1Schädlicher Gebrauch und Abhängigkeit von Alkohol
1.1Vorbemerkungen
Diagnosen stellen in einem systemischen Verständnis sprachliche Bedeutungsverdichtungen als Ergebnis systematisierter Beobachtungsprozesse dar, die von einer autorisierten Personengruppe nach definierten, als allgemeingültig erklärten fachlichen Richtlinien durchgeführt wurden.
Ist eine Diagnose in diesem Sinne »gestellt«, wird sie in der Regel kommuniziert und dadurch als »Realität« gehandelt. Damit ist zumeist eine Vergegenständlichung bzw. Verdinglichung des diagnostisch beschriebenen Krankheitsbildes verbunden, dem implizit ein linear-kausaler Erklärungswert zugeschrieben wird: Herr Meier verhält sich so, weil er alkoholabhängig ist.
Diagnosen werden in klinischen Systemen aufgrund von Beobachtungen gestellt, die in diagnostischen Gesprächen bzw. in der Interaktion mit den Patienten erfolgen. Die für diagnostische Beobachtungen relevanten Informationen werden über kommunikative Prozesse gewonnen. Dabei ist der »Diagnostiker« immer Teil der Interaktion, steht mit dem Patienten, den er beurteilen will, in einer Wechselwirkung und kann daher nicht vom Objekt der Beobachtung getrennt werden. Jede Aktion eines Beobachters wirkt sich zwangsläufig auf das Beobachtungsobjekt aus. Jede Reaktion des Beobachtungsobjektes erfolgt in Abhängigkeit vom Beobachterverhalten – es entwickeln sich »Rückkopplungskreise« (Watzlawick, Beavin u. Jackson 1990).
Diagnostische Prozesse unterliegen einer entscheidenden Restriktion, wenn es um sogenanntes süchtiges Verhalten geht: Wahrnehmungen, Beschreibungen und Bezeichnungen können lediglich auf die Informationen bezogen werden, welche die Patienten selbst über sich kommunizieren. Die Symptomatik an sich bleibt unsichtbar und verborgen. Kein Therapeut war anwesend, wenn die Patienten Alkohol getrunken haben. Insofern gründen sich Diagnosen, speziell im Suchtbereich, nie auf direkte Beobachtungen vom sogenannten süchtigen Verhalten, sondern immer nur auf Aussagen von Patienten über eigenes zurückliegendes Verhalten. Therapeuten können also nur Rückschlüsse ziehen und sind abhängig von der Bereitschaft ihrer Patienten, offen über ihre vergangenen Erfahrungen zu erzählen. Diese Bereitschaft wiederum wird beeinflusst davon, wie die Beziehungs- und Interaktionsgestaltung zum Therapeuten wahrgenommen und erlebt wird.
Diagnosen, als in diesem Verständnis aktiv konstruierte Ergebnisse von Beobachtungsprozessen, haben die Funktion, kommuniziert zu werden. Adressaten solcher diagnosebezogener Kommunikation können sich im selben klinischen Setting finden, wie z. B. Kollegen, Vorgesetzte, oder außerhalb, als kooperierende Personen (Haus- oder Fachärzte), Institutionen (Beratungsstellen oder Kliniken), Krankenkassen, Rentenversicherungen und sonstige Kostenträger. Ist die Diagnoseerstellung bereits das Treffen einer Unterscheidung, so liefert die Kommunikation darüber eine Einladung an den Adressaten, sich der Unterschiedsbildung konsensuell anzukoppeln. Sobald eine Diagnose in einem entsprechenden System benannt ist, wird eine neue Wirklichkeitskonstruktion kreiert. Diagnosen, insbesondere Suchtdiagnosen, können erhebliche Konsequenzen und Auswirkungen mit sich bringen: Sie können brandmarken, ein »Eigenleben« entwickeln, zum Selbstzweck werden, Gegenstand juristischer Auseinandersetzungen, den vorgezogenen Renteneintritt ermöglichen u. v. m.
Obwohl also aus einer systemischen Perspektive viele und gute Gründe für eine kritische Haltung gegenüber einer herkömmlichen Diagnostik angeführt werden können, spielt sie dennoch eine wichtige Rolle im Kontext der krankenkassen- und rentenversicherungsorientierten Versorgung. Die »passende« Diagnose ist die Eintrittskarte für einen institutionellen Rahmen und dessen Finanzierung, der professionelle Unterstützung zur Behandlung einer psychischen Problematik ermöglicht. Wenn in fachlich definierten Kontexten Diagnosen gestellt und in einer vereinheitlichten Sprache kommuniziert werden, dient dies der Komplexitätsreduktion, indem einem Beobachtungskonstrukt eine bestimmte Bedeutung in Form eines Musters zugeschrieben wird. Ohne diese Komplexitätsreduktion wäre eine patientenbezogene fachliche Kommunikation aus ökonomischen Gründen nicht realisierbar. Ludewig (1999) führt zudem als Argument für eine »systemische Annäherung« in Form einer »Überlebensdiagnostik« an, dass mit den Kategorisierungen der herkömmlichen Diagnostik spezifisches »Störungswissen« in Form von Theorien, Modellen und Interventionen sowie klinisch relevantes Erfahrungswissen verbunden ist. Beides kann für Indikationsstellungen und Auswahl von passenden Behandlungsmethoden durchaus hilfreich sein. Diagnostik und der Umgang mit Diagnosen kann daher kontextbezogen sinnvoll und zum Nutzen des Patienten sein. Unverzichtbar ist dazu eine permanente (selbst-) kritische Reflexion, die berücksichtigt, dass stets von subjektiven Wirklichkeitskonstruktionen und nicht von objektiven Gegebenheiten auszugehen ist. Diese subjektiven Konstrukte können immer neu verhandelt werden. Im Folgenden werden »schädlicher Gebrauch« und »Abhängigkeit« von Alkohol im Sinne des gängigen Diagnosemanuals ICD-10 dargestellt.
