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E-Book

Kalter Krieg um Speer und Heß

Die Geschichte der Gefangenen von Spandau

AutorNorman J. W. Goda
VerlagCampus Verlag
Erscheinungsjahr2009
Seitenanzahl458 Seiten
ISBN9783593405551
FormatPDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis33,99 EUR
Albert Speer, Rudolf Heß und fünf weitere hohe Vertreter des Dritten Reichs* wurden in den Nürnberger Prozessen zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Doch was sollte mit ihnen geschehen? Norman Goda schildert, wie sich die vier Siegermächte in harten, bereits vom Kalten Krieg geprägten Verhandlungen auf einen Ort für das Gefängnis und auf strenge Haftregelungen einigten. Während die Vertreter der Sowjetunion die NS-Verbrecher möglichst hart bestrafen wollten, wünschten die westlichen Mächte eine mildere Behandlung. Spannend zu lesen ist, mit welchen Maßnahmen verhindert werden sollte, dass die Gefangenen zu Märtyrern stilisiert wurden. Goda macht deutlich, wie sehr die Sowjets von der Angst getrieben waren, der Nationalsozialismus in Deutschland könne wieder erstarken. Und das Ende? Nach dem Tod von Rudolf Heß 1987 wurde das Spandauer Gefängnis dem Erdboden gleichgemacht - kein Bruchstück eines Steins blieb übrig, um alten und neuen Nazis als Reliquie zu dienen.

Norman J. W. Goda ist Professor für Zeitgeschichte an der Ohio University, USA. Er lehrt dort vor allem zur Geschichte des Nationalsozialismus und des Kalten Krieges. Von 2000 bis 2007 war er Berater der US-Regierung in Zusammenhang mit Akten zu NS-Kriegsverbrechern. 2005 erschien von ihm ein Buch über den US-Geheimdienst und die Nazis.

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Leseprobe
Einleitung
'Wenn wir je alle draußen sind, wird keiner von uns den anderen wiedersehen; ganz sicher werden wir nie über Spandau lachen.' Rudolf Heß
Kein Tod wurde je so akribisch geplant wie der von Rudolf Heß, mit dessen Ableben man jeden Moment rechnete, als er im April 1987 93 Jahre alt wurde. In einer anderen Zeit hatte Heß zum engsten Kreis um Adolf Hitler gehört und war der drittwichtigste Mann in Deutschland gewesen. Zusammen mit Hitler hatte er im November 1923 in München versucht, an die Macht zu kommen, war verurteilt worden und hatte 1924 ergeben seine Haftstrafe mit Hitler abgesessen. Als Hitlers Stellvertreter in der NSDAP befand sich seine Unterschrift auf zahlreichen wichtigen Dokumenten vor und nach 1939, als Hitler die Welt in Flammen aufgehen ließ. 1987 war Heß der einzige verbliebene Häftling des Alliierten Kriegsverbrechergefängnisses Spandau im britischen Sektor von West-Berlin. In den vergangenen vier Jahrzehnten hatten die vier Mächte, die den Nationalsozialismus besiegt hatten (die USA, Großbritannien, Frankreich und die Sowjetunion) in diesem stattlichen preußischen Gebäude aus dem 19. Jahrhundert Hitlers engste noch lebende Mitarbeiter inhaftiert, die beim berühmten Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg zu Haftstrafen verurteilt worden waren. Über zwei Jahrzehnte lang war Heß schließlich der einzige Häftling in Spandau.
Heß wurde als paranoid diagnostiziert und war davon überzeugt, dass die Alliierten ihn vergiften wollten. Er war außerdem ein Hypochonder, der seine Mitgefangenen (und die alliierten Wärter) während der ersten fünf Jahre in Spandau durch sein Stöhnen wegen eingebildeter Magenschmerzen nachts um den Schlaf brachte. In seinen letzten Lebensjahren war er ständig gereizt und immer noch der überzeugte Nationalsozialist, der er schon 1924 gewesen war, als ihm Hitler im Landsberger Gefängnis Mein Kampf diktierte. Nur wenige Monate vor seinem Tod gestanden ihm die Amerikaner eine eigene Krankenschwester zu, doch Heß schickte sie wieder weg, weil sie schwarz war. In seinem Testament für die Nachwelt, das die Sowjets 1986 entdeckten, behauptete Heß, Hitler habe nie den Krieg mit den Westmächten gewollt. Irgendwie, so glaubte Heß, wurde Hitler durch eine geheime Macht in seinem Unterbewusstsein dazu gezwungen - eine Macht, die von Deutschlands größter Nemesis, den Juden, kontrolliert wurde. Außerdem sinnierte Heß über die Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik, die seiner Meinung nach den Nationalsozialismus oder eine ähnliche Bewegung wieder an die Macht bringen würde.
