Migration und Integration – Eine kritische Einführung
Birgit Theresa Koch
»Die Herausforderung besteht darin, das über Jahrtausende eines Lebens in kleinen, lokalen Gruppen geformte Denken und Fühlen mit Ideen und Institutionen auszustatten, die uns ein Zusammenleben in dem globalen Stamm erlauben, zu dem wir geworden sind.«
Kwame Anthony Appiah (2007)
Weltweit befinden sich mehr als 65 Millionen Menschen auf der Flucht. Nur ein Bruchteil kommt nach Europa. Es sind vor allem junge Menschen, die sich auf den weiten Weg in die reichen Länder Europas machen: 2016 waren laut Mediendienst Integration1 73 % der deutschen Asylbewerber unter 30 Jahren alt. 36 % waren Minderjährige, die entweder alleine oder mit ihren Eltern nach Deutschland gekommen sind. Ein Drittel aller Schutzsuchenden waren Frauen und Mädchen. Bei den unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen (UMF), die in der Regel von den Jugendämtern in Obhut genommen werden, ist der Jungenanteil mit ca. 80 % am höchsten. Sie kommen zurzeit vor allem aus Syrien, Afghanistan, aus dem Iran, dem Irak und aus Eritrea.
Obwohl die Versorgung und Unterstützung unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge wie auch die von Kindern in Flüchtlingsfamilien kein Neuland war, stellte die plötzliche massenhafte Zuwanderung von (jungen) Geflüchteten eine große Herausforderung dar – mit einer Reihe positiver Auswirkungen. Sie mobilisierte nicht nur Professionelle aus psychosozialen und pädagogischen Handlungsfeldern und förderte damit die Entwicklung vieler neuer Projekte, sie brachte auch Menschlichkeit und ehrenamtliches Engagement in nicht geahntem Ausmaß in der deutschsprachigen Bevölkerung hervor. Das belebte den Diskurs über Migration, Einwanderung und globale Verantwortung und machte deutlich, dass es nicht nur um die Versorgung und sogenannte Integration der Geflüchteten, sondern auch um Veränderungen, Anpassungen und Integrationsleistungen der Mehrheitsbevölkerung gehen muss, damit gesellschaftliches Zusammenleben gelingen kann.
In psychosozialen und pädagogischen Handlungsfeldern stellten sich viele Fragen, auf die die Autoren und die Herausgeberin in diesem Sammelband nach Antworten gesucht haben:
• Was brauchen junge zwangsmigrierte Menschen aus Kriegsund Krisengebieten, die mit intensiven Gewalt- und Verlusterfahrungen konfrontiert waren?
• Wie können integrationsfördernde institutionelle Kooperationsstrukturen aufgebaut werden?
• Welche Anforderungen sind an kultursensible Organisationen in pädagogischen und psychosozialen Handlungsfeldern zu stellen?
• Welche Projekte und Hilfen haben sich bewährt, welche neuen müssen erfunden werden?
• Wie kann die Bevölkerung einbezogen und z. B. durch Patenschaften gut vorbereitet werden, damit Zusammenleben gelingen kann?
• Welche Kompetenzen und sozialen Ressourcen braucht es, damit jungen Flüchtlingen (und ihren Familien) eine dauerhafte Perspektive und Heimat geboten werden kann?
• Und nicht zuletzt: Welche Lehren ziehen wir aus der Vergangenheit, die in Deutschland wie im übrigen Europa eine von Einwanderung und Auswanderung, aber auch von Ressentiments gegenüber Fremden geprägte Geschichte ist?
Bevor wir uns den psychosozialen oder pädagogischen Themen und Fragen zuwenden, die sich in der Arbeit mit jungen Geflüchteten stellen, möchte ich Sie zu einem kurzen, in diesem Rahmen natürlich nur ausschnitthaft möglichen Rückblick in die Geschichte der (deutschen) Migration einladen wie auch zu einer Betrachtung der aktuellen und leider oft von Rassismen durchsetzten Diskurse zum Thema »Integration«. Psychosoziales Handeln findet nicht in einem luftleeren Raum statt, sondern wird von Kontexten und historischen Erzählungen, die für bestimmte Zeiten leitend sind, stark beeinflusst. So kann es für Professionelle in der Arbeit mit jungen Geflüchteten handlungsrelevant und manchmal auch richtungweisend sein, ein Bewusstsein für die gesellschaftlichen und politischen Themen im Hintergrund zu gewinnen.
Auf Heimatsuche – ein kurzer Blick in die Geschichte
Schauen wir uns Märchen wie Hänsel und Gretel oder die Bremer Stadtmusikanten einmal genauer an oder hören wir bei Liedern wie Hänschen klein ging allein in die weite Welt hinein aufmerksam hin, merken wir, dass sich dahinter Migrationsgeschichten und schmerzhafte Erfahrungen junger Menschen verbergen, die von ihren Eltern nicht mehr ernährt werden konnten und wegen mangelhafter Überlebenschancen in die Ferne und in fremde Länder zogen.
