»Die Erfahrung ist wie eine Laterne im Rücken;
sie beleuchtet stets nur das Stück Weg, das wir bereits
hinter uns haben.« (Konfuzius)
SUSANNE, ODER: »DU FUNKTIONIERST
NICHT MEHR!«
Susanne ist zum aktuellen Zeitpunkt 42 Jahre alt. Sie ist mit ihrem »Narz« noch verheiratet, aber das Scheidungsverfahren läuft bereits. Aus der Ehe sind zwei Kinder hervorgegangen, ein Sohn und eine Tochter. Eines der beiden Kinder ist inzwischen volljährig, das andere auf dem Weg dorthin.
1996 hat sie ihn kennengelernt – ihren späteren Mann. Im Gespräch erzählt sie, er hat sich »ziemlich umwerben lassen«. Im weiteren Gesprächsverlauf wird deutlich, dass er ihr wohl gleich recht gut gefallen hat, obwohl er sich sehr kühl gab. Das hieß, sie musste sich wirklich für eine (recht kurze) Zeit ziemlich Mühe geben, ihn für sich zu gewinnen. Als sie das jedoch geschafft hat, geht alles recht schnell. Sie hat eine eigene Wohnung, er verbringt eine erste Nacht bei ihr – und bleibt. Das geht etwa acht Wochen gut, sie nähern sich an. Sie stellt keine überflüssigen Fragen zu seiner Wohnsituation. Er hat ihr bereits erklärt, dass er eine Wohnung hat, aber nicht gerne dort ist. Er ist nicht gerne alleine. Später erfährt sie, dass er zu diesem Zeitpunkt noch mit einer anderen Frau zusammen gelebt hat. Darüber hinaus erfährt sie allerdings auch, dass er sehr misstrauisch ist, denn ihm ist schon viel in seinem Leben widerfahren. Schulden hätte er, berichtet er ihr. Schulden, die er selbst niemals gemacht hat. Sein Geschäftspartner hat ihn über den Tisch gezogen.
Susanne versteht sein Dilemma. Unter solchen Umständen kann es einem Menschen ja nicht gut gehen. Daher nimmt sie die vielen Anzeichen, die es bereits zu seinem Verhalten gibt, auch nicht weiter ernst. »Kühl und distanziert war er von Anfang an«, sagt Susanne. »Aber seine Gesamtsituation war ja auch nicht so prickelnd. Er hatte eine Menge Probleme am Hals und da schien es nur verständlich, wenn das Verhalten niedergeschlagen und verschlossen ist.«
Er erzählt zwar so einiges aus seiner Vergangenheit, aber eben aus seiner Sichtweise – und in seiner Welt war er es, der über den Tisch gezogen worden ist und nun für den Blödsinn anderer aufkommen muss. Natürlich bringt er es bei dieser Vergangenheit nicht fertig, ihr gegenüber irgendwelche Gefühle zu äußern. Verheiratet war er nie, erfährt Susanne. Und er würde auch niemals heiraten. Sie findet das bedauerlich, macht sich aber erst mal keine großartigen Gedanken darüber. Er ist zehn Jahre älter als sie, aber sie selbst eben mit Anfang zwanzig noch sehr jung. Was zusammen kommen und zusammen bleiben soll, das würde sich schon ergeben, so in etwa muss sie damals gedacht haben.
Susanne arbeitet in Vollzeit, verdient keine Reichtümer, kommt aber gut klar. Sie hat ihre Kosten zu tragen: Miete, Umlagen, Stromrechnung, Telefon, was eben anfällt, wenn man eigenständig lebt. Darüber hinaus kocht sie natürlich täglich für sie beide und auch das kostet Geld. Nachdem er wochenlang nicht einsieht, sich in irgendeiner Form an den Kosten zu beteiligen, setzt sie ihn kurz entschlossen an die Luft. Bei aller Liebe, die sie tatsächlich empfindet– aber sie fühlt sich ausgenutzt. Kurz darauf bekommt sie Besuch von ihrer Schwester. In diesen gemeinsamen Stunden erfährt Susanne, dass ihr Freund, den sie erst ein paar Tage vorher an die Luft gesetzt hat, ihrer Schwester einen Besuch abgestattet hat. Das übrigens relativ umgehend nach seinem Rauswurf. Susannes Schwester redet auf sie ein. »Der leidet unter diesem Verlust, der hängt so an dir!«, sagt sie. Sie erzählt ihrer Schwester, wie sehr der Rauswurf den armen Kerl mitgenommen hat.
»Meine Schwester hat stundenlang auf mich eingeredet«, erzählt Susanne im Gespräch. »Sie hat mir ein schlechtes Gewissen gemacht.«
Susanne entschließt sich also, diesem Mann noch eine Chance zu geben – eigentlich liebt sie ihn ja auch. Nun folgen natürlich jede Menge Gespräche, denn jetzt will Susanne genau wissen, mit wem oder was sie es da zu tun hat. Sie will ihn so gerne verstehen. In diesem Rahmen erfährt sie, dass er immerhin mit zweihunderttausend Mark verschuldet ist. Eine stolze Summe, bei der Susanne erst mal ins Schlucken kommt. Dennoch, sie ist sich ihrer Gefühle für ihn sicher und der Meinung, nun einschätzen zu können, worauf sie sich einlässt. Sie ist nun auch sicher, diesen Mann gefühlsmäßig knacken zu können. Immerhin hat er sich ihr geöffnet, die Wahrheit auf den Tisch gelegt. Hinzu kommt das Gespräch, das er mit ihrer Schwester geführt hat. So was tut man doch nur, wenn man wirklich traurig und verzweifelt ist, oder? Wenn man im Begriff ist, einen Menschen zu verlieren, der einem wirklich was bedeutet!