Doch obwohl Heß abgesehen von seinen Phantasien und Klagen nicht viel vorzuweisen hatte, war er in den achtziger Jahren bereits zum Symbol geworden. Sein Dasein als einziger Gefangener in Spandau stand für die unversöhnliche Haltung der Sowjetunion gegenüber dem Nationalsozialismus, ihre Angst, dass der Nationalsozialismus nicht vollständig beseitigt sei, und die Überzeugung, dass die Kommunisten die einzig wahren Gegner des Nationalsozialismus seien. Denn der Kreml verweigerte wieder und wieder eine Entlassung von Heß. Die wiederholten Versuche der Alliierten, Heß in ein Sanatorium zu verlegen oder ihn in die Obhut seiner Familie zu geben, kündeten von der selbstbewussten Überzeugung in den westeuropäischen Hauptstädten, dass der Nationalsozialismus in der Bundesrepublik keine Chance mehr hatte und dass selbst für einen Mann wie Heß humanitäre Überlegungen galten. Für die Regierung der Bundesrepublik und für West- Berlin repräsentierte Heß die Absurdität des Kalten Krieges. Die West-Berliner trugen die finanzielle Last für das Spandauer Gefängnis aufgrund eines Arrangements, das selbst nach den wirren Standards in der Frühzeit des Kalten Krieges kaum durchdacht war. Die Inhaftierung von Heß in Spandau stand außerdem dem Wunsch der Bundesrepublik im Weg, den langen Schatten des Nationalsozialismus hinter sich zu lassen. Und für die Familie von Heß und seine ultrarechten Anhänger symbolisierte der ehemalige Stellvertreter Hitlers all die angeblichen Ungerechtigkeiten der Nürnberger Prozesse - von der Siegerjustiz bis zu Beweismitteln, die angeblich ignoriert worden waren und die Urteile von Nürnberg auf den Kopf gestellt hatten.
Daher musste der Tod von Rudolf Heß mit Sorgfalt gehandhabt werden. Im Oktober 1982, als Heß 88 Jahre alt war, hatten sich die vier Mächte geeinigt, dass sein Leichnam nach einer offiziellen Autopsie heimlich in seine Heimat Bayern geflogen und dort seiner Familie übergeben werden sollte. Das war eine großzügige Geste. Während des 35-jährigen Bestehens des Spandauer Gefängnisses hatten es die Sowjets stets abgelehnt, die sterblichen Überreste eines in Haft verstorbenen Kriegsverbrechers herauszugeben. In Moskau fürchtete man, dass die Freigabe des Leichnams ein öffentlichkeitswirksames politisches Begräbnis oder gar die Errichtung einer Pilgerstätte nach sich ziehen würde. Bis 1982 war vorgesehen gewesen, dass Heß' Leiche unter Aufsicht der Gefängnisverwaltung eingeäschert werden sollte. Nun waren die Sowjets bereit, der Familie die sterblichen Überreste zu überlassen, allerdings nur unter bestimmten Bedingungen. Die westlichen Alliierten mussten ihren Einfluss bei den bundesdeutschen Behörden geltend machen und sicherstellen, dass die Beerdigung nicht zu einer nationalsozialistischen Demonstration wurde. Außerdem durfte das Begräbnis nur im Familienkreis stattfinden. Heß' Besitz, von seiner Luftwaffenuniform über seine Taschenuhr bis zu seinem Gebiss, sollte vernichtet werden, weil man auch hier verhindern wollte, dass daraus nationalsozialistische Kultobjekte wurden. Heß' Sohn Wolf Rüdiger verpflichtete sich schriftlich und bei seiner Ehre, ein stilles Begräbnis im engsten Familienkreis abzuhalten. Jegliches Aufsehen sollte vermieden werden. Doch am 17. August 1987 tat Rudolf Heß etwas, das die ausgeklügelten Pläne und Vorkehrungen völlig durcheinander brachte: Er erhängte sich.
