1. Mythos Italien – Mythos Verdi
Vom 18. Oktober 1860 bis Ende März 1861, in jener aufregenden Zeit, als unter Vittorio Emanuele II. das «Königreich Italien» entstand, herrschte Aufruhr auch in Berlin. Im Victoria-Theater trat eine italienische Operntruppe mit internationalen Stars auf: Désirée Artôt als Primadonna und Enrico Delle Sedie als Bariton. Endlos dichte Wagenkolonnen, darunter vornehme Equipagen des Hofes, auch Fußgänger hätten sich – so der namhafte Feuilletonist Ludwig Pietsch in seinen Memoiren – in eisigem «Sumpf aus Schnee und Schlamm» in den «Berliner Orient», gemeint war die Münzstraße, begeben, um dabei zu sein. Man habe sich um Karten gerissen, unerhörte Preise bezahlt und sich an Aufführungen italienischer Opern berauscht. «Italianissimi» habe man in der Montagpost jene Menschen genannt, deren Begeisterung auch nach Monaten nicht nachließ oder gar erlosch. Pietsch behauptet, der Beifall zwar nicht der «konservativen hoffähigen Gesellschaftskreise», doch jener «der gebildeten liberalen mittleren Schichten» habe stets dem «kühne(n) und kluge(n) Vorgehen Cavours» und der durch ihn herbeigeführten «Auferstehung Italiens» mit gegolten. Wenn es denn so war – in der Hofoper Unter den Linden gastierte von Oktober bis Dezember 1860 ebenfalls eine italienische Truppe mit Opern Rossinis, Bellinis, Donizettis und Verdis und Stars wie der legendären Adelina Patti –, dann war der Beifall ungeteilt. Hielt man Verdis seinerzeit in Berlin aufgeführten Opern – Ernani, Rigoletto, Il trovatore und La traviata – für italienischer als italienisch? Darüber wird nirgendwo berichtet. Und von einer Art Volksgeist, der in Verdis Opern walte, sprach man ohnehin nicht. Man genoss Opernwerke und Interpreten, die zu dieser Zeit zwar schon die Welt, Berlin allerdings noch nicht gehört hatte, zumindest nicht in dieser Fülle und Qualität. Giacomo Meyerbeer, preußischer Generalmusikdirektor und Hofkapellmeister, ließ die Sängerinnen und Sänger der am Victoria-Theater gastierenden Truppe auf Wunsch Königin Augustas in einem Hofkonzert auftreten, wobei er sie alle am Klavier begleitete (Tagebucheintrag vom 22. März 1861, Giacomo Meyerbeer. Briefwechsel und Tagebücher, Bd. 8). Verdis Opern waren in Deutschland überall dort gut aufzuführen, wo sich ein kunstsinniges und wohlhabendes Publikum aufhielt, zum Beispiel in Baden-Baden. In der Kursaison gastierten dort international renommierte Sängerinnen und Sänger, die Verdis Opern wenig später am Pariser Théâtre-Italien oder auf anderen europäischen Bühnen von Rang vorstellten.
Und Verdi? Verdi unterschrieb im November 1860 zusammen mit Ricordi und anderen Verlegern eine ministerielle Eingabe zur Verbesserung des Urheberrechts, ließ sich von Cavour mühsam dazu überreden, Abgeordneter des ersten italienischen Parlaments zu werden, und erhielt im Dezember 1860 über den Tenor Enrico Tamberlick vom Bolschoi-Theater in St. Petersburg einen frappierend lukrativ honorierten Opernauftrag. Seine Pflichten als Deputierter nahm er nur selten wahr. Das Parlament habe damals statt 450 nur 449 Abgeordnete gehabt, da einer nicht existent war, schrieb Verdi seinem alten Freund Piave im Februar 1865 und meinte niemand anderen als sich selbst.
Nachdem mit La forza del destino das neue Projekt feststand, nahm Verdi im Mai 1861 den Petersburger Vertrag an und war seit November 1861 für nahezu zweieinhalb Jahre erst einmal auf Reisen. Schon im August 1861 stand fest, dass er als Repräsentant Italiens anlässlich der Eröffnungsfeier der Londoner Weltausstellung am 1. Mai 1862 eine Chorkomposition in englischer Sprache komponieren werde. Zwei Wochen vor der geplanten Premiere legte er überraschend eine Kantate für Chor und Tenorsolo in italienischer Sprache vor (Inno delle nazioni), die abgelehnt wurde. Die Hymne enthielt ein die Komposition dominierendes Solo für Tamberlick, bei dem sich Verdi möglicherweise für die Vermittlung des lukrativen Petersburger Auftrags erkenntlich zeigen wollte. Dieses Solo – das Orchester umfasste 398, der Chor 2200 Personen – wäre, so die Begründung, in dem alle Dimensionen sprengenden Raum des 6,5 Hektar überdeckenden Ausstellungsgebäudes nicht zu hören gewesen. Aufgrund Verdis eigenwilliger Auffassung von Vertragserfüllung war Italien – soeben als Nation aus der Taufe gehoben – auf der akribisch geplanten Eröffnungsfeier neben England, Frankreich und Deutschland mithin nicht vertreten. Das wurde allgemein bedauert. Verdis Hymne erklang erst drei Wochen später im Her Majesty’s Theatre mit dem umjubelten Star des Theaters als Solistin: der Sopranistin Therese Tietjens.
