1. Einleitung
1.1 Thema und Forschungsstand
Kaum ein Land ist so stark vom Zweiten Weltkrieg betroffen gewesen wie Weißrußland. Nach offiziellen Angaben wurden dort bei einer Bevölkerungszahl von 10,6 Millionen (1939) während der deutschen Besetzung 1941–1944 2,2 Millionen Zivilisten und Kriegsgefangene ermordet.1 In der nationalen weißrussischen Gedenkstätte an der Stelle, wo 1943 das Dorf Chatyn in Flammen aufging, symbolisieren drei Birken die Weißrussen, die den deutschen Überfall überlebten, eine Flamme brennt für ein weiteres Viertel der Weißrussen, die starben. Fast alle Städte des Landes waren 1944 völlig zerstört. Es gab drei Millionen Obdachlose. Die Zahl der Industriebetriebe war um 85 Prozent zurückgegangen, die Industriekapazität um 95 Prozent, die Saatfläche um 40 bis 50 Prozent und der Viehbestand um 80 Prozent.2 Weißrußland wurde in seiner wirtschaftlichen Entwicklung um Jahrzehnte zurückgeworfen und blieb für sehr lange Zeit vom Krieg geprägt.
Warum wurde dieses relativ unbedeutende Land, das nach dem Ersten Weltkrieg als Sowjetrepublik zum ersten Mal eine Autonomie erhalten hatte und seit 1991 formell unabhängig ist, von der deutschen Besatzungsmacht in besonderem Maß mit Tod und Vernichtung überzogen? Warum ein so armes, bäuerliches Land mit wenig Industrie und ohne Bodenschätze? Bei näherem Hinschauen zeigt sich: die von den größten Massenmorden betroffenen Bevölkerungsgruppen waren sowjetische Kriegsgefangene, Juden und im Zug der Partisanenbekämpfung getötete Bauern. Weshalb überlebte jeder dritte Kriegsgefangene, den die deutsche Heeresgruppe Mitte machte, bereits den Aufenthalt in diesem seinem ersten Abschubland nicht? Wie kam es zu dem schrecklichen Phänomen der »verbrannten Dörfer«, die zu hunderten – weit mehr als irgendwo sonst auch innerhalb der besetzten sowjetischen Gebiete – von deutschen Einheiten bei der sogenannten Partisanenbekämpfung3 mit den meisten oder mit allen Einwohnern vernichtet wurden?
Weißrußland wurde im Sommer 1941 in wenigen Wochen von der Wehrmacht erobert. Die Einsatzgruppe B der Sicherheitspolizei und des SD, Polizeibataillone und Sicherungsdivisionen begannen sofort mit der Bekämpfung politischer Gegner im weitesten Sinn: sie töteten Kommunisten, Verwaltungsfunktionäre, Kommissare der Roten Armee, versprengte und flüchtige Rotarmisten, Lehrer, Anwälte, die sogenannte Intelligenz, vor allem männliche jüdische Staatsangestellte und Funktionäre. Im Herbst 1941 weiteten sie ihre Aktionen aus: praktisch alle Juden im Osten Weißrußlands wurden binnen weniger Monate erschossen, dazu psychisch Kranke, Sinti und Roma, untergetauchte Rotarmisten, angebliche Partisanen und Hungerflüchtlinge. Viele Einwohner wurden gezwungen, die stark zerstörten und mangelhaft versorgten Städte zu verlassen. Zur gleichen Zeit organisierten Wehrmachtstellen ein furchtbares Massensterben durch Hunger unter den Kriegsgefangenen. Dem fielen in Weißrußland bis Anfang 1942 etwa eine halbe Million Männer zum Opfer; teils wurden sie auch erschossen. Bis 1944 wurde die Vernichtung von Kriegsgefangenen nie ganz gestoppt. Im Lauf des Jahres 1942 ermordeten SS und Polizei im Westen des Landes fast eine Viertelmillion Juden, beinahe alle noch verbliebenen. Teils taten sie das in Zusammenarbeit mit der Zivilverwaltung in örtlicher Initiative, teils in großen Mordkampagnen in den verschiedenen größeren Verwaltungsgebieten des von den Deutschen aufgeteilten Landes. Auf dem Land bekämpften Wehrmacht, SS und Polizei die erstarkte Partisanenbewegung mit neuen Methoden: große Verbände kreisten ihre Stützpunkte weiträumig ein und vernichteten in erster Linie die Dörfer in ihrem Vorfeld. 1943/44 überzogen sie mit verstärkten Kräften weite Teile Weißrußlands mit diesen Gewaltmethoden. Als die Rote Armee im Spätsommer und Herbst 1943 den äußersten Osten Weißrußlands zurückeroberte, reagierten die Deutschen mit Zwangsevakuierungen und Zerstörungen. Die letzten weißrussischen Juden wurden teils ermordet, teils deportiert. Im Sommer 1944 befreiten die sowjetischen Truppen Weißrußland restlos. Zwei der größten Schlachten des Krieges sind dort 1941 und 1944 geschlagen worden, und die weißrussische bewaffnete Widerstandsbewegung war die stärkste in Europa. Doch vor allem die deutschen Massenverbrechen drücktem dem Land ihren Stempel auf.