Sofort verbreiteten sich mit Hilfe der Familie Heß von Bayern aus Gerüchte, Heß sei von den Alliierten ermordet worden. Und während sich die Alliierten noch herauszufinden mühten, wie der weltweit am strengsten bewachte Häftling Selbstmord begehen konnte - und das immerhin im Alter von 93 Jahren -, blieb die Frage, was mit dem Gefängnis Spandau geschehen sollte. Der letzte Häftling war tot. 1982 hatte man vereinbart, dass das Gefängnis nach Heß' Tod sobald wie möglich zerstört werden sollte, damit es nicht zur Pilgerstätte für deutsche Heß-Anhänger oder NS-Nostalgiker werden konnte. Auch die West-Berliner Stadtverwaltung, die sich Sorgen machte, dass eine Kontroverse um das Spandauer Gefängnis dem Image der Stadt schaden könnte, diskutierte bereits seit Jahren über den Abriss. Als sich der Abriss aufgrund der Untersuchungen nach dem Selbstmord verzögerte, fragte der Regierende Bürgermeister von Berlin besorgt bei den britischen Behörden an und beklagte, dass 'der Widerstand gegen einen Abriss des Gefängnisses täglich wächst, und [...] je länger wir warten, desto schwieriger wird die Situation'.
Die britischen Militärbehörden in West-Berlin hatten ein deutsches Unternehmen mit dem Abriss beauftragt (nach der Prüfung von drei Angeboten). Bis die Bagger und Abrissbirnen anrückten, schickten sie zur Beruhigung des Regierenden Bürgermeisters schon einmal 100 britische Soldaten, die mit Äxten die Fenster und Dächer zerstörten. Damit sollte auf Bitten der Bundesrepublik demonstriert werden, dass das Gefängnis auf keinen Fall stehen bleiben würde. Außerdem errichteten die Briten eilends einen neuen Sicherheitszaun um das Gelände, damit keine Souvenirs entwendet werden konnten. Ein britischer Lastwagenkonvoi transportierte Abrissholz und Schrott aus dem Gefängnis zu einem Depot des britischen Militärs in West-Berlin, wo es mit anderem Abrissmaterial gemischt wurde, damit die Herkunft nicht mehr zu erkennen war, und dann im privaten Bausektor weiterverwendet wurde. Der deutsche Unternehmer, der den Zuschlag bekommen hatte, erhielt Drohanrufe, dennoch riss seine Firma das Spandauer Gefängnis im September 1987 unter britischer Aufsicht ab. Die Ziegel wurden zum Luftwaffenstützpunkt Gatow im britischen Sektor transportiert, dort vergraben, mit Erde bedeckt und mit Bäumen bepflanzt, damit sie auch für diejenigen unerreichbar waren, die der Abrissfirma bis zu 800 D-Mark pro Backstein geboten hatten. So wurde das Gefängnis kurz nach seinem letzten Insassen begraben.
Und damit endete die Geschichte des bizarrsten Gefängnisses der Geschichte. So etwas wie Spandau hatte es noch nie zuvor gegeben, dennoch existierte bislang keine seriöse geschichtswissenschaftliche Untersuchung über das Gefängnis und die umstrittene Politik der Siegermächte in Zusammenhang mit seinen berüchtigten Häftlingen. Spandau war das einzige Gefängnis für NS-Kriegsverbrecher unter internationaler Verwaltung. Es war die einzige Haftanstalt für Kriegsverbrecher, wo viele Häftlinge ihre volle Haftstrafe absitzen mussten, die von zehn und zwanzig Jahren bis zu lebenslänglich reichte. Spandau war das lebendige Vermächtnis eines Nachkriegsprozesses, von dem die meisten Menschen in der westlichen Welt schon einmal gehört haben, des Prozesses gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg. Dieser Nürnberger Prozess wurde zum Modell für zukünftige internationale Strafverfahren, von den Nachfolgeprozessen vor einem amerikanischen Gerichtshof in Nürnberg über den Prozess gegen Adolf Eichmann 1961 in Jerusalem bis zu den Prozessen gegen jugoslawische Kriegsverbrecher vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag und den Prozessen gegen die Hutu-Mörder von Ruanda Mitte der neunziger Jahre in Arusha, Tansania. Im positiven wie im negativen Sinn war das Spandauer Gefängnis ein Teil des Vermächtnisses von Nürnberg.
Das Gefängnis hatte viele widersprüchliche Facetten, die sich nicht reproduzieren lassen. Nach dem Nürnberger Prozess waren dort nur sieben Gefangene inhaftiert, aus den sieben wurden sechs, dann fünf, dann vier, dann drei, bis schließlich über 20 Jahre lang nur einer übrigblieb. Spandau unterstand der Kontrolle der Alliierten, deren Verhältnis untereinander von Misstrauen geprägt war, vor allem, wenn es um das Schicksal Deutschlands ging. Für die Häftlinge gab es Vorschriften für die Mahlzeiten, ihre Korrespondenz, für Besuche und zur Geheimhaltung, die milde ausgedrückt seltsam waren. Nach 1948 existierte für Spandau keine zuständige obere Verwaltungsinstanz mehr, Anpassungen an die veränderten Zeitumstände waren nur über mühsame internationale Verhandlungen möglich. Es gab keine Regelungen für den reibungslosen Ablauf von Bewährungsmaßnahmen, Begnadigungen, Krankenhausaufenthalten oder den Todesfall eines Gefangenen. Eine Gefängnisverwaltung wie in Spandau könnte heutzutage gar nicht mehr eingerichtet werden.
