Einleitung
»Hiermit wird angeordnet: Alle Bewohner der ländlichen Gebiete sowie alle Ansässigen außerhalb der befestigten militärischen Linien haben sich innerhalb von acht Tagen in von [spanischen, A. S.] Truppen besetzten Dörfern einzufinden. Wer nach dieser Frist abseits der Befestigungsanlagen aufgegriffen wird, gilt als Aufständischer und wird als solcher bestraft.« So lauteten die Worte des ersten Artikels des Befehls zur Reconcentración vom 21. Oktober 1896 für die Provinz Pinar del Río im Westen Kubas. Mit dieser Maßnahme sollte der während des Befreiungskrieges von 1895 bis 1898 über Sympathisanten und die Zivilbevölkerung erfolgte Zugang des kubanischen Befreiungsheeres (Ejército Libertador Cubano, ELC) zu Waffen, Nahrung, Medizin, Kleidern und zu militärisch wertvollen Informationen unterbunden werden. Ziel war die physische Trennung der kubanischen Guerilleros von der Zivilbevölkerung. Entvölkerte Landstriche wurden konsequent der Zerstörung anheimgegeben: Den Kämpfern für Cuba libre sollten möglichst alle Ressourcen entzogen werden. Der spanische Generalkapitän und Generalgouverneur Valeriano Weyler y Nicolau hatte die Reconcentración bereits kurz nach seiner Ankunft auf der Insel ein erstes Mal für den Osten Kubas angeordnet und sollte sie dann bis Ende Mai 1897 sukzessive über alle Provinzen verhängen.1
Die strategische Umsiedlungspolitik auf Kuba war in erster Linie ein militärisches Mittel gegen einen mobilen, kaum zu fassenden Gegner, der in der Bevölkerung regional großen Rückhalt genoss. In über 80 Reconcentrado-Zentren auf der Insel wurden mindestens 400000 Personen interniert. Nicht in allen Provinzen setzten die spanischen Truppen und vor Ort rekrutierte paramilitärische Contraguerillas die Befehle mit derselben Radikalität um. In den Westprovinzen fanden zusammen mit den intensiven Kriegshandlungen auch die umfassendsten Zwangsumsiedlungen statt. Diese zielten nicht auf eine spezifische Bevölkerungsgruppe, sondern auf die radikale Entvölkerung ganzer Gebiete: Sowohl weiße als auch schwarze Kubaner wurden Opfer der Internierung – auch vor den Kuba-Spaniern (Peninsulares) oder vor Ausländern machte sie nicht halt. Oftmals bekamen die mittellosen Reconcentrados eine Parzelle der im Umkreis der Befestigungsanlagen angelegten landwirtschaftlichen Anbauzonen zugewiesen, um sich dort selbst zu versorgen. Nach Auffassung des spanischen Generalstabs sollte die »fruchtbare Erde Kubas« eine kostenneutrale Durchführung der Reconcentración ermöglichen. Die im zweiten Kriegsjahr dekretierte Zwangsumsiedlung und die darauf folgenden Massendeportationen verschärften die Situation hochgradig. Bereits die kriegsbedingte (Zwangs-)Migration hatte die staatlichen Institutionen hoffnungslos überfordert. In überfüllten Städten und Dörfern starben die unter miserablen hygienischen Verhältnissen in improvisierten Hütten, Baracken und alten Lagerhäusern zusammengepferchten Reconcentrados zu Tausenden an Seuchen und Unterernährung. Die Anzahl ziviler Verluste ist in der Forschung bis heute umstritten. Es werden Zahlen zwischen 60000 und 500000 genannt.2 Neuere Studien gehen von um die 170000 zivilen Opfern aus, was ungefähr 10 Prozent der Bevölkerung der Insel entsprach.3
In historischer Perspektive waren Zwangsumsiedlung und Internierung in umkämpften Gebieten mit dem Ziel der Bevölkerungskontrolle keine neuen Phänomene.4 Darauf hatte General Weyler bereits im Prolog einer 1897 erschienenen Publikation zum Krieg aufmerksam gemacht. Er legte dar, dass andere Kriegsherren in vergleichbaren Konflikten ähnlich vorgegangen seien wie er auf Kuba. Dessen ungeachtet findet sich in der neuesten Forschung noch immer der Hinweis, die Reconcentración sei eine »neuartige Strategie« der Antiguerilla gewesen.5 Tatsächlich bediente sich im ausgehenden 18. Jahrhundert die britische Aufstandsbekämpfung in Ganjam (Britisch-Indien) ähnlicher Methoden. Auch der spanische General Emilio Calleja befahl 1811 in Mexiko die Schaffung von Wehrdörfern. Die befestigten Orte und die Kontrolle der Einwohner waren ein zentrales Element seiner Konzeption der Guerillabekämpfung. Als weitere Beispiele können für das 19. Jahrhundert – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – die Indianerkriege und die Reservatspolitik in den USA sowie die Entvölkerung ganzer Landstriche in den Grenzstaaten im Rahmen der Guerillabekämpfung während des Amerikanischen Bürgerkrieges angeführt werden.6
Auch auf Kuba hatten spanische Offiziere bereits vor dem Befreiungskrieg von 1895 bis 1898 Erfahrungen mit strategischen Umsiedlungen gesammelt. So etwa während des Zehnjährigen Krieges (Guerra de los Diez Años, 1868–1878) und des Kleinen Krieges (Guerra Chiquita, 1879/80). Der Zehnjährige Krieg stellte nach den gescheiterten kolonialen Reformversuchen der spanischen Metropole einen ersten Anlauf für eine koordinierte Unabhängigkeitsrevolution dar. Der Kleine Krieg kann als Fortsetzung dieser Kämpfe durch den harten Kern der radikalen Freiheitskämpfer gedeutet werden. In beiden geografisch begrenzten bewaffneten Konflikten erreichte die Reconcentración indes weder das Ausmaß noch die Intensität wie während des Befreiungskrieges, der bereits Ende des Jahres 1895 die ganze Insel erfasst hatte. Die militärtheoretische Debatte zur Reconcentración auf Kuba geht jedoch auf den Zehnjährigen Krieg zurück: Diverse Kommandeure und Publizisten sahen in der Umsiedlung der Landbevölkerung in militärisch befestigte Zentren das einzige Mittel, den Konflikt auf der Insel rasch zu beenden.