In der Forschung über die Besatzungsgeschichte Weißrußlands gibt es gravierende faktische Lücken, und es fehlt auch am Überblick über die Gesamtzusammenhänge. Im Westen erschien erst 1998 – nach Einreichen der Dissertation, die diesem Buch zugrunde liegt – eine erste eingehende Darstellung vorwiegend über die westlichen, ehemals polnischen Landesteile von Bernhard Chiari, die wertvolle Elemente einer Alltagsgeschichte liefert. Sie enthält allerdings anfechtbare Thesen hinsichtlich der deutschen Besatzungspolitik, wesentliche Bereiche bleiben ausgespart.4 Eine allerdings sehr knappe weißrussische Gesamtdarstellung erschien erst in den achtziger Jahren, dazu vor kurzem eine in polnischer Sprache.5 Die überholten Arbeiten von Alexander Dallin und Gerald Reitlinger über die deutsche Besatzungspolitik in der Sowjetunion enthalten jeweils ein knappes Weißrußland-Kapitel.6 Einen brauchbaren Aufriß der Besatzungspolitik liefert Witalij Wilenchik im Rahmen seiner Dissertation über die Partisanenbewegung in Weißrußland.7 In zwei Darstellungen über die deutsche Politik im Reichskommissariat Ostland (RKO), zu dem ein gutes Viertel Weißrußlands als »Generalkommissariat Weißruthenien«8 gehörte, taucht Weißrußland nur am Rande auf.9 Es ist eines der größten Forschungsprobleme, daß sich die Historiker außerhalb Weißrußlands und der Sowjetunion meist nach den deutschen Verwaltungseinteilungen richteten und deshalb allenfalls das GK Weißruthenien betrachteten. Die Frage nach ganz Weißrußland wurde außerhalb der Sowjetunion kaum gestellt. Doch stand etwa die Hälfte des Landes – der Osten – unter Militärverwaltung, ein Fünftel – der Süden – gehörte zum Reichskommissariat Ukraine und kleine Teile im Nordwesten zum Ostpreußen angegliederten Bezirk Bialystok und zum Generalkommissariat (GK) Litauen. Das führte zu Unkenntnis, Verengung der Fragestellungen und verzerrten Schlußfolgerungen.
Nach dem lange vorherrschenden Erklärungsmuster vernachlässigten die deutschen Zentralstellen das besetzte Weißrußland (identifiziert mit dem GK Weißruthenien). Deshalb sei dafür nur minderqualifiziertes Verwaltungspersonal übriggeblieben, das sich in Machtrausch, Rassenwahn und Vernichtungstaumel ergangen habe. Sich selbst überlassen, habe es achtlos agiert und ein Chaos angerichtet.10 Neben der Vorstellung vom Chaos hat noch eine zweite das wissenschaftlich erzeugte Bild der deutschen Besatzungspolitik geprägt. Weißrußland stand – vielleicht noch mehr denn Auschwitz – für eine »vom ökonomischen Standpunkt aus sinnlose Besatzungspolitik«, galt als Extremfall des Gegensatzes von »Ideologie und Pragmatismus«11, der Vernichtung als Selbstzweck ohne ersichtliche besatzungspolitische Ziele.12 Alle diese Darstellungen sind bei näherer Untersuchung der Ziele und Praxis deutscher Besatzungs- und Vernichtungspolitik nicht haltbar.
Etwas günstiger als bei den Gesamtdarstellungen sieht die Lage bei Arbeiten zu speziellen Themen aus, die meist bestimmte Gesichtspunkte der deutschen Besatzungspolitik und Verbrechen in größerem geographischem Rahmen behandeln. Darunter sind Gesamtdarstellungen der weißrussischen Geschichte aus offiziöser Sicht oder aus der von Exilanten,13 Untersuchungen der Besatzungspolitik der Wehrmacht14 – die nichts daran ändern, daß die Teile der besetzten sowjetischen Gebiete, die unter Zivilverwaltung standen, insgesamt erheblich besser erforscht sind – und zu einzelnen Aspekten und Gliederungen.15 Der Kenntnisstand über die Kollaboration von Weißrussen mit den Deutschen, darunter in den Lokalverwaltungen, ließ bis zur Arbeit von Chiari sehr zu wünschen übrig.16 Über das organisierte Massensterben der sowjetischen Kriegsgefangenen – die größte Opfergruppe in Weißrußland – liegt weiterhin nur die allerdings überragende Arbeit von Christian Streit vor, während Alfred Streim sich weitgehend darauf beschränkte, in der Bundesrepublik strafrechtlich relevante, im engsten Sinne direkte Tötungen zu erforschen.17 Hier hat der Mangel an Quellen die Forschung stark behindert. Noch schlechter ist die Forschungslage hinsichtlich der deutschen Partisanenbekämpfung, obwohl hier übergenug Quellen vorhanden sind. Zwar sind die Grundzüge der verbrecherischen deutschen Methoden bekannt, doch wurden sie in der Regel in...