Daher lohnt sich eine genauere Betrachtung der Geschichte Spandaus und seiner berühmten Gefangenen. Die Möglichkeiten dazu sind gegeben. Zwar sind die offiziellen sowjetischen Unterlagen zum Gefängnis nach wie vor unter Verschluss; die britischen Unterlagen sind erst 30 Jahre nach ihrer Entstehung der Öffentlichkeit zugänglich (das heißt, dass die Dokumente von 1987 erst im Jahr 2017 zur Verfügung stehen werden); einige französische Unterlagen zu Spandau kann man zwar einsehen, doch andere sind bis Mitte des 21. Jahrhunderts gesperrt, aber es gibt eine Vielzahl anderer Quellen. Zu ihnen gehören die Unterlagen der britischen, amerikanischen und französischen Militärverwaltungen aus den Jahren 1945 bis 1949 sowie diplomatische Dokumente aus den fünfziger Jahren bis Mitte der siebziger Jahre. Auch Quellen aus der Bundesrepublik und der DDR sind bis zu der Zeit verfügbar. Seit 2001 sind außerdem die persönlichen Unterlagen Albert Speers zugänglich, des wahrscheinlich umstrittensten und sicher wortgewandtesten Spandauer Häftlings.13 Speers umfangreiche Papiere sind besonders interessant. Zusammen mit anderen Unterlagen liefern sie das notwendige Gegengewicht zu seinen berühmten Spandauer Tagebüchern, die er nach seiner Entlassung 1966 selektiv aus den Tausenden Notizen zusammenstellte, die im Lauf seiner 20-jährigen Haftstrafe aus dem Gefängnis geschmuggelt worden waren. Die Spandauer Tagebücher waren über 30 Jahre lang die einzige Quelle, die Einblick ins Spandauer Gefängnisleben gewährten. Trotz der akkuraten Darstellung der tagtäglichen Ereignisse lassen die Tagebücher aufgrund ihrer subjektiven Perspektive vieles unangetastet und stellen zudem Speers berühmte Gewissensqualen bewusst falsch dar.
Seit kurzem sind auch die Unterlagen des Gefängnisses selbst zugänglich, darunter die Protokolle der wöchentlichen Besprechungen der Gefängnisdirektoren, die häufig von Auseinandersetzungen geprägt waren. Mit dem Beschluss zum Abriss des Gefängnisses forderten die Sowjets, dass auch sämtliche Gefängnisunterlagen vernichtet werden sollten. Alle Dokumente aus dem Gefängnis trugen den offiziellen Stempel der Haftanstalt Spandau, und die Regierung in Moskau fürchtete, dass die Dokumente ebenso wie die Habseligkeiten von Heß zu Souvenirs werden könnten. Dennoch einigten sich die vier Mächte darauf, von den Dokumenten Kopien auf Mikrofilm zu fertigen. Nach intensiven Vorarbeiten wurden acht Kopien der Archive des Alliierten Gefängnisses Spandau (fast 84.000 Seiten) auf 36 Rollen Mikrofilm gezogen. Die Mächte erhielten also jeweils zwei Kopien. Die britischen, französischen und russischen Kopien sind noch unter Verschluss, doch die amerikanischen im Nationalarchiv bei Washington stehen Wissenschaftlern zur Verfügung. Und schließlich wurden durch das Gesetz zur Offenlegung der NS-Kriegsverbrechen von 1998, laut dem alle US-Unterlagen zu NS-Kriegsverbrechen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden müssen, fast 10.000 Seiten bisher unter Verschluss stehender Unterlagen des Außenministeriums aus den siebziger und achtziger Jahren freigegeben, darunter auch Dokumente über internationale Auseinandersetzungen und Abkommen zu Rudolf Heß. Daher muss man in vielerlei Hinsicht gar nicht warten, bis andere Länder ihre Dokumente in einem Jahrzehnt oder später freigeben.