Obwohl die Unabhängigkeitskriege auf Kuba in mancher Hinsicht als Vorboten für die »dirty wars« der Dekolonisierung ab 1945 gelten können,7 sind die sozialen Auswirkungen der Zwangsumsiedlung bis heute fast gänzlich unerforscht. Die Reconcentración wird zwar in praktisch jeder Gesamtdarstellung zur Geschichte Kubas angesprochen und in Monografien zum Krieg aufgegriffen, jedoch lediglich in wenigen Sätzen abgehandelt.8 Einzelstudien zum Thema sind rar. Sucht man spezifische Informationen, so wird das Forschungsdesiderat offensichtlich: Bereits auf grundlegende Fragen nach den Gründen, der Durchführung und den sozialen Auswirkungen der Zwangsumsiedlung bleibt die Forschung Antworten schuldig. Erst im Jahr 1998, 100 Jahre nach den Ereignissen, erfuhr die Reconcentración auf Kuba durch den kubanischen Historiker Francisco Pérez Guzmán eine erste wissenschaftlich fundierte Aufarbeitung. Mit einem Dutzend Aufsätzen und einem zentralen Kapitel in der kürzlich von dem US-Wissenschaftler John L. Tone vorgelegten Monografie »War and Genocide in Cuba« liegen mittlerweile mehrere Zugänge zum Thema vor.9 Doch die meisten Arbeiten stützen sich auf eine dünne Faktengrundlage und sind lediglich Spezialisten bekannt.
Der vorliegende Band soll daher ausgehend von einer neuen Quellenbasis einen fundierten Beitrag zur Diskussion der spanischen Reconcentración auf Kuba leisten. Ausgangspunkt ist eine sozial- und alltagsgeschichtliche Perspektive, wobei auch den für das Verständnis nötigen militärgeschichtlichen Aspekten Raum gewährt wird. Im Fokus stehen insbesondere Fragen, welche die Dynamik des Phänomens und die multiplen Akteure ins Zentrum rücken: Wie wurde die Reconcentración in den verschiedenen Provinzen und Bezirken der Insel umgesetzt? Welche Regionen waren wie stark von der Zwangsumsiedlung betroffen? Wie wirkten sich die Aktionen des ELC auf den Lebensalltag der Internierten aus? Wie groß war der Handlungsspielraum der unterschiedlichen Akteure? Welchen Einfluss hatten der internationale Druck und die Proteste in den USA gegen das Massensterben auf der Insel? Und wie ging schließlich die Beendigung der Zwangsumsiedlung vonstatten?
Zur Beantwortung dieser und weiterer Fragen wurden die einschlägigen Bestände der spanischen Militärarchive von Madrid10 und Segovia, der Nationalarchive Kubas und Spaniens sowie der Manuskriptsammlung der Biblioteca Nacional »José Martí« und die Nachlässe im Instituto de Historia de Cuba historisch-kritisch ausgewertet.11 Zur Analyse der regionalen Auswirkungen der Reconcentración wurde das Provinzarchiv Pinar del Río konsultiert.12 Die in der spanischen Nationalbibliothek zugängliche Sammlung von Druckerzeugnissen der vormaligen Bibliothek des Ministeriums für Übersee ergänzt zusammen mit weiteren Büchersammlungen das der Untersuchung zugrunde liegende Spektrum an gedruckten Quellen, Kriegstagebüchern und Memoiren.13
Den globalhistorischen Rahmen der Studie bilden die aktuellen »Lagerdiskussionen«. In der neueren Globalgeschichte markiert die Reconcentración auf Kuba den »Ursprung« des modernen Konzentrationslagers. Manche Historiker sind überzeugt, dass »[d]ie ersten Konzentrationslager 1896 auf Kuba errichtet [wurden]«. In der Literatur zeichnen daher der spanische General Weyler und das Jahr 1896 verantwortlich für den Aufbruch in ein...