Immer näher an den Thron –
Die Erziehung und Ausbildung
Kaiser Karls
Von den zahlreichen Vorwürfen, denen die Person des letzten Kaisers von Österreich und Königs von Ungarn bereits zu seinen Lebzeiten ausgesetzt war und die sich bis heute zum Teil sogar in der seriösen historischen Betrachtung niederschlagen, wiegt jener seiner mangelnden Erziehung und Ausbildung auf seine verantwortungsvolle Aufgabe hin nicht gering. Überraschend ist, wie sehr sich bis in unsere Tage gewisse ideologische Vorbehalte und Propagandalügen aus dem Ersten Weltkrieg halten.
Die mangelnde Ausbildung passt da gern in zitierte Klischees. Dabei stimmt gerade das nicht. Im Gegensatz zu den Behauptungen, der junge Kaiser, der mit gerade einmal 29 Jahren die Regierung übernommen hatte, sei auf seine Aufgabe nicht vorbereitet gewesen, hatte er eine sehr gute und vor allem zielgerichtete Ausbildung genossen. Zwar war bei seiner Geburt noch nicht klar, dass er einstmals den Thron erben würde, aber die verschiedensten Unglücksfälle und Umstände in der kaiserlichen Familie ließen dies immer wahrscheinlicher werden. Den Eltern war dies sehr bewusst gewesen, und so haben sie frühzeitig die Erziehung des Jungen entsprechend gesteuert, immer in Einklang mit Kaiser Franz Joseph, aber auch in Einklang mit Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand.1
Erzherzog Karl Franz Josef wurde am 17. August 1887 auf Schloss Persenbeug in Niederösterreich geboren. Es schien, als sei er noch sehr weit vom Thron entfernt. Wären nicht verschiedenste Unglücksfälle und andere Umstände in der kaiserlichen Familie geschehen, hätte Karl das typische Leben eines Erzherzogs geführt, mit einer militärischen Karriere – und dann und wann mit Repräsentationsverpflichtungen betraut. Doch 1889, zwei Jahre nach Karls Geburt, kam Kronprinz Rudolf, der einzige Sohn Kaiser Franz Josephs, unter bis heute ungeklärten Umständen in Mayerling2 ums Leben. Der nächste in der Thronfolge war Erzherzog Karl Ludwig, der Vater der Erzherzoge Franz Ferdinand und Otto, dem Vater Karls. Karl Ludwig verstarb im Jahr 1896 während einer Pilgerreise ins Heilige Land. Der Thron rückte immer näher. Grund genug also, den jungen Karl entsprechend vorzubereiten.
Die Eltern Kaiser Karls waren in vielen Dingen unterschiedlicher Ansicht, doch in Hinblick auf die Erziehung ihrer Kinder, vor allem des Erstgeborenen, stimmten sie überein.3 Der Vater, Erzherzog Otto, war ein Mensch von großen künstlerischen Begabungen, von großer Vitalität und Lebensfreude und extrovertiertem Charakter. An Politik war er völlig desinteressiert. Am ehesten weckte noch das Militär sein Interesse, wo er die für einen Erzherzog übliche Laufbahn einschlug. Sicher stand er auch im Schatten seines großen Bruders Erzherzog-Thronfolger Franz Ferdinand, der immer schon ein sehr politischer und eigenwilliger Kopf gewesen war. Otto nahm hingegen Repräsentationsaufgaben recht gerne wahr. Es ranken sich etliche Anekdoten um den »feschen Otto« beziehungsweise den »flotten Erzherzog«. Einmal soll er, lediglich mit einem Gürtel, einem Säbel und dem habsburgischen Hausorden, dem Orden vom Goldenen Vlies, bekleidet, durch das Foyer des Hotel Sacher getanzt sein. Unglücklicherweise stieß der amerikanische Botschafter in Damenbegleitung auf den Erzherzog in dieser Adjustierung. Sein Einspruch beim Außenministerium und Polizeipräsidium blieb ohne Folgen, sodass er erst nach einer Audienz beim Kaiser Satisfaktion erhielt: Der Kaiser bestrafte seinen Neffen mit zwei Monaten Kloster.
Es ist offensichtlich, dass Erzherzog Ottos Frau Maria Jose- pha, eine geborene Prinzessin von Sachsen und Nichte des regierenden Königs, das pure Gegenteil von ihm war. Sie war tiefreligiös, von sanftem, nachsichtigem, bescheidenem Charakter und mit dem festen Willen, das Heim zum Zentrum ihres Lebens zu machen. Einige Biografen bezeichnen sie sogar wenig charmant als »hausbacken«. Sie lebte ganz für ihre Kinder und nahm die Kränkungen durch das ausschweifende Leben ihres Mannes demütig hin. Die Ehe ist nie gescheitert, aber sie trieb vor sich hin, wohl getragen von gegenseitigem Respekt.
Es scheint, dass die Kindheit des kleinen Erzherzogs ein Paradies gewesen war. Die Familie lebte entweder im Augarten in Wien oder an den verschiedenen Stationierungsorten des Vaters. Eine der ersten Übersiedlungen führte ins mährische Brünn, wo Vater Otto als Rittmeister bei den 6er Dragonern diente. Weitere Stationierungen waren in Prag, wo die Familie auf dem Hradschin lebte, und in Ödenburg.
Wenn Maria Josepha ihren Mann nicht begleitete, lebte sie auf Schloss Persenbeug oder in der Villa Wartholz in Reichenau an der Rax, einem Besitz ihres Schwiegervaters, in dem auch die Ferien verbracht wurden. Karl verband seine schönsten Kindheitserinnerungen mit beiden Orten. Bis zu seinem siebten Lebensjahr wurde seine Erziehung von Damen dominiert: von seiner Mutter und deren Hofdame Gräfin Pallavicini, Erzherzogin Maria Annunziata und von seiner irischen Gouvernante, Miss Casey, von der er fließend Englisch schreiben und sprechen lernte. Überhaupt zeichnete Karl sich durch eine große Sprachbegabung aus. Nun aber beschlossen die Eltern, seine Erziehung etwas strenger zu gestalten. Mit dem Jahr 1894 übernahm Graf Georg Wallis, der einstige Erzieher Erzherzog Ottos, die Stelle als »Ajo Primo«, also als Hauslehrer und Erzieher des jungen Karl. Er blieb der Familie bis ins hohe Alter verbunden. Als in Hofkreisen beschlossen wurde, den treuen Grafen Wallis durch einen anderen Lehrer abzulösen, der nicht eben den besten Leumund hatte, intervenierten die Eltern bei Kaiser Franz Joseph. Die spätere Kaiserin Zita berichtet darüber:
»Er [Erzherzog Otto; Anm. d. Verf.] bat seine Frau, sie möge sofort um eine Audienz beim Kaiser ansuchen, und ihm sagen, dass sie sich absolut weigere, die ausgedachte Erziehung ihrem Sohne angedeihen zu lassen. Erzherzog Otto sagte ihr, für ihn sei es entsetzlich schwer, denn wenn seine Majestät einen Wunsch ausspreche, könne er nur als Erzherzog und Offizier Jawohl, Eure Majestät‹ sagen, wohingegen sie als Frau und Mutter dem Kaiser opponieren konnte. Und so sollte es zu einem Kniefall von ihrer Seite kommen.«4
Die Eltern bestanden auf ihrem Recht, die Erziehung des Jungen selbst bestimmen zu können. Karls Erziehung war in mancherlei Hinsicht viel solider als die des Kronprinzen Rudolf gewesen, der als Staatskind erzogen und damit seinen Eltern, vor allem Kaiser Franz Joseph, entfremdet wurde. Die Folgen sind bekannt.
Graf Wallis organisierte die Schulbildung Karls mit einem strammen Programm und einem spartanischen Lebensstil. Sommers wie winters wurde morgens um sechs aufgestanden und kalt gewaschen. Der Lehrplan war sehr intensiv, mit zahlreichen Fächern. Englisch unterrichtete nach wie vor Miss Casey, Französisch ein Monsieur Mathieu, Ungarisch ein Herr Tormassy. Auch die anderen Sprachen des Reiches wurden gelehrt, dazu kamen noch Latein und Griechisch. Naturwissenschaftliche Fächer wie Biologie, Zoologie und Botanik wurden von Dr. Holzlechner unterrichtet, und dies gern am lebenden Objekt, während Ausflügen, beim Reiten oder auf der Jagd. Von Holzlechner, der in der Familie nur »Nisi« genannt wurde, übernahm Karl die Liebe zur Natur und zur Bewegung an der frischen Luft. Neben dem schulischen Programm beschäftigte Karl sich auch mit Reiten, Schießen, Eislaufen, Fechten, Turnen und Schwimmen, seine Lieblingsbeschäftigung aber war die Jagd.
Erzherzog Otto und seine Frau hatten den Weitblick bewiesen, den Sohn zum einen weitgehend in der häuslichen Atmosphäre zu behalten, andererseits jedoch sehr sorgfältig auf seine Ausbildung zu achten. Karls Vater war sich sehr wohl seiner eigenen Defizite und seines unsteten Charakters bewusst, aber auch der Verantwortung, die er seinem Sohn und der Dynastie gegenüber schuldete:
»In Erziehungs- und Gesundheitsfragen ist genaueste Beobachtung geboten. […] Ich will nicht, dass mein Sohn die gleichen Erfahrungen macht, die ich habe durchmachen müssen.«5
Nach der Erziehung durch Hauslehrer beschlossen die Eltern zum zehnten Lebensjahr des Jungen, ihn in das von den Benediktinern geführte Schottengymnasium einzuschreiben, wo er in den folgenden Jahren vor allem Naturgeschichte, Physik und Chemie lernte. Im Juni 1901 beendete er seine dortige Schulausbildung mit einer ausgezeichneten Abschlussprüfung. Allerdings sollte er nicht mit der Matura abschließen, da Kaiser Franz Joseph meinte, es sei nicht angebracht, wenn der künftige Herrscher sich mit seinen Schulkameraden messen ließe. Zudem sei es unfair den anderen gegenüber, da Karl doch durch die Hauslehrer einen Vorteil gehabt hatte.
Mittlerweile war es sicher, dass Karl eines Tages den Thron erben würde. Die Thronfolge war inzwischen auf seinen Onkel, Erzherzog Franz Ferdinand, übergegangen. Im normalen Falle hätte man davon ausgehen können, dass mit seiner Verehelichung eine neue Linie eröffnet würde, aber er setzte seine Heirat mit der...