Aber warum ist ein Buch über die Verurteilungen und Haft von sieben Kriegsverbrechern von Bedeutung? Das hat verschiedene Gründe. Spandau ergänzt die Studien, die in den vergangenen 15 Jahren über die Auseinandersetzung der Deutschen mit ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit in der Nachkriegszeit und über andere nationale Erinnerungen zum Zweiten Weltkrieg erschienen. Das Urteil zur Vergangenheitsbewältigung in den beiden deutschen Republiken fällt unterschiedlich aus, vor allem was die Aufrichtigkeit und Direktheit betrifft, mit der die Deutschen ihre Verantwortung akzeptierten. Die meisten Deutschen, die den Krieg erlebten, sahen sich lieber als Opfer der Nationalsozialisten, der Bomben der Alliierten oder der Roten Armee anstatt als aktive oder passive Komplizen ihrer eigenen Regierung. Die Reaktion der Deutschen auf ausländische Kriegsverbrechertribunale fiel allgemein negativ aus. Auch die langjährigen Haftstrafen für Deutsche, ob in der Bundesrepublik, in Italien, den Niederlanden, in Polen, Jugoslawien, der UdSSR oder anderswo, stießen in überwältigendem Maße auf Ablehnung. Die Kriegsverbrecher wurden nicht als Kriminelle, sondern als politische Gefangene betrachtet. Über die Reparationszahlungen an Juden, die Abschaffung der Verjährungsfrist für Mord in der Bundesrepublik, die Umgestaltung ehemaliger Konzentrationslager zu Gedenkstätten und in jüngster Zeit über die Ausstellung zu den Verbrechen der Wehrmacht wurde in der deutschen Öffentlichkeit heftig debattiert.
Spandau fügt sich in dieses Bild ein. Die Regierungen der Bundesrepublik verhandelten unermüdlich über die Freilassung Deutscher, die von amerikanischen, französischen, britischen, niederländischen, italienischen und anderen Gerichten für schuldig befunden worden waren und in einem der Länder in Haft saßen. Bei den Häftlingen in Spandau waren sie jedoch vorsichtiger. Die bundesdeutsche Öffentlichkeit, von der Presse über die Kirchen und Veteranenvereinigungen bis zum Roten Kreuz, drängten auf die Freilassung der Kriegsverbrecher von Nürnberg, angetrieben von dem zusätzlichen Argument, sie würden von den Sowjets misshandelt. Doch die Regierung in Bonn erkannte die politische Brisanz der Häftlinge. Zum einen waren sie im Prozess des Jahrhunderts schuldig gesprochen worden. Zum anderen wurden sie nicht von einem Land, sondern von den vier Siegermächten festgehalten. Und eine dieser vier Mächte war die Sowjetunion, die das offizielle Eintreten für die Hauptkriegsverbrecher propagandistisch ausnutzen konnte und die Gesellschaft der Bundesrepublik ohnehin als unverbesserlich revanchistisch und als Abwandlung des Nationalsozialismus betrachtete.
Spandau war ein Sonderfall, weil sich dort nicht nur die Erinnerung der Deutschen an den Krieg fokussierte, sondern auch vieler anderer. Auch nach Nürnberg wurden nur in den britischen und amerikanischen Prozessen Deutsche wegen Verbrechen angeklagt, die sie gegen andere Nationen begangen hatten. Die angloamerikanischen Ankläger gingen den Nürnberger Prozess in der Hoffnung an, eine Vielzahl universaler juristischer und historischer Ansprüche zu erfüllen, doch die Erinnerungen der Briten und Amerikaner an den Zweiten Weltkrieg milderten sich im Lauf der Zeit, und ihre Haltung wurde versöhnlicher. Die meisten deutschen Kriegsverbrechen waren (mit einigen wenigen wichtigen Ausnahmen) nicht gegen angloamerikanische Soldaten gerichtet. England war zwar bombardiert, doch ebenso wenig wie die USA von ausländischen Truppen besetzt worden. In den Jahren nach dem Krieg konzentrierte sich die britische Erinnerung auf die Heldentaten der Royal-Air-Force-Piloten in der Luftschlacht um England und das Duell in der Wüste zwischen Montgomerys 8. Armee und Rommels Afrikakorps; die Verbrechen gegen britische Gefangene gerieten in den Hintergrund. Für die Amerikaner war und ist der entscheidende Moment des Krieges in Europa die Landung in der Normandie vom Juni 1944. Das Massaker an amerikanischen Kriegsgefangenen in Malmédy im Dezember 1944 durch die Waffen-SS sorgte zwar für Empörung und war im Grunde auch der Anlass für Tribunale gegen Kriegsverbrecher, in das nationale Gedächtnis hatte sich jedoch die hart umkämpfte Landung am D-Day eingegraben. Frankreich hatte unter dem Einfall der Deutschen und der anschließenden Besatzung zu leiden, doch die Erinnerung der Franzosen an deutsche Kriegsverbrechen konzentrierte sich in erster Linie auf die Greueltaten in Frankreich, vorzugsweise ohne Beteiligung französischer Kollaborateure. Zudem betrachteten schon bald alle drei Länder die Sowjetunion als größere Bedrohung als das wiederaufstrebende Deutschland.
