Schuld und Sünde
Die Macht der Amtsträger christlicher Kirchen zeigt sich darin, dass sie Gläubige dazu bringen, der christlichen Lehre zu folgen. Wer abweicht, also sündigt, ist schuldig und verdient eine Strafe. Bis heute fühlen sich Christen schlecht, wenn sie eine vermeintliche Sünde begangen haben, wobei mir wichtig ist zu erwähnen, dass der Begriff Sünde eigentlich nicht mehr ganz zeitgemäß ist. Innerhalb der Religionsgemeinschaften wird er zwar noch verwendet, aber in den Religionswissenschaften ist er inzwischen durch den Begriff »Schuld« ersetzt. Deshalb verwende ich Schuld und Sünde synonym.
Der biblische Sündenfall Adams und Evas markiert den Beginn der Schuldhaftigkeit des Menschen. Als Erben kommen wir nach christlichem Verständnis bereits sündig auf die Welt. Diese Urschuld ist unabänderlich und kann im Laufe eines Lebens durch Verstöße gegen Gottes Gebote noch potenziert werden. Einige dieser zahlreichen Gebote sind kaum einzuhalten. Für viele mag es keine große Überwindung darstellen, dem fünften Gebot, »Du sollst nicht töten«, oder dem siebten, »Du sollst nicht stehlen«, zu folgen. Aber wie ist es mit dem zehnten Gebot? Dort steht: »Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib, Knecht, Magd, Vieh noch alles, was dein Nächster hat.« Schafft man es immer, ohne Neid auf das nagelneue Auto des Freundes zu gucken oder auf seine schicke Altbauwohnung oder den tollen Job?
Wie schwer es ist, allen Geboten nachzukommen, wird in der christlichen Sexualmoral deutlich. Es ist interessant, was Papst Johannes Paul II. im Jahr 1992 im Katechismus der katholischen Kirche zum Thema schreibt. Neben Prostitution, Vergewaltigung und Pornographie werden auch Masturbation, Unzucht und Unkeuschheit verurteilt. Zur Unkeuschheit steht hier: »Unkeuschheit ist ein ungeregelter Genuß der geschlechtlichen Lust oder ein ungeordnetes Verlangen nach ihr. Die Geschlechtslust ist dann ungeordnet, wenn sie um ihrer selbst willen angestrebt und dabei von ihrer inneren Hinordnung auf Weitergabe des Lebens und auf liebende Vereinigung losgelöst wird.« Zusammengefasst wird jede sexuelle Handlung, die nicht innerhalb der Ehe, in echter Liebe und zur Zeugung eines Kindes geschieht, missbilligt. Fatal für die Gläubigen ist, dass nicht nur die begangene Tat als sündhaft gilt, sondern schon der Gedanke daran oder der Wunsch danach eine Sünde ist. Dies wird mit biblischen Sätzen belegt wie: »Denn aus dem Herzen kommen böse Gedanken, Mord, Ehebruch, Unzucht, Diebstahl, falsche Zeugenaussagen und Verleumdungen.« (Mt. 15,19) Im Schuldbekenntnis, das in den Ablauf des Gottesdiensts eingebunden ist, bekennen sich die Gläubigen schuldig, und zwar ausdrücklich in »Gedanken, Worten und Werken«.
Stellen Sie sich einmal vor, Sie wären fest entschlossen, eine Diät einzuhalten, um endlich ein paar Pfunde loszuwerden, und es würde schon der Gedanke an Schokoladeneis, Braten oder Kartoffelchips ausreichen, um diese Diät zu brechen. In diesem Fall wäre die Diät von vornherein sinnlos. Die allerwenigsten können sich aussuchen, woran sie denken und woran nicht. Wenn Sie einmal versuchen, für eine halbe Stunde nicht an Schokoladeneis zu denken, werden Sie feststellen, wie schwierig es ist, seine Gedanken zu beherrschen. Selbst wenn Sie sich eigentlich nichts aus Schokoladeneis machen, werden Ihre Gedanken wie von selbst um die Süßspeise kreisen. Dagegen gelingt es vielen Menschen sehr wohl, kein Schokoladeneis zu essen. Ebenso sind Raucher in der Lage, das Rauchen aufzugeben, aber den Gedanken an Zigaretten können sie sich nicht verbieten. Mit dem Gebot, sündige Gedanken nicht zu denken, wird den gläubigen Christen etwas abverlangt, was nicht machbar ist, und das seit vielen hundert Jahren über viele Generationen. Was aber geschieht mit Menschen, die ständig mit einem moralischen Ideal konfrontiert sind, dem sie faktisch nicht entsprechen können?
Freud beschäftigt sich unter anderem auch mit dem Einfluss des Gewissens auf die psychische Gesundheit eines Menschen und teilt den psychischen Apparat in drei Instanzen: das Ich, das Über-Ich und das Es. Das Ich umfasst alles, was ich jetzt in diesem Moment bewusst über mich sagen kann. Mit Es bezeichnet er die Triebe eines Menschen, im Wesentlichen sind das der Aggressions- und der Sexualtrieb. Das Über-Ich schließlich ist die moralische Instanz oder auch das Gewissen und kann als Gegenspieler des Es angesehen werden. Im positiven Sinne sorgt das Über-Ich dafür, dass sich ein Mensch sozialverträglich verhält, dass er beispielsweise im Streit nicht aus Wut einfach zuschlägt, sondern mit Worten argumentiert. Ist das Über-Ich aber sehr stark ausgebildet, wird man schon beim kleinsten Verstoß gegen eine Wertvorstellung von seinem schlechten Gewissen gequält.