1.2Diagnosen nach ICD-10
Im deutschen Gesundheits- und Rehabilitationswesen findet das ICD-10 (Dilling, Mombour u. Schmidt 2000), das Klassifikationssystem der WHO, als das maßgebliche Klassifikationssystem Verwendung und wird auch der Berichterstattung an die jeweiligen Kostenträger (z. B. Deutsche Rentenversicherung, Krankenkassen, Bundesknappschaft, medizinische Ansprechpartner) zugrunde gelegt. In Kapitel V des ICD-10 werden in den Kategorien F00–F99 die »Psychischen und Verhaltensstörungen« aufgelistet, die Suchterkrankungen im engeren Sinne dabei als »Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen« in den Kategorien F10–F19. Die dritte Stelle bezeichnet dabei die »verursachende Substanz« (0 für Alkohol), die vierte bis sechste Stelle das jeweilige klinische Erscheinungsbild (F10.0 akuter Rausch, F10.1 schädlicher Gebrauch, F10.2 Abhängigkeitssyndrom, F10.3 Entzugssyndrom, F10.4 Entzugssyndrom mit Delir, F10.5 psychotische Störung, F10.6 amnestisches Syndrom, F10.7 Restzustand und verzögert auftretende psychotische Störung).1
Für die Zuschreibung eines »schädlichen Gebrauchs« (F10.1) muss Alkohol in einer Weise konsumiert worden sein, die zu Gesundheitsschädigungen geführt hat. Diese können in körperlichen Folgeerscheinungen oder in psychischen Symptomen (z. B. depressive Episode nach massivem Alkoholkonsum) bestehen. In den dazugehörigen diagnostischen Kriterien wird verlangt, dass deutlich nachzuweisen ist, dass der Alkoholkonsum für die Folgeschäden und negativen Konsequenzen verantwortlich ist. Die »Schädigung« muss klar benannt werden können und das verursachende Konsummuster muss mindestens seit einem Monat oder wiederholt in einer Zeitspanne von 12 Monaten aufgetreten sein. (Dilling, Mombour u. Schmidt 2000).
Das »Abhängigkeitssyndrom« (F10.2) dagegen wird anhand folgender Kriterien diagnostiziert:
–Ein starkes Verlangen oder eine Art Zwang, Alkohol zu konsumieren.
–Verminderte Kontrolle über den Alkoholgebrauch, d. h. über Beginn, Beendigung oder die Menge des Konsums, deutlich daran, dass oft mehr Alkohol oder über einen längeren Zeitraum konsumiert wird als geplant, oder an dem anhaltenden Wunsch oder an erfolglosen Versuchen, den Alkoholgebrauch zu verringern oder zu kontrollieren.
–Ein körperliches Entzugssyndrom, wenn die Alkoholzufuhr reduziert oder abgesetzt wird, mit den alkoholtypischen Entzugssymptomen oder auch nachweisbar durch den Gebrauch von Alkohol oder einer sehr ähnlichen Substanz, um Entzugssymptome zu mildern oder zu vermeiden.
–Toleranzentwicklung gegenüber den Wirkungen des Alkohols. Für eine Intoxikation oder um den gewünschten Effekt zu erreichen, müssen größere Mengen Alkohol konsumiert werden, oder es treten bei fortgesetztem Konsum der gleichen Menge deutlich geringere Effekte auf.
–Einengung auf den Alkoholgebrauch, deutlich an der Aufgabe oder Vernachlässigung anderer wichtiger Vergnügen oder Interessenbereiche wegen des Alkoholgebrauchs, oder es wird viel Zeit darauf verwandt, Alkohol zu bekommen, zu konsumieren oder sich davon zu erholen.
–Anhaltender Alkoholkonsum trotz eindeutig schädlicher Folgen, deutlich an dem fortgesetzten Gebrauch, obwohl der Betreffende sich über die Art und das Ausmaß des Schadens bewusst ist oder bewusst sein könnte.
Liegt bei erhöhtem Konsum bisher keine Schädigung vor, wird ein...