Die sowjetischen Erinnerungen an den Krieg waren etwas ganz anderes. Trotz der willkürlichen und paranoiden Brutalität des stalinistischen Systems gegen die eigenen Bürger und trotz Stalins Pakt mit Hitler bis Mitte 1941 war die offizielle Erinnerung an den Krieg vom überraschenden Einmarsch der deutschen Truppen im Juni 1941 und der anschließenden deutschen Politik der Vernichtung geprägt. Aufgrund der Ermordung von Millionen Juden und anderer Zivilisten sowie sowjetischer Kriegsgefangener durch Erschießen, systematisches Verhungern und Vergasen definierte die Sowjetunion den Krieg von Anfang an über die deutschen Greueltaten. Ab Frühjahr 1942 sammelte eine sowjetische Ermittlungskommission, die Außerordentliche Staatliche Kommission, Tausende und Abertausende Dokumente und über eine Viertelmillion Zeugenaussagen und untersuchte forensische Beweise. Gleichzeitig rief die sowjetische Regierung international dazu auf, die Verbrechen juristisch zu ahnden. Bereits im Dezember 1943 wurden in Charkow nach dem Massenmord an Zivilisten (zwischen jüdischen Opfern und sowjetischen Zivilisten wurde im Grunde nicht unterschieden) sowjetische Kriegsverbrechertribunale abgehalten. Trotz sowjetischer Greueltaten an polnischen Zivilisten und Offizieren der polnischen Armee vor dem Einmarsch der Deutschen und trotz sowjetischer Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung beim Vormarsch 1944 und 1945 in Polen, Rumänien, Ungarn und Deutschland erinnert man sich an den 'Großen Vaterländischen Krieg' als einen gerechten Krieg - einen Befreiungskrieg gegen einen imperialistischen und mörderischen Angreifer. Vergebung war daher unmöglich. Kritiker am Internationalen Militärgerichtshof verwiesen auf die Ironie, dass eine brutale Diktatur zu Gericht über eine andere brutale Diktatur saß. Doch unter Berufung auf das Ausmaß des sowjetischen Leids und die kommunistische Dialektik, laut der alle Kriege, die von Kommunisten geführt werden, Befreiungskriege sind, gaben die Sowjets vor, keinen Widerspruch zu erkennen.
Die unterschiedliche Wahrnehmung des Krieges und seiner Bedeutung bei den Alliierten prallten im Fall des Spandauer Gefängnisses aufeinander, das zudem direkt zwischen den Fronten des sich anbahnenden Kalten Krieges lag. Spandau kam damit auch eine strategische Bedeutung zu. Das besiegte Deutschland war nach dem Krieg in vier militärische Besatzungszonen aufgeteilt worden, und Berlin, das innerhalb der sowjetischen Zone lag, war ebenfalls in vier Sektoren aufgeteilt. Die Stadt Berlin sollte wie ganz Deutschland von den vier Mächten gemeinsam verwaltet werden. Wenn diese Zusammenarbeit scheiterte, würde auch die gemeinsame Verwaltung Berlins enden, und vielleicht würde dem Westen der Zugang zur Stadt komplett verwehrt, falls sich die Sowjets entschieden, Gewalt einzusetzen. Im Sommer 1948 stellten die Sowjets das Zugangsrecht der westlichen Alliierten zu den Westsektoren Berlins in Frage. Verärgert über die demokratischen und marktwirtschaftlichen Reformen in den Gebieten unter Kontrolle der Westalliierten, verließen die sowjetische Delegationen die Organe des Alliierten Kontrollrats, über die Deutschland und Berlin regiert werden sollten. Dann blockierten sowjetische Truppen die Straßen und Eisenbahnlinien, die durch die sowjetische Besatzungszone nach West-Berlin führten. Mit der Berlin-Blockade war die Zusammenarbeit der vier Mächte in der Stadt am Ende. Es folgten die Luftbrücke der westlichen Alliierten, über die die zwei Millionen Einwohner West-Berlins mit Lebensmitteln und Medikamenten versorgt wurden, und die Gründung von zwei verschiedenen deutschen Staaten 1949. Da die von den Sowjets unterstützte Deutsche Demokratische Republik für ihre Legitimation auf ein vereintes Berlin angewiesen war, versuchten die Sowjets im Kalten Krieg immer wieder, die Präsenz der Westalliierten im Westteil der Stadt zu beenden.
