Und plötzlich geht nichts mehr
Depression ist, die Welt wie durch einen Schleier wahrzunehmen. Alles verliert seine Bedeutung. Ich fühle mich seltsam unbeteiligt. Dinge, die mir früher Spaß gemacht haben, stoßen auf gleichgültiges Desinteresse. Der therapeutische Rat, mir etwas Gutes zu tun, klingt wie Hohn. Ich weiß nicht mehr, wie das geht. Und es greift auch nicht mehr, hat seine positive Wirkung verloren. Mein ganzes Ich ist mit Blei gefüllt. Ich bin innerlich gelähmt. Die Gefühle haben sich in die hinterste Ecke meiner Seele zurückgezogen. Ich bin nicht traurig. Ich weine auch nicht. Ich fühle einfach gar nichts. Depression ist ein Nicht-Gefühl.
„Wie fühlst du dich?“ fragt meine Therapeutin. „Kann ich den Telefonjoker nutzen?“ frage ich zurück. Wenn ich wütend oder traurig werde, weiß ich, dass es besser wird. Es geht mir zwar nicht gut, aber ich fühle mich wieder. Bis es um Lebensfreude geht. „Heute betrachten wir die vier Grundgefühle. Zu jedem nehmen Sie bitte eine Ihnen entsprechende Körperhaltung ein. Spüren Sie in die Gefühle hinein.“ Klinikalltag. Angst – ich ziehe die Schultern hoch, stelle das Atmen ein und verkrampfe mich. Wut – ich balle die Fäuste, presse die Kiefer zusammen und renne durch den Raum. Trauer – ich lasse Schultern und Kopf hängen und schleiche umher. Freude – nichts. Alles um mich herum fängt an zu hüpfen und zu lachen. Und ich zucke hilflos mit den Schultern. Da war doch was... Ach Mist, ich bin wohl doch depressiv! Die darauffolgenden Tage füllen sich wieder mit innerer Leere.
Der Beginn einer depressiven Episode fühlt sich an wie Fallen. Ins Nichts. Das emotionale Chaos im Innern verdichtet sich und implodiert. Zurück bleibt ein schwarzes Loch, das alles in sich aufsaugt. Ich bin nur noch müde, kann aber weder schlafen noch entspannen. Alles wird unglaublich anstrengend. Staubsaugen wird zu Sahara kehren. Entscheidungen ziehen sich zähflüssig hin. Die Aufgaben des Alltags wirken wie eine drohende Lawine. Ich komme mir vor wie ein Bergsteiger im Himalaya. Ohne Ausrüstung und Sauerstoffgerät. An schlimmen Tagen sitze ich in eine Decke gehüllt auf dem Sofa und starre den Couchtisch an. Den ich gar nicht sehe. Und ich atme. Wenn auch flach und unregelmäßig. Aber atmen geht noch.