Die Manipulation dahinter erkennt sie nicht, wie auch? In solchen Dingen fehlt ihr jegliche Erfahrung und ihrer Schwester offenbar auch. Rudolf nutzt das sehr geschickt aus. Er brauchte einen »Flying Monkey« – einen Menschen, der seine Botschaften überbringt, weil er selbst an die Zielperson nicht mehr herankommt. Wer wäre da besser geeignet als die Schwester? Und die hat Susanne »den Kopf wieder gerade gerückt«.
Es kommt hinzu, dass Susanne schwere Traumata aus ihrer Kindheit mit sich herumträgt. Sie musste jahrelangen, sexuellen Missbrauch über sich ergehen lassen, und das gleich von zwei Tätern: der eigene Vater und der eigene Bruder. Ein emotionaler Missbrauch erfolgte auch durch die Mutter, die dazu schwieg, diesen Missbrauch duldete und nichts unternahm, um Susanne davor zu beschützen. Susanne war also emotional selbst mit ihrer eigenen, traumatischen Vergangenheit und Entwicklungsgeschichte beschäftigt. Hatte möglicherweise auch, das räumt sie heute ein, das eine oder andere Problem, sich zu öffnen. Doch irgendwie war es ihr bei ihm gelungen, und es tut ja auch gut, wenn man selbst emotional verwirrt, belastet und im Grunde vollständig zerstört ist – und plötzlich dann doch so jemanden in seinem Leben wiederfindet, mit dem man sich ein gemeinsames Leben vorstellen kann.
Sie nimmt ihn also zurück, erfährt die Details zu seinen Schulden und die ungeheure Summe, aber sie ist der Meinung: Gemeinsam schaffen wir das. Nun geht alles sehr schnell. Er zeigt sich erfreut darüber, dass sie ihm noch eine Chance gibt, bemüht sich auch um sie und ihr Wohlbefinden und vier Monate später macht der Mann, der niemals heiraten wollte, ihr dann doch einen Heiratsantrag. Überglücklich nimmt Susanne diesen Heiratsantrag an und schon nach sechs Monaten Beziehung insgesamt findet die Trauung statt. Die Schulden? Wenn Forderungen über Forderungen eintreffen und man schon Angst hat, an den Briefkasten zu gehen, ist das eine große Belastung. Da musste wirklich eine Lösung her. Ein Umschuldungskredit! Tragbare Raten für mehrere Jahre, die sie natürlich auch mit zu tragen bereit ist. Immerhin, er war ja ehrlich gewesen und hatte die Fakten auf den Tisch gelegt. Die beiden nehmen also gemeinsam einen Kredit auf, um seine Schulden auszugleichen, beziehungsweise umzuschulden, nur noch an eine Stelle eine einzige Rate zahlen zu müssen. Natürlich hat Susanne diesen Kreditvertrag mit unterschrieben. Selbstverständlich hat sie ihr Einkommen in das gemeinsame Leben und damit auch in seinen Umschuldungskredit investiert. Aber Susanne ist bester Dinge. Die gemeinsame Zukunft liegt ihr wie ein schöner Film vor Augen. Die Probleme sind gelöst, die Finanzen jetzt überschaubar. Sie ist sicher, dass er irgendwann emotional auch entspannter werden wird. Rudolf benimmt sich immer noch ziemlich kühl. Oder wieder? Eigentlich war das für eine gewisse Zeit besser gewesen. Nach der kurzfristigen Trennung hat er sich mehr Mühe gegeben, ist dann aber wieder in seine Distanziertheit zurück gekippt.
Susanne wird schwanger und freut sich sehr auf das Baby. Tragischerweise erleidet sie eine Fehlgeburt. Wirklich tragisch, denn für sie war das ein furchtbares Erlebnis. Sie hat sich so auf das Baby gefreut und es geht ihr sehr schlecht. Rudolf hingegen scheint das nicht zu belasten. Er, der schon vorher immer kühl und distanziert war, wird nun regelrecht eisig in seinem Verhalten. Susanne hätte ihn gebraucht, sich gerne in seinen Armen versteckt. Sie sehnt sich nach Trost, nach etwas Wärme, nach Liebe. Aber Rudolf lässt sie damit alleine. Er geht aus, trifft sich mit Bekannten, geht was trinken. Susanne liegt alleine zu Hause auf dem Sofa, versucht, wieder auf die Füße zu kommen. Hat niemanden, mit dem sie über ihren Kummer sprechen kann. Rudolf ignoriert all das vollständig. Wichtig für ihn ist nur, dass sie wieder auf die Beine kommt. Dass sie wieder »funktioniert«.
Ganz allgemein spürt Susanne allerdings, auch als sie sich einigermaßen von ihrer Fehlgeburt erholt hat, dass sein Verhalten sich mehr und mehr ändert – zum Schlechten. Der kühle und distanzierte Mann verhält sich jetzt nur noch eisig. Susanne geht zu Hause wie auf Watte, bemüht sich, nicht negativ aufzufallen, ihn...