Spandau war in diesem Kampf zwischen Ost und West eine Anomalie. Als die Beziehungen zwischen den vier Mächten in fast jeder Hinsicht abrissen, war Spandau (zusammen mit der Berliner Luftsicherheitszentrale) die einzige Einrichtung, wo die vier Mächte noch zusammenarbeiteten. Besessen von der Bestrafung der Hauptkriegsverbrecher, wollten die Sowjets auf keinen Fall auf ihr Recht verzichten, sie im britischen Sektor von Berlin zusammen mit den anderen Alliierten zu bewachen. Ebenso entschlossen wahrten die westlichen Alliierten ihre Rechte in West-Berlin und waren nicht bereit, ihre Sektoren preiszugeben. Das Spandauer Gefängnis wurde somit zum Symbol für eine vier Jahrzehnte währende Erklärung der Alliierten: dass Berlin unter der Verwaltung der vier Mächte bleiben würde, bis alle vier Mächte, und nicht nur die Sowjets, etwas anderes beschlossen. Die Alliierten konnten weder ihre Viermächteverpflichtungen in Spandau aufgeben noch die deutschen Gefangenen an einen anderen Ort verlegen, ohne gleichzeitig weiter gefasste Bemühungen der Sowjets zu legitimieren, die westlichen Mächte aus der Stadt zu drängen. Die Sowjets, die sich jedem Versuch zur Entlassung der Kriegsverbrecher und zur Verbesserung der Haftbedingungen widersetzten, wussten das sehr gut und verwiesen ständig auf die Unantastbarkeit des Viermächteabkommens für Berlin, obwohl Moskau die Viermächteregelung als solche abgelehnt hatte. Auch die Regierung der Bundesrepublik verstand mit der Zeit, dass Spandau im Grunde eine Garantie dafür war, dass die Bürger West- Berlins weiterhin unter dem Schutz der westlichen Alliierten lebten. In bizarrer Weise trug die lange Haft von Hitlers engsten noch lebenden Mitarbeitern dazu bei, die West-Berliner vor der kommunistischen Herrschaft zu schützen. Selbst die langwierigen Verhandlungen über den Tod von Heß in den siebziger und achtziger Jahren wurden aus Angst darum geführt, dass ein Ende der Zusammenarbeit in Spandau eine neue Berlin-Krise heraufbeschwören könnte.
Doch Spandau hat nicht nur eine historische, sondern auch eine aktuelle Bedeutung. Derzeit diskutiert man weltweit, wie man mit den hochrangigen Kriegsverbrechern der jüngsten Konflikte verfahren soll. 1993 und 1994 richteten die Vereinten Nationen zwei Ad-Hoc-Strafgerichtshöfe ein, den Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (International Criminal Tribunal for the Former Yugoslavia, ICTY) und den Internationalen Strafgerichtshof für Ruanda (International Criminal Tribunal for Ruanda, ICTR) zur Verurteilung der Täter bei den Konflikten und Völkermorden in der Region. 1998 riefen die Vereinten Nationen den Internationalen Strafgerichtshof (International Criminal Court, ICC) ins Leben, ein ständiges Gericht für aktuelle und zukünftige Vergehen gegen das Völkerrecht. Doch was ist das Ziel solcher Tribunale? Dienen sie nur der Rechtsprechung? Will man damit eine historische Bestandsaufnahme der fraglichen Verbrechen vornehmen? Oder dienen sie dem historischen Gedenken, damit sich solche Verbrechen nicht wiederholen? Sollen zukünftige Diktatoren abgeschreckt werden? Soll die Versöhnung zwischen Gesellschaften, die sich einst bekriegten, gefördert werden? Kann ein Gesetz, das per definitionem eng begrenzt ist, dem schieren Ausmaß eines Völkermords überhaupt gerecht werden? All diese Fragen werden ganz unterschiedlich beantwortet.