In depressiven Phasen kann ich mich selbst nicht leiden. Das geht manchmal bis zum Selbsthass, was allerdings ein sehr starkes Gefühl ist. Denn abgesehen davon fühle ich ja nichts. Ich hasse mich, weil nichts mehr geht. Weil ich zu erschöpft bin zum Duschen. Wenn ich daran denke, was ich früher alles konnte und unternommen oder geschafft habe, erkenne ich mich selbst nicht zurück. Ich bin am Leben gescheitert und halte mich deswegen für schwach. Während die anderen Ziele verfolgen, Karriere machen, große Reisen planen und ihr Leben in vollen Zügen genießen, sitze ich zu Hause und suche vergebens meinen Antrieb. Wie bin ich da nur rein geraten? Warum passiert das ausgerechnet mir? Warum ist für mich alles so viel schwerer? Ich hasse mich, weil ich es nicht schaffe, glücklich zu sein. Weil ich nichts aus meinem Leben mache. Weil ich mir nicht einfach nehme, was ich will, so wie die anderen, die sich völlig selbstverständlich am Büffet des Lebens bedienen. Das sind erfolgreiche Menschen. Die riskieren etwas und arbeiten hart für ihre Ziele. Ich liege im Bett. Ich hatte auch mal Ziele. Glaube ich. Und Träume. Aber ich erinnere mich nicht. Ich bin innerlich tot. Und die körperliche Hülle wird langsam lästig. Wenn ich dann noch feststelle, dass es für jemanden wie mich keinen Platz in der lauten und schnelllebigen Welt voller erfolgreicher Menschen gibt, die alle ihre Pflicht erfüllen, steigt Verzweiflung in mir auf. Ich werde das nie schaffen! Aber ohne Arbeit habe ich kein Geld. Deshalb bin ich gezwungen, wieder aufzustehen und mitzumachen. Sie werden mich nie in Ruhe lassen, die Vertrauensärzte der Krankenkassen oder die Sachbearbeiter des Arbeitsamtes. Angst, Selbsthass und Verzweiflung werden immer größer. Der Tod scheint der einzige Ausweg zu sein. Doch dann will meine Katze Futter. Jemand braucht mich noch.
Angehörige, Freunde und Bekannte reagieren irritiert. Dass ausgerechnet ich an Depressionen leiden soll, kann keiner glauben. Ich war doch immer so lustig und engagiert im Job! Das ist sicher nur ein „kleines Burnout“. Ein bisschen ausruhen, ein bisschen aufraffen, dann geht es schon wieder. Ist doch alles nicht so schlimm.
Doch, ist es. Die Farben sind verblasst, der Kühlschrank steht unendlich weit weg, die Welt macht ohne mich weiter. Ich fühle mich fremd in mir und verstehe mich selbst nicht mehr. Wie soll ich es da einem anderen erklären? Ich bin im Hamsterrad zwischen die Speichen geraten und hinausgeschleudert worden. Einerseits bin ich ganz froh darüber. Denn glücklich war ich damit nicht. Und jetzt hänge ich planlos in den Seilen.
Alles erscheint ohne Sinn. Wozu aufstehen? Mein Leben ist nicht mehr lebenswert. Obwohl es darin auch schöne Dinge gibt. Ich habe einen lieben, verständnisvollen Mann, eine anhängliche Katze und ein nicht ganz so einfaches Pferd. Ich habe viele Interessen und Hobbys. Aber leider keine Kraft mehr dafür. Ich bin müde. Des Lebens und seiner Kämpfe müde. Die Windmühlen haben gewonnen.
Trotz Müdigkeit liege ich nachts oft wach. Schlafstörungen gehören zu Depressionen oft dazu. Und dann rattert es in meinem Kopf. Die Vergangenheit wird wieder und wieder durchanalysiert auf der Suche nach Antworten und Fehlern. Wo bin ich falsch abgebogen auf meinem Lebensweg? Habe ich die falschen Entscheidungen getroffen, als es um meine berufliche Orientierung ging? Hätte ich auf mein Herz hören und Germanistik und Literatur studieren sollen? Wäre ich nicht besser früher von Zuhause ausgezogen, statt mich für meine Eltern verantwortlich zu fühlen? Seelische Wunden brechen auf und fangen an zu bluten. Dann muss ich tatsächlich auch mal weinen. „Ist was passiert?“ fragt mein Mann. „Heute nicht.“ Auf Außenstehende wirkt das häufig wie grundloses Weinen. Traurigkeit muss aber nicht immer einen aktuellen Anlass haben. Ich habe in vielen Situationen meines Lebens nicht geweint und manchmal sogar absichtlich die Tränen runter geschluckt. Irgendwann konnte ich nicht mehr weinen, auch wenn ich es gerne gewollt hätte. Ich habe meine Trauer verdrängt, bis sie unerreichbar wurde. Jetzt läuft das Fass der ungeweinten Tränen über. Allerdings nur tröpfchenweise. Denn meistens fühle ich ja nichts.
