bild und Form darstellbare Gott war ihm unbegreiflich, und daher meinte er, daß die Juden wohl guten Grund hätten, ihren Gott vor den Fremden zu verbergen. Nach dem alexandrinischen antijüdischen Polemiker aus der ersten Hälfte des 1. Jhs. n. Chr., Apion (Josephus Flavius, Contra Apionem 7, 9), wurde der Gott Israels im Tempel zu Jerusalem in Gestalt eines goldenen Eselskopfes verehrt. Obwohl die griechische Bibelübersetzung der Septuaginta jedermann zur Hand sein konnte, der sie lesen wollte, nannte doch der Dichter Juvenal an der bereits zitierten Stelle das Gesetz des Moses ein ‚arcanum volumen‘, ein Buch nur für die Eingeweihten. Die religiöse Moral des Judentums, die es verbot, durch Aussetzung von Neugeborenen eine Geburtenregelung vorzunehmen, wurde von Tacitus so verstanden, daß letztendlich die Juden die übrige Bevölkerung majorisieren wollten, um sie zu beherrschen (Hist 5,5). Die berüchtigten ‚Protokolle der Weisen von Zion‘ hätten also schon in der Antike ihre Anhänger gefunden. Selbst das Ritualmordmärchen war keine Erfindung erst des Mittelalters. Schon der obengenannte Apion (Contra Apionem 2, 7) erfand dieses Motiv: König Antiochos IV. hätte bei der Plünderung des Jerusalemer Tempels dort einen gefangengehaltenen und mit den köstlichsten Speisen gemästeten Griechen gefunden. Dieser erzählte ihm, daß er unterwegs überfallen und in diesen Tempel gebracht worden wäre. Es gäbe nämlich „ein geheimes Gesetz der Juden, dem zuliebe er ernährt werde, und sie täten das jedes Jahr zu einer bestimmten Zeit. Sie fingen nämlich einen fremden Griechen, mästeten ihn ein Jahr lang, führten ihn dann in einen gewissen Wald, schlachteten ihn, opferten seinen Leib unter althergebrachten feierlichen Zeremonien, genössen etwas von seinen Eingeweiden und schwüren bei der Opferung des Griechen einen Eid, dessen Landsleute zu hassen.“ Hinter all diesen Angriffen steht natürlich das Unverständnis für die Absonderung der Juden vom heidnischen Gesellschaftsleben mitsamt seiner Götterverehrung. Dieses Unverständnis schlug bald in Haß um, so daß man die Juden desselben Gefühls bezichtigte, das man gegen sie hegte.
Wenn auch die römische Verwaltung daran interessiert war, Konflikte mit den Juden immer nur als lokale Phänomene zu verstehen und sie nicht auf das ganze Reich überborden zu lassen, so hatte dennoch der Konflikt zwischen Juden und Heiden in Alexandria und Ägypten mehr als nur lokalen Charakter, war doch Alexandria mit etwa einer Million jüdischen Einwohnern die größte und bedeutendste jüdische Gemeinde bis zum Beginn des 2. Jhs. n. Chr. Ein Erlaß des Kaisers Augustus, der von Josephus Flavius, Ant 14,10,1 irrtümlich dem Caesar zugeschrieben wurde, bestätigte die Rechte der jüdischen Gemeinde von Alexandria. Demzufolge waren die Juden den alexandrinischen Bürgern gleichgestellt. Das war aber ein ständiger Zankapfel zwischen den Juden und ihren griechischen Mitbürgern. Unter Caligula (37–41), der dem Caesarenwahn verfallen war, stellten die alexandrinischen Heiden Kaiserstatuen in den Synagogen auf. Die Entfernung derselben mußte als Verletzung der Würde des Kaisers gelten. In dieser Situation schickten die alexandrinischen Juden unter Führung des Philosophen Philo eine Abordnung nach Rom, worüber dieser in seiner ‚Legatio ad Gaium‘ berichtete. Eine Wende brachte aber der rasche Tod des Kaisers Gajus Caligula im Jahre 41 n. Chr. Sein Nachfolger Claudius (41–54) versuchte dadurch Ordnung zu schaffen, daß er einerseits die heidnischen Griechen aufforderte, die Juden nicht zu stören und zu belästigen, den Juden aber nur den Status von Fremden in der Stadt zuerkannte. Somit waren die alexandrinischen Juden endgültig um die Hoffnung ärmer geworden, als gleichwertige Partner der Griechen anerkannt zu werden.
Der Aufstand 66–70 ging auch an den ägyptischen Juden nicht ohne Wirkung vorbei. Nach einer...