»Tatsächlich verließ die Mehrzahl realer Migranten ihren wenig zufriedenstellenden Geburtsort in jugendlichem Alter«,
stellt der Historiker Dirk Hoerder (2010, S. 26) in seinem Buch über die Geschichte der deutschen Migration fest. Dabei waren die Aus- und Einwanderungsgründe in der Regel nicht selbst gewählt, sondern die Folge ökonomischer oder politischer Zwänge bzw. von Religionskriegen, Hungersnöten und Vertreibungen, die den Menschen im Herkunftsland kein Auskommen und keine Zukunft ermöglichten. Hugenotten, Juden, Türken und viele andere sind in deutschsprachige Gebiete eingewandert, deutschsprachige Menschen sind in alle Welt ausgewandert. Über Jahrhunderte hinweg kam es in ganz Europa immer wieder zu Wanderungsbewegungen, die zum Teil auch durch Anwerbungen (z. B. Besiedelung von Ostpreußen) forciert und gesteuert wurden. Schon um 1600 bestand die Bevölkerung von Frankfurt am Main zu 40 % aus Zugewanderten – protestantischen Flüchtlingen aus den Niederlanden, Juden, Wandergesellen u. a. –, die zum Wohlstand der Stadt beitrugen (ebd., S. 46). Bis heute hat sich daran wenig geändert, jeder zweite Einwohner Frankfurts hatte 2016 einen Migrationshintergrund.2 Zum Vergleich hierzu:
»Im Wien des 18. und 19. Jahrhunderts waren mehr als drei Viertel der Handwerksgesellen Zuwanderer« (ebd., S. 54).
Migration war normal und wurde in Europa noch nicht durch nationalistisches Denken und nationalstaatliches Handeln eingeschränkt.
Im 19. Jahrhundert kam es infolge von Hungerkatastrophen im Deutschen Reich zu Massenauswanderungen, die mehr als 4 Millionen Menschen umfasste. Viele dieser Auswanderer suchten neue Lebens- und Arbeitsmöglichkeiten in den USA; aber auch Südamerika, Australien, Neuseeland und Kanada waren beliebte Einwandererstaaten. Edgar Reitz machte in seinem Film Die andere Heimat. Chronik einer Sehnsucht (2013) auf diese Auswanderungszeit und die damit verbundenen Hoffnungen für junge Menschen aufmerksam. Im heutigen Deutschland werden Menschen mit vergleichbarer ökonomischer Flucht- und Einwanderungsmotivation gerne abwertend als Wirtschaftsflüchtlinge bezeichnet, die unsere Asylgesetze ausnutzen.
Die massive Auswanderung aus Deutschland, die infolge der beiden Weltkriege und nationalsozialistischer Herrschaft noch forciert wurde, fand erst in den 1950er-Jahren mit dem Wiederaufbau ein Ende. Deutsche Arbeitskräfte reichten nicht aus, um das Land wiederaufzubauen, staatlicherseits wurden in den Folgejahren Arbeitskräfte aus Südeuropa, der Türkei und Nordafrika angeworben, insgesamt kamen 14 Millionen Männer und Frauen, von denen ca. 3 Millionen geblieben sind (Hoerder 2010). So wurden aus »Gastarbeitern« Einwanderer in einem Zuwanderungsland, das sich bis heute nicht als Einwanderungsland sehen will. Während viele Staaten ihre Einwanderungsgesetze faktisch oder per Gesetz lockerten, z. B. durch die Ermöglichung doppelter Staatsbürgerschaften, will Deutschland noch lange nicht auf die Homogenität seiner Gesellschaft verzichten, die es von der Zugehörigkeit zur deutschen Nation abhängig macht (Hess und Moser 2009). Problemlos deutsch hingegen werden laut Gesetzeslage die Nachfahren der zwischen dem 17. und 19. Jahrhundert ausgewanderten Volksdeutschen in den Ostsiedlungen, deren Nachfahren nach dem Zweiten Weltkrieg als Vertriebene, Flüchtlinge, Aussiedler und bis heute Spätaussiedler – insgesamt mehr als 15 Millionen – nach Deutschland einwanderten. Auch sie sind Migranten, die sich mit ihren unterschiedlichen Lebensweisen, Sprachen, Religionen, Kopftüchern und sonstigen Gebräuchen sehr von der Aufnahmegesellschaft unterscheiden.
Erst 2014 wurde ein Gesetz verabschiedet, das in Deutschland geborenen Kindern und Enkelkindern von Migranten aus Ländern außerhalb der EU, die meisten von ihnen aus türkischen »Gastarbeiterfamilien«, uneingeschränkt die deutsche oder, je nach Fall, auch die doppelte Staatsangehörigkeit erlaubt. Eine restriktive Ausländerpolitik erschwerte lange Zeit die Eingliederungsbemühungen der türkischmuslimischen Bevölkerung in Deutschland, und die zunehmende Problematisierung des Islam unterstützte einen Prozess, der viele junge Menschen aus muslimischen Familien nicht in der Mitte der Gesellschaft ankommen ließ. Dies wiederum begünstigte die Konstruktion »sich abschottender,...