Was ich hingegen sehr gut fühlen kann, wenn sich die schwarzen Wolken für einen Moment lichten, ist meine Wut. Wut ist Lebensenergie. Aber sie stellt sich gern vor die Trauer. Für mich ist es einfacher, wütend zu sein als traurig. Das tut weniger weh. Die Wut sprintet mit meinem Antrieb an der Hand los, und plötzlich sind wieder Aktivitäten möglich. Dann schaffe ich es, aus der Opferrolle auszusteigen und Veränderungen vorzunehmen, die mein Leben besser machen könnten. Jedoch nur solange ich mich selbstwirksam fühle. Treten die gewünschten Veränderungen nicht ein, weil ich nicht deutlich genug war, Anträge abgelehnt werden oder das nötige Geld fehlt, wendet sich meine Wut nach innen gegen mich. Die nächste Selbsthasswelle schlägt über meinem Kopf zusammen. Bis ich wieder erschöpft in die dunkle Leere gleite.
Depressive können auch aggressiv werden. Wenn mir alles zu viel ist, reagiere ich schnell gereizt. Mein Mann fragt mich, was ich essen will. Entscheidungen sind aber depressionsbedingt gerade aus. Also sage ich „egal“. „Nee, jetzt sag doch mal, worauf du Lust hast.“ „EGAAAAAHAAAAL. Auf nichts! OKAY?“ Da knickt der Mann dann zusammen. Er wollte mir doch nur was Gutes tun. Es ist mir nur leider nicht möglich, eine so simple Frage zu beantworten. Depressionen fressen den Appetit auf. Jedenfalls bei mir. Und ich weiß nicht, was ich will. Das betrifft gerade alle Lebensbereiche – vom Abendessen bis zum eventuellen neuen Beruf. Angeblich sollen depressive Männer eher aggressiv sein als depressive Frauen. Die heulen mehr. Da erfülle ich wohl das Klischee nicht. Oder ich bin keine richtige Frau. Jedenfalls mache ich auch noch in der Depression alles falsch.
Wie geht man mit einem Menschen um, der an Depressionen erkrankt ist? Angehörige und Freunde greifen auf Ideen zurück, die bei schlechter Laune wirksam waren. Aber eine Depression hat nichts mit schlechter Laune zu tun. Und was dem einen hilft, hilft dem anderen noch lange nicht. Denn jeder Betroffene erlebt seine Depression anders, auch wenn es einige Gemeinsamkeiten gibt. Und jeder Betroffene braucht etwas anderes. Eins brauchen jedoch alle depressiven Menschen: Respekt. Wie jetzt? Kein Verständnis? Nein, das kann ich von niemandem verlangen, der es nicht selbst erlebt hat. Ich finde es nicht schlimm, wenn man meine Empfindungen nicht nachvollziehen kann. Aber ich kann es nicht leiden, wenn man mir meine Gefühle abspricht oder jemand meint, es besser zu wissen und mir sagen zu können, was ich zu tun habe, damit es aufhört. Das dürfen nur meine Therapeuten. Und selbst die greifen manchmal ins Klo.
Ich wünsche mir Respekt. Das bedeutet, mir zuzuhören, ohne immer direkt zu antworten. Das Gesagte einfach mal so annehmen, ohne nach eigenen (gesunden) Maßstäben zu bewerten. Dieses „Warum machst du nicht einfach mal...“ Es ist eben nichts mehr einfach, wenn man depressiv ist. Und man ärgert sich selbst schon genug darüber. Das muss man nicht auch noch ständig unter die Nase gerieben bekommen. Das verstärkt nur das quälende Gefühl der allgemeinen Unzulänglichkeit. Und es ist so wahnsinnig anstrengend, sich immer wieder erklären und rechtfertigen zu müssen, warum dies oder jenes nicht mehr geht. Zumal man selbst gar keine Erklärung dafür hat. Deshalb geht man in...