Nichts los in Prag
Think you heard this all before,
Now you’re gonna hear some more.
Devo, GOING UNDER
3. Juli 1883, ein freundlicher, klarer Sommertag, nur schwach streicht die Luft durch die engen Gassen der Prager Altstadt, die sich schon um die Mittagszeit bis auf 30 Grad Celsius erhitzen. Zum Glück ist es keine schwüle Wärme; die wenigen Wolken, die am Nachmittag heraufziehen, sind harmlos, und so freuen sich Tausende von Pragern auf einen lauen Abend in einem der zahllosen Gartenlokale, bei Pilsener, Wein und Blasmusik. Heute ist Dienstag, da gibt es besonders viele ›Militär-Concerte‹, und im weitläufigen Biergarten auf der Sophieninsel geht der Rummel sogar um 16 Uhr schon los. Das ist die Zeit der Touristen, der Studenten und der kleinbürgerlichen Privatiers, denn gearbeitet wird natürlich noch einige Stunden länger, und für die wenig Beneidenswerten, die ihr Brot in irgendeinem Ladenkontor verdienen, spielt die Musik leider erst nach Sonnenuntergang. Selbst der Besuch einer Theatervorstellung hängt dann bisweilen von der Gutmütigkeit des Prinzipals ab. Für die Tschechen gibt es heute FEDORA, das neueste Melodram des französischen Erfolgsautors Victorien Sardou; die Deutschen hingegen dürfen sich im Volkstheater mit Nestroy amüsieren: EINEN JUX WILL ER SICH MACHEN. Und wem auch das zu anspruchsvoll ist, dem bleibt der Gang in ›Wanda’s Singspiel-Halle‹, wo Fräulein Mirzl Lehner, genannt »die fesche Wienerin«, samt weiteren, »neu engagierten Kunstkräften« ihr »amusantes und äußerst anständiges Programm« präsentiert. Ein überschaubares Angebot für fast 160000 Stadtbewohner.
Prag im Sommer, Prag im Frieden, die Stunden verstreichen, die Börsenkurse pendeln schwach (aber das tun sie seit zehn Jahren schon), das Leben scheint wie ermattet, selbst die üblichen, von den Lesern des Prager Tagblatt und der Bohemia begierig aufgesogenen Meldungen über Hochstapler, Selbstmörderinnen und durchgebrannte Kassierer bleiben aus. In der ›Civil-Schwimmschule‹, dem öffentlichen Flussbad, fällt ein Kleinkind in die Moldau und wird von einem 13-jährigen Jungen gerettet. Das ist schon das einzige Unglück an diesem 3. Juli, das berichtenswert ist. Abgesehen von den natürlichen Todesfällen, die in so winziger Schrift vermeldet werden, dass man sie suchen muss. In der Hibernergasse stirbt ein 18 Tage alter, schwächlicher Säugling namens Augustin, und eine zweijährige Amalia stirbt an Tuberkulose. Aber wer will das wissen.
Und dennoch wird dieser Tag in die Annalen der Stadt Prag eingehen, aus zwei Gründen sogar, einem öffentlich sichtbaren und einem vorläufig verborgenen. Ein politischer und mentaler Schock trifft heute die Stadt, noch sind erst wenige informiert, doch in den Kaffeehäusern spricht sich das Unfassbare schnell herum, noch ehe die Presse reagieren kann. Soeben finden nämlich Wahlen zum böhmischen Landtag statt, der Kaiser selbst hat sie angeordnet, und zwar – das ist das Fatale – mit völlig neuen Konditionen. Wahlberechtigt sind, seit es Parlamente gibt, nur Männer, die einen Mindestbetrag an jährlichen Steuern zahlen, und dieses Limit hat die österreichische Regierung unversehens halbiert – mit kaiserlicher Billigung und zum Entsetzen eines kleinen, aber maßgeblichen Teils der Bevölkerung. Denn welche Folgen diese Entscheidung haben würde, das konnten sich auch politisch Ahnungslose an den Fingern abzählen: mehr Wahlberechtigte, also mehr Tschechen. Und das ist heute prompt eingetroffen, die Tschechen haben die Deutschen im Landtag überflügelt, sie besitzen eine solide Mehrheit, zum ersten Mal und sehr wahrscheinlich für immer. Denn wer würde es je wagen, das neue Wahlrecht anzutasten? Auch die Großgrundbesitzer votieren ja nun überwiegend tschechisch, die Handelskammern ebenso, und etliche wohlhabende Juden ziehen mit. Die Deutschen im Geschäftsviertel um den Altstädter Ring greifen sich an den Kopf: Selbst ihre unmittelbaren Nachbarn, die Bewohner der ›Josefstadt‹, des alten Prager Ghettos, haben mehrheitlich tschechisch gewählt, und wie zum Hohn sickert die Pointe durch, dass es wohl die jüdischen Metzger waren, die hier den Ausschlag gaben, Leute also, die zuvor noch niemals an die Wahlurne durften …