Vielleicht steht ein Prozess, wie Hannah Arendt als Beobachterin des Eichmann- Prozesses 1961 in Jerusalem schrieb, dann auf sicherer Grundlage, wenn er nur auf eine strafrechtliche Verurteilung abzielt. Ein Gerichtsverfahren, das über die dramatische Darstellung der Vergangenheit eine nationale Identität formen soll, wie es beim Eichmann-Prozess versucht wurde, riskiert, dass ein juristischer Vorgang in einen Schauprozess ausartet. Oder ist für diesen besonderen Typus des Verbrechers, der das Leben Tausender oder Millionen Menschen zerstört, vielleicht auch eine andere Form des Prozesses angebracht, wie an anderer Stelle argumentiert wurde? Vielleicht wird vor der Anklagebank der Geschichte nichts Geringeres als das verlangt. Vielleicht ist ein Prozess gegen solche Täter eine derart gewaltige Aufgabe, die so vielen Anforderungen genügen muss und so viele Probleme aufwirft (etwa, dass man der Verteidigung ein Podium bietet, oder dass die Angeklagten möglicherweise freigesprochen werden), dass internationale Prozesse berechtigterweise auf Skepsis stoßen. Vielleicht hatte auch der britische Premierminister Winston Churchill recht - es ist viel leichter, die Täter kurzerhand zu erschießen, als mögliche Peinlichkeiten und Fehler bei einem derart umfangreichen juristischen Prozess zu riskieren.
So kompliziert diese Debatten auch sind, berücksichtigen sie doch selten die Rolle der Bestrafung und deren Wirkung. Für viele ist die Strafe irrelevant. Als der SS-Hauptsturmführer Erich Priebke im Alter von 82 Jahren 1995 von Argentinien an Italien ausgeliefert wurde, damit ihm wegen seiner Beteiligung am Massaker bei den Ardeatinischen Höhlen in der Nähe von Rom, bei dem 335 Männer und Jungen erschossen worden waren, der Prozess gemacht werden konnte, sagte Tullia Zevi, die Präsidentin der Union der israelitischen Gemeinden in Italien: 'Das Urteil ist in gewisser Weise irrelevant [...] Wichtig ist der Prozess [...] Was kümmert es mich, ob Priebke schließlich Hausarrest oder eine lebenslange Haftstrafe erhält?' Für andere kann die Strafe ohnehin nie dem Verbrechen entsprechen. Wenn ein 'normaler' Mörder hingerichtet wird, wie verfährt man dann mit dem Mann, der den Tod Tausender oder Millionen Menschen anordnete? Arendt schrieb anlässlich des Nürnberger Prozesses: 'Für diese Verbrechen gibt es keine angemessene Strafe mehr [...] Diese Schuld, im Gegensatz zu aller krimineller Schuld, übersteigt und zerbricht alle Rechtsordnungen.' Entgegen seinen Behauptungen beim Mittagessen während des Nürnberger Prozesses konnte Herman Göring keine zehn Tode sterben. Und wenn schon das Erhängen eines Mannes, der Verbrechen gegen die Menschheit begangen hat, im Vergleich zu diesen Taten abfällt, dann kann eine Haftstrafe erst recht nicht genügen.
Inhaltsverzeichnis
Inhalt8
Dank10
Abkürzungen12
Einleitung16
1. Kapitel » An den Galgen mit allen «38
Die Urteile von Nürnberg39
Lebendig begraben: Der Kampf um die Einzelhaft53
2. Kapitel Eine dauerhafte Institution75
Eine schwere Zeit: Das Leben in Spandau78
Im Zeichen der Blockade97
Die Sowjets bleiben111
3. Kapitel Von Neuraths Asche: Der Kampf um die Erinnerung123
Das Problem von Neurath124
Von Neurath und der westdeutsche Staat129
Das Vorgehen im Todesfall140
Aufs Schlimmste gefasst sein153
Der Spandauer Gefängnisfriedhof158
Von Neuraths Freilassung165
4. Kapitel Hitlers Nachfolger: Die Geschichte zweier Admirale173
Offiziere oder Freibeuter?174
Die Veteranenlobby184
Die Anrechnung der Haft vor dem Prozess189
Raeder kommt frei195
Die peinlichen Admirale200
Die peinliche Freilassung von Hitlers Nachfolger208
5. Kapitel Die gescheiterte Flucht: Albert Speers zwanzig Jahre218
Der Speer-Mythos220
Frühe Bemühungen um eine Entlassung227
»Nun nur noch zu dritt «237
Komödie in der Krise251
Speers Ausweg260
6. Kapitel » Ich bereue nichts «: Das Problem Rudolf Heß269
Der verschlungene Weg nach Spandau271
Allein282
Der Totentanz291
Das bittere Ende310
Begräbnisse: Ein Epilog322
Anhang: Die Gefängnisordnung für das Spandauer Alliierte Militärgefängnis336
Anmerkungen355
Literatur433
Archive433
Zeitungen und Zeitschriften438
Veröffentlichte amtliche Dokumente und Quellensammlungen439
Erinnerungen, Reden, Briefe und Sekundärliteratur442
Register455

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