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E-Book

Kampf der Kulturen

Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert

AutorSamuel P. Huntington
VerlagGoldmann
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl592 Seiten
ISBN9783641174965
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis10,99 EUR
Der amerikanische Politikwissenschaftler Samuel P. Huntington stellt in seinem Buch die Frage nach den weltpolitischen Entwicklungen im 21. Jahrhundert. Statt eines harmonischen Zusammenwachsens in einer zunehmend vernetzten Welt sieht er neue Konflikte globalen Ausmaßes entstehen: Konflikte zwischen den Kulturen. Die Weltpolitik des 21. Jahrhunderts wird nicht mehr von Auseinandersetzungen ideologischer oder wirtschaftlicher Natur bestimmt sein, so Huntingtons These, sondern vom Konflikt zwischen Völkern und Volksgruppen unterschiedlicher kultureller Zugehörigkeit. Der Faktor Kultur wird folglich in der internationalen Politik massiv an Bedeutung gewinnen. Mit 'Clash of Civilisations' hat Huntington eine neue Formel für die künftige Weltordnung formuliert. Provokant, spannend und international heftig diskutiert - ein Muss für jeden politisch interessierten Leser.



Samuel P. Huntington war Professor für Politikwissenschaft und Leiter des John-M.-Olin-Instituts für Strategische Studien an der Universität Harvard. Darüber hinaus arbeitete der Mitbegründer der Zeitschrift »Foreign Affairs« als Berater des US-Außenministeriums. Huntington veröffentlichte circa 100 wissenschaftliche Artikel und knapp ein Dutzend, z.T. wegweisende Bücher wie »The Soldier and the State« und »American Politics«. »The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order« wurde in 26 Sprachen übersetzt. Samuel P. Huntington starb im Dezember 2008 im Alter von 81 Jahren.

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KAPITEL 1


Die neue Ära der Weltpolitik


FLAGGEN UND KULTURELLE IDENTITÄT


Am 3. Januar 1992 fand im Hörsaal eines Moskauer Regierungsgebäudes eine Konferenz russischer und amerikanischer Wissenschaftler statt. Zwei Wochen zuvor hatte die Sowjetunion aufgehört zu bestehen, und die Russische Föderation war ein unabhängiges Land geworden. Aus diesem Grund war die Leninbüste, die bis dahin das Podium des Auditoriums geziert hatte, verschwunden; statt ihrer prangte jetzt die Flagge der Russischen Föderation an der Stirnseite des Saales. Das einzige Problem war – wie ein Amerikaner bemerkte –, daß die Flagge verkehrt herum hing. Nachdem man die russischen Gastgeber auf den Lapsus hingewiesen hatte, wurde er in der ersten Sitzungspause rasch und diskret korrigiert.

In den Jahren nach dem Kalten Krieg machten die Identität von Völkern, die Symbole dieser Identität und infolgedessen die globale Politik dramatische Veränderungen durch, die noch nicht beendet sind. Verkehrt hängende Flaggen waren ein Zeichen dieses Überganges. Aber mittlerweile wehen immer mehr Fahnen stolz und richtig, und die Russen und andere Völker sind dabei, sich zu mobilisieren und hinter diesen und anderen Symbolen ihrer neuen kulturellen Identität herzumarschieren.

Am 8. April 1994 versammelten sich in Sarajevo zweitausend Menschen und schwenkten Fahnen – nicht etwa die Fahnen der UNO, der NATO oder der USA, sondern die Fahnen Saudi-Arabiens und der Türkei. Sie zeigten im wahrsten Sinne des Wortes Flagge und demonstrierten der Welt, wer ihre wahren und wer ihre weniger wahren Freunde waren.