Wenn aber kaum ein Unterschied zwischen einer sündigen Tat und dem Wunsch danach gemacht wird, wird das strafende Über-Ich gestärkt. Das Resultat sind Schuldgefühle, die so stark werden können, dass sich pathologische Symptome ausbilden. Wenn meine Patienten an Schuldgefühlen leiden, dann oftmals nicht, weil sie etwas Schlimmes getan haben, sondern weil sie sich etwas wünschen, was sie sich ihrer Meinung nach nicht wünschen dürfen, oder weil sie Phantasien haben, die sie als schlecht empfinden. Psychoanalytiker unterscheiden hier zwischen einem real begründeten Schuldgefühl und einem irrealen. Real begründet ist ein Schuldgefühl, wenn es die Folge einer ausgeführten Tat ist. Irreal ist es, wenn es nicht auf einer realen Tat basiert. Ich erlebe in meiner Praxis Menschen, die sich allein aufgrund ihrer Existenz schuldig fühlen. Sie haben den Eindruck, eigentlich nicht auf der Welt sein zu dürfen. Manche meinen, sie müssten sich für alles entschuldigen, weil sie mit jeder einzelnen Bewegung Platz in der Welt einnehmen, den andere brauchen. Einige fürchten, die Liebe ihrer Eltern zu verlieren, wenn sie allzu frei agieren, und fühlen sich deshalb schuldig. Es kommt sogar vor, dass Opfer von schwerem Missbrauch die Schuldgefühle des Täters übernehmen, nur um den Täter nicht verurteilen zu müssen. Das kann passieren, wenn der Täter aus dem unmittelbaren familiären Umfeld kommt oder eine Person ist, der durch moralische Integrität Respekt gebührt. Wenn ich Menschen mit derartigen Schuldgefühlen behandle, ist es meine Aufgabe, dem Analysanden diese bewusstzumachen und ihm dabei zu helfen, zwischen real begründeten und irrealen Schuldgefühlen zu unterscheiden.
Hält man sich vor Augen, wie schwer es ist, christlichen Moralvorstellungen zu genügen und Sünden zu vermeiden, wird die Frage interessant, wie man die auf sich geladene Schuld nun wieder loswird. Aus eigener Kraft kann sich der gläubige Christ nicht von der Sünde befreien, er bedarf dazu Gottes Gnade, und die wiederum kann nur ein Amtsträger der Kirche in der Beichte vermitteln.
In der Beichte gesteht der Pönitent, das ist der Beichtende, seine Sünden und bereut sie aufrichtig, der Beichtvater legt gegebenenfalls die Form der Buße fest und erteilt die Absolution. Man wird regelmäßig angehalten, sein Gewissen zu erforschen, es gibt sogar Kataloge mit möglichen Sünden, anhand deren man dem Gedächtnis auf die Sprünge helfen kann. Die katholische Kirche ermöglicht den Gläubigen, im Einzelgespräch mit einem Geistlichen im Beichtstuhl, ihre Sünden zu bekennen. In der evangelischen Kirche wird die Beichte oft in den Gottesdienst eingebettet, dann beichtet jeder still für sich und erhält nachher gemeinsam mit allen anderen Kirchgängern die Absolution. Dieses Ritual, sich seines Fehlverhaltens bewusstzuwerden, es zu bereuen und danach davon freigesprochen zu werden, kann einen entlastenden Charakter haben. In der intimen Zweisamkeit eines Beichtstuhls herrscht aber zugleich ein extremes Machtgefälle. Der Beichtende begibt sich im Moment der Beichte in die Hände des Beichtvaters, um sein Gewissen zu erleichtern und sich von seiner Schuld zu befreien. Mehr als einmal habe ich Patienten behandelt, die erleben mussten, dass die Macht, die sie ihrem Beichtvater in diesem Moment gaben, missbraucht wurde. In den Fallgeschichten wird noch deutlich werden, wie häufig gerade die Intimität der Beichte genutzt wird, um unter dem Deckmantel der Nächstenliebe Gewalt auszuüben.
Nach der christlichen Morallehre sind Gläubige von Geburt an Sünder und hören bis zu ihrem Tod nicht auf, sich zu versündigen. Sie fühlen sich permanent schuldig und Gott und der Kirche als Sünder ausgeliefert. Dabei könnte der christliche Glaube durch die neutestamentarische Botschaft eine ungemein schuldbewältigende Wirkung haben. Dieser Glaube kann helfen, irrationale Gefühlsanteile der empfundenen Schuld von den real gerechtfertigten zu unterscheiden. Dieser Glaube kann mit aller Kraft dazu beitragen, die persönliche Tatschuld eines Gläubigen zu minimieren. Leider benutzen viele Amtsträger christlicher Kirchen die verhängnisvolle Vermischung von irrealem Schuldgefühl und real begründeter Schuld, um ihre Macht über Gläubige zu stärken. Und die Menschen sind sehr oft gewillt zu tun, was von ihnen verlangt wird, wenn man dafür ihr schlechtes Gewissen erleichtert, und sei es nur für kurze Zeit.
Natürlich sind auch Repräsentanten der Kirchen nicht ohne Sünde, denn als Nachkommen Adams und Evas tragen auch sie die Urschuld in sich. Aber sie sind durch ihr Amt näher bei Gott, und ihre Schuld gilt als geringer. Sie haben die Macht zu bestimmen, welche Handlungen gottgefällig und welche sündig sind, und sie haben die Macht, Sünden zu vergeben.
Um zu zeigen, welchen Einfluss die Idee von Schuld und Sünde auf einen Christen haben kann, möchte ich hier von einem Fall aus...