Wie passt eine solch ambivalente Künstlerexistenz – Anreisebedingung nach St. Petersburg war unter anderem ausreichende Bereitstellung von Champagner und erstklassigem Bordeaux – zum Bild des bescheidenen «Bauern von Roncole», das Verdi im vorgerückten Alter so gern von sich imaginierte? Wie kam es, dass Verdi zu einem politisch wie künstlerisch aktiven Bürger im Dienste der italienischen Einigung, des Risorgimento, stilisiert wurde? Die Selbstdarstellung als «Bauer von Roncole» – Verdi war in Wirklichkeit schwerreich, Großgrundbesitzer mit entsprechendem Habitus und Lebensstil – lässt sich reibungslos mit Künstlermythen des 19. Jahrhunderts verbinden: gottähnlich entrückt, auf jeden Fall einsam entsteht das Meisterwerk des Genies aus einem Mix von Urkraft und Spontaneingebung. Verdi inszenierte sich mithin erwartungskonform, wenn er sich als Bauer aus angeblich armen Verhältnissen darstellte und über alle Tatsachen hinweg die Entstehung des Nabucco als blitzartigen Einfall bei der Lektüre des Textes zum später berühmten Chor «Va pensiero» fantasievoll erfand. Er verfasste seine autobiographische Skizze am 19. Oktober 1879 für seinen Verleger Ricordi. Verbreitet wurde sie im von «Folchetto» (Jacopo Caponi) besorgten Anhang zum 6. Kapitel in Arthur Pougins Buch Giuseppe Verdi. Vita aneddotica, das 1881 bei Ricordi erschien. Pougin hatte seine anekdotische Biographie erstmals 1877/78 in der Zeitschrift Le Ménestrel in 18 Folgen unter dem Titel Verdi. Souvenirs anecdotiques publiziert. In diesem Text nun kommen derartige Mythen nicht vor, wird zum Beispiel die Entstehung des Nabucco ganz sachlich dargestellt. Als Pougins Text zur italienischen Publikation vorlag, erwies er sich für die Zwecke Ricordis offenbar als zu nüchtern und ergänzungsbedürftig. Verdi sorgte umgehend für die gewünschte Ausschmückung seiner beginnenden Karriere. Der Topik von Künstlerbiographien konsequent folgend, erweckte er den Eindruck, er habe sein Werk widrigen Schicksalsschlägen abgetrotzt. So behauptete er zum Beispiel, während der Entstehung seiner komischen Oper Un giono di regno seien innerhalb von zwei Monaten seine beiden Kinder und seine Frau verstorben. Pougin verknüpfte 1878 völlig korrekt allein den Tod der Frau mit der Entstehung des Un giorno di regno. Der Tod der Kinder lag ein Dreivierteljahr beziehungsweise knapp zwei Jahre zurück. Warum inszenierten Verdi und sein Verlag solche Homestorys? Mitten im Jahr 1879 fiel der Entschluss, Otello zu komponieren. Ricordi war damals zunehmend darum bemüht, Verdi und seine Opern professionell zu vermarkten. Verdi reiste nun viel umher und verlieh Aufführungen vor allem seiner aktuellen Werke Glanz und Attraktion, indem er Proben selbst leitete und auch dirigierte. Eine Künstlerbiographie aus Schlüssellochperspektive war damals – nicht anders als heute – der Stoff, aus dem die Begleitmusik dazu entstand.
In Verdis frühen und mittleren Opern gibt es durchaus Passagen, die seinerzeit vor dem Hintergrund der italienischen Einigungsbewegung als Appell zu patriotischem Kampf verstanden werden konnten. Zu denken ist etwa an Ezios heroisch aufgipfelnde Phrase «Avrai tu l’universo, resti l’Italia a me»/«Du wirst das Universum haben, mir bleibe Italien» im ersten Satz des Duetts Ezio/Attila (Prolog, Szene 5) in Attila. Die Oper La battaglia di Legnano vertonte Verdi ausdrücklich des patriotischen Stoffes wegen. Dass Opernkomponisten politische Aufbruchstimmungen zu stimulieren wussten, war allerdings nicht neu: Die militärisch anmutende Cabaletta «Suoni la tromba, e intrepido» aus dem Finalduett des 2. Akts aus Bellinis 1835 in Paris uraufgeführter Oper I puritani – in Italien äußerst populär – soll während der italienischen Einigungsbewegung mit identischem Text zum Kampfchor mutiert sein: «Wenn Schlachttrompeten tönen,/Eil’ ich zum blut’gen Streite!/Mutig dem Tod entgegen/Für Freiheit und Vaterland!» Für die in diesem Zusammenhang stets erwähnten Ausrufe «Viva V.E.R.D.I», die das Akronym «Vittorio Emanuele Re D’Italia» transportieren und anlässlich der Premiere des Ballo in maschera 1859 in Rom erklungen sein sollen, wo sie angeblich dem savoyischen König Vittorio Emanuele als...