Am 16. Oktober 1994 protestierten in Los Angeles 70.000 Menschen in einem »Meer von mexikanischen Flaggen« gegen ein geplantes Referendum (Proposition 187), das vielen illegalen Einwanderern und ihren Kindern bundesstaatliche Vergünstigungen gestrichen hätte. »Warum«, so fragten sich Beobachter,»laufen sie mit der mexikanischen Fahne durch die Stadt, wenn sie von den USA kostenlosen Schulbesuch verlangen? Sie sollten lieber die amerikanische Fahne schwenken!« Zwei Wochen später sah man auf der Straße noch mehr Protestmarschierer, die wirklich die amerikanische Fahne schwenkten – verkehrt herum. Diese Flaggendemonstration sicherte dem Referendum den Erfolg: 59 Prozent der kalifornischen Wähler stimmten dafür.

In der Welt nach dem Kalten Krieg zählen Flaggen und andere Symbole kultureller Identität wie Kreuze, Halbmonde und sogar Kopfbedeckungen; denn Kultur zählt, und kulturelle Identität hat für die meisten Menschen höchste Bedeutung. Die Menschen entdecken heute neue, aber oft eigentlich alte Identitäten und marschieren hinter neuen, aber oft eigentlich alten Fahnen im Kriege mit neuen, aber oft eigentlich alten Feinden.

Eine grimmige Weltanschauung für diese neue Ära formuliert der nationalistische venezianische Demagoge in Michael Dibdins Roman Dead Lagoon: »Ohne wahre Feinde keine wahren Freunde! Wenn wir nicht hassen, was wir nicht sind, können wir nicht lieben, was wir sind. Das sind die alten Wahrheiten, die wir heute, nach dem sentimentalen Gesülze von hundert Jahren, unter Schmerzen wieder entdecken. Wer diese Wahrheiten leugnet, der verleugnet seine Familie, sein Erbe, seine Kultur, sein Geburtsrecht, sein ganzes Ich! Das wird ihm nicht so leicht vergessen.« An der betrüblichen Wahrheit dieser alten Wahrheiten können Staatsmänner und Wissenschaftler nicht vorbeigehen. Für Menschen, die ihre Identität suchen und ihre Ethnizität neu erfinden, sind Feinde unabdingbar, und die potentiell gefährlichsten Feindschaften begegnen uns an den Bruchlinien zwischen den großen Kulturen der Welt.

Das zentrale Thema dieses Buches lautet: Kultur und die Identität von Kulturen, auf höchster Ebene also die Identität von Kulturkreisen, prägen heute, in der Welt nach dem Kalten Krieg, die Muster von Kohärenz, Desintegration und Konflikt. Die fünf Teile dieses Buches entwickeln diese Hauptaussage weiter.

Teil Eins. Zum erstenmal in der Geschichte ist globale Politik sowohl multipolar als auch multikulturell; Verwestlichung ist etwas anderes als Modernisierung; und wirtschaftliche und soziale Modernisierung erzeugt weder eine universale Kultur irgendeiner Art noch die Verwestlichung nichtwestlicher Gesellschaften.

Teil Zwei. Das Machtgleichgewicht zwischen den Kulturkreisen verschiebt sich: Der Westen verliert an relativem Einfluß; asiatische Kulturen verstärken ihre wirtschaftliche, militärische und politische Macht; der Islam erlebt eine Bevölkerungsexplosion mit destabilisierenden Folgen für muslimische Länder und ihre Nachbarn; und nichtwestliche Kulturen bekräftigen selbstbewußt den Wert ihrer eigenen Grundsätze.

Teil Drei. Eine auf kulturellen Werten basierende Weltordnung ist im Entstehen begriffen: Gesellschaften, die durch kulturelle Affinitäten verbunden sind, kooperieren miteinander. Bemühungen, eine Gesellschaft von einem Kulturkreis in einen anderen zu verschieben, sind erfolglos; und Länder gruppieren sich um die Führungs- oder Kernstaaten ihrer Kultur.

Teil Vier. Seine universalistischen Ansprüche bringen den Westen zunehmend in Konflikt mit anderen Kulturkