17I. Justiz als gesellschaftliches Über-Ich. Zur Funktion von Rechtsprechung in der »vaterlosen Gesellschaft«
Vor über 50 Jahren diagnostizierte Herbert Marcuse das »Veralten der Psychoanalyse«, genauer: das Veralten ihres Gegenstandes.[1] In der Familie wie in der Gesellschaft tritt die Bedeutung der Vaterfigur für die Konstitution des Ich und der »Massen« zurück. Nicht mehr bildet sich ein individuelles Gewissen in der Auseinandersetzung mit dem beherrschenden Vater, sondern unvermittelte gesellschaftliche Direktiven treten an seine Stelle. Die Gesellschaft wird immer weniger durch persönliche Herrschaft integriert, auf deren Träger noch ein klassisch gebildetes Über-Ich übertragen werden könnte. Beide Entwicklungen führen zu Verhältnissen, in denen Macht in dem Maße nicht mehr anschaulich und greifbar ist, wie gleichzeitig in der individuellen Sozialisation die Fähigkeit zur selbständigen Überprüfung gesellschaftlicher Gebote immer weniger ausgebildet wird. Dadurch befördert paradoxerweise die »vaterlose Gesellschaft«[2] den Infantilismus der Subjekte, denen auch noch das Bewußtsein ihrer Abhängigkeitsverhältnisse schwindet. Um so leichter können Individuen und Kollektive unmittelbar durch die Sachgesetzlichkeiten und Funktionsmechanismen der fortgeschrittenen Industriegesellschaft dirigiert und in Verwaltungsobjekte verwandelt werden.
Zu dieser Analyse Marcuses scheint auf den ersten Blick der Aufstieg der »Dritten Gewalt« seit dem 20. Jahrhundert im Gegensatz zu stehen, an der alle Züge der klassischen Vater-Imago erkennbar sind. Dabei handelt es sich nicht einfach um die objektive Funktionserweiterung der Justiz aufgrund der Ausdehnung ihrer Interpretationsmacht durch steigende Prozeßfreudigkeit und vor allem die Durchsetzung der verfassungsgerichtlichen Kontrolle 18der Gesetzgebung besonders nach dem Zweiten Weltkrieg.[3] Diese Entwicklung ist auch von einem Justizverständnis der Bevölkerung begleitet, das Züge einer religiösen Verehrung annimmt. Nur in wenigen Ländern können angesichts dieses Phänomens noch »linke« und »rechte« Positionen der Justizdiskussion identifiziert werden. Dazu gehört Finnland, wo der politische Willensbildungsprozeß (ebenso wie zum Beispiel in Großbritannien) bis heute ohne jede verfassungsgerichtliche Normenkontrolle auskommt. Hier forderten die Konservativen die Einführung einer solchen Funktion, während die Linke alle argumentativen Anstrengungen versammelte, eine solche Entwicklung zu verhindern. Die Bundesrepublik gehört bekanntlich nicht zu diesen seltenen Ländern. Jede Kritik der real existierenden Verfassungsgerichtsbarkeit zieht hierzulande den Verdacht auf sich, außerhalb von Demokratie und Rechtsstaat zu stehen – ein Verdacht, der sich auch innerhalb der »Linken« findet. Auch alle übrigen Justizfunktionen finden in der Bundesrepublik eine grundsätzliche Zustimmung, die weniger den Charakter einer nüchternen Einschätzung prinzipieller Freiheitssicherung durch eine weisungsunabhängige Justiz hat, sondern auf jene libidinösen Besetzungen verweist, die Marcuse zufolge zu entpersönlichten Funktionsträgern technokratischer Herrschaft nicht mehr bestehen.[4]
Die ausgeprägteste Wiederkehr der Vater-Imago scheint sich in der US‑amerikanischen Bewertung der Verfassungsgerichtsbarkeit abzuzeichnen. In den USA, die mit der Durchsetzung einer verfassungsgerichtlichen Gesetzesprüfung bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine Sonderentwicklung begründeten, indiziert die neuere Ausbildung einer ganzen Literaturgattung von Richterbiographien diese Wiederkehr. Aus der Retrospektive des 20. Jahrhunderts strukturiert sich die Rechtsprechung des Supreme Court nach der Abfolge großer Richterpersönlichkeiten, die Verfassungsgeschich19te machten.[5] Die obersten Richter erscheinen als »Prophets«, als »Olympians of the Law«.[6] In den Darstellungen kommt mehr zum Ausdruck als der auch auf anderen Gebieten vordringende Trend zum Biographismus, der nur eine ohnmächtige Reaktion auf die Fungibilität der Persönlichkeit in einer von objektiven Mechanismen beherrschten Gesellschaft darstellt. Das Charakteristische dieser Richterbiographien scheint vielmehr in einer Vorstellung zu liegen, die wie eine justizstaatliche Reprise mittelalterlicher »Fürstenspiegel« anmutet, daß nämlich in der spezifischen Ausbildung der Richterpersönlichkeit eine Voraussetzung für vernünftige und gerechte Entscheidungen gegeben sei.