Natürlich ist es nur eine Minderheit der Prager Bevölkerung, die sich für die Arbeit des böhmischen Landtags interessiert, und selbst im gebildeten Bürgertum beider Sprachen sind es nur die zähesten Zeitungsleser, die einigermaßen Bescheid darüber wissen, welche Kompetenzen dieser Landtag eigentlich hat und welchen Einfluss auf den deutsch-tschechischen Alltag. Aber es ist ein symbolischer Sieg der Tschechen, der bei weitem wichtigste bisher, das verstehen alle, und darum ist er ›historisch‹. Auch die Verlierer sehen das so. Ihr Ton ist gedämpft, die deutschsprachige Presse hält sich zurück, man will die Tschechen, mit denen man doch in allen Stadtteilen auf Tuchfühlung zusammenlebt, nicht reizen und die eigenen Abonnenten nicht aufwiegeln. Nur die Neue Freie Presse aus Wien redet Tacheles, sie kann es sich leisten, die Leib- und Magenpostille der Liberalen, die selbstredend auch in Prag überall ausliegt. Hier erfahren die böhmischen Bürger, dass sie mit ihrem dummen Wahlverhalten das Ende des Abendlandes riskieren: »Sollte es wirklich dahin kommen, dass auch Prag rettungslos untergeht in der slavischen Fluth?« Nein und abermals nein. »Aus der Landstube mögen die deutschen Abgeordneten der Hauptstadt verschwinden, aber das Volk, welches die Straßen und Häuser füllt, wird bleiben, bis endlich der Tag kommt, welcher der slavischen Gegen-Reformation ein Ende macht, und Prag wieder wird, was es war, ein Mittelpunkt menschlicher, deutscher Cultur.«[1]
Das ist starker Tobak, zu stark selbst für die staatliche Zensur in Wien, die das Blatt wenige Tage später konfiszieren wird. Doch der aggressive Tonfall, der chauvinistische Aufruhr verraten, wie gut man die epochale Bedeutung dieses Tages verstanden hat. Es ist immer eine Elite gewesen, welche die Macht in ihren Händen bündelte, doch von nun an wird die Mehrheit herrschen, legitimiert durch die bloße Proportion, die in Prag – daran ist nicht zu rütteln – nun einmal 4:1 zugunsten der Tschechen lautet. Was, wenn sich dieses Mehrheitsprinzip in der gesamten Monarchie durchsetzte? Dann wird man den Böhmen vorhalten, dass sie das schwächste Glied in der Kette waren und dass in ihrer Hauptstadt, exakt am 3. Juli 1883, die Kette gerissen ist.
Nicht alle Prager registrieren den Erdrutsch im böhmischen Landtag, bei weitem nicht. Das wirkliche Leben findet woanders statt, und wem ein kleines Kind namens Augustin oder Amalia stirbt, für den ist alles Politische ausgelöscht für lange Zeit. Ebenso aber auch denen, die ein Neugeborenes begrüßen. Auch sie überschreiten eine Epochenschwelle, erleben den Anbruch einer neuen Zeit, hinter die es kein Zurück mehr gibt, und vor der warmen körperlichen Präsenz versinkt die übrige Welt.
Ebendies ereignet sich heute in einem Haus unmittelbar neben der St.-Niklas-Kirche, Ecke Maiselgasse/Karpfengasse, wo das seit erst zehn Monaten verheiratete jüdische Ehepaar Kafka lebt. Keine besonders gute Adresse, das Haus hat schon bessere Tage gesehen, einst war dies die Prälatur des berühmten Klosters Strachov, aber abgesehen von der Barockfassade ist von der Pracht nicht viel übrig. Seit langem dient das Gebäude als gewöhnliches Wohnhaus, die Nachbarschaft ist alles andere als repräsentativ und zum Anknüpfen neuer Kontakte nur wenig geeignet: auf der einen Seite die Kirche, in der seit einiger Zeit die Russisch-Orthodoxen ihre düsteren Gottesdienste halten, auf der anderen Seite mehrere verdächtige Spelunken und sogar Bordelle, die beinahe schon zur Josefstadt gehören, ein verwahrloster Kiez, dessen Abriss, so hört man, beschlossene Sache ist.
Die Kafkas werden hier nicht lange bleiben, das versteht sich, aber vorläufig müssen sie sparen. Denn ihr ganzes Vermögen – das heißt vor allem: die Mitgift von Frau Julie – haben sie in ein neu gegründetes Geschäft gesteckt, einen Handel mit Zwirn und Baumwolle, der nur wenige Schritte entfernt an der Nordseite des Altstädter Rings auf Kunden wartet. Alleiniger Inhaber ist der dreißigjährige Hermann, doch seine Frau, drei Jahre jünger, muss hier ganztags mitarbeiten, sonst wird das Geschäft nicht überleben. Den beiden bleibt wenig Zeit, selbst die Flitterwochen haben sie sich versagt, um in Prag nichts zu versäumen, und so ist auch eine Schwangerschaft nicht eben förderlich für den kaum etablierten Laden, ganz zu schweigen von Amme und Kindermädchen, die man sich von nun an wird leisten müssen.
Aber es ist ein Junge, und in einer patriarchal organisierten Welt – eine andere kennen Hermann und Julie nicht – bedeutet das männliche Kind den Garanten der Zukunft. Er ist das nächste Glied der Generationenkette, die den Einzelnen hält und führt und die seinem Tun erst überzeitlichen Sinn verleiht. Bisher wussten die Kafkas nur, dass sie sozial nach oben wollen, jetzt fühlen sie auch, dass dieses Ziel ihre eigene irdische Existenz überschreitet und damit unanfechtbar wird. Das Neugeborene ist ›Erbe‹, noch ehe ihm die ersten Schritte gelingen, und dies keineswegs nur in den Augen der Eltern. Auch gegenüber den Verwandten, den Angestellten und Kunden hat sich die soziale Position der Kafkas von einem auf den anderen...