In der Rechtstheorie der Weimarer Zeit finden sich in den zahlreichen Begründungen eines richterlichen Prüfungsrechts gegenüber dem gerade demokratisierten Gesetzgeber genaue Pendants. Erich Kaufmann spricht für die damals konservative Fraktion dieser Diskussion insgesamt, wenn er befindet, daß »mit dem Wegfall der Monarchie unzweifelhaft ein wichtiges Einheitssymbol für das deutsche Volk verlorengegangen« sei, und als »Ersatz« die Grundrechte der neuen Verfassung – und deren richterliche Interpreten anbietet.[7] Der Aufstieg des »königlichen Richters«[8] wird über folgende Argumentationsschritte erreicht: Für das Verständnis der Grundrechte sei das rationalistische Naturrecht der Aufklärung überholt. Insbesondere der grundrechtliche Gleichheitssatz verweise auf einen Begriff von »Gerechtigkeit«, der »nicht bloß […] eine Methode für Diskussionen, […] sondern […] eine materiale Ordnung« impliziere.[9] Bis hierhin ist deutlich, daß ein diskutierendes Parlament – geschweige denn eine diskutierende Öffentlichkeit – auf keinen Fall als »Ersatz« für die kaiserliche Vaterfigur wird dienen können. Die vom Gleichheitssatz geforderte Gerechtigkeit ist vielmehr, Kaufmann zufolge, eine der Ethik wie dem »Rechts20gewissen« gleichermaßen vorgegebene höhere Ordnung, die sich in dem »reinen Gefäß« des gerechten Richters offenbart. Die durch »sittliche Erziehung« bewirkte »hervorragende Juristenpersönlichkeit« ist Indiz sogar für die reale Existenz einer gerechten Wertordnung, kurz: »Eine gerechte Entscheidung kann nur eine gerechte Persönlichkeit fällen.«[10] In diesem Fluchtweg aus der Komplexität einer Gesellschaft, in der objektive Werte gerade in Frage stehen, ist unschwer das klassische Muster der Über-Ich-Delegation zu erkennen. Die Entlastung von Diskussion und Prozedere in gesellschaftlichen und politischen Konsensbildungsprozessen, in denen überhaupt erst über soziale Normen und Wertvorstellungen befunden werden könnte, wird durch die Zentralisierung des gesellschaftlichen »Gewissens« in der Justiz erreicht.
Daß in den modernen Theorien richterlicher Entscheidungsfindung Rechtsprechung und Moralverwaltung einander angenähert werden, bestätigt sich auch in sehr viel anspruchsvolleren Konzepten aktueller Theoriebildung. Ronald Dworkin bringt die ganz und gar herrschende Meinung zum Ausdruck, daß Recht und Moral in der Rechtsprechung nicht getrennt werden können. Ihm zufolge sind moralische Gesichtspunkte und Prinzipien auch dann, wenn sie in Gesetzestexten keinen Anhaltspunkt finden, dem Rechtsbegriff unmittelbar immanent und haben die richterliche Entscheidungsarbeit von Anfang an zu steuern.[11] Daß eine solche Theorie wider ihre bessere Absicht geeignet ist, einen richterlichen Dezisionismus moralisch zu verschleiern, liegt generell an der sehr viel größeren Unbestimmtheit moralischer Gesichtspunkte im Gegensatz zu Rechtsnormen, aber auch an dem ungeklärten Verhältnis, in dem die Verbindung von Moral und Recht die empirischen Moralüberzeugungen einer Gesellschaft und die persönliche Moral des Richters zueinander stehen sollen. Unter der ausdrücklichen Voraussetzung, daß keiner anderen gesellschaftlichen Gruppe als der der Richter bessere Fähigkeiten der moralischen Argumentation zuzutrauen sind, glaubt Dworkin das angegebene Dilemma so lösen zu können, daß er des Richters eigenes Verständnis dessen, was der objektive Gehalt gesellschaftlicher Moral (»community morality«) sei, zum ausschlaggebenden 21Faktor der Rechtsauslegung macht.[12] Damit aber wird die »Moral«, die die Interpretation des Richters leiten soll, zum Produkt seiner Interpretation. Die Einbeziehung der Moral in das Recht immunisiert auf diese Weise die Rechtsprechung gegen jede Kritik. Sie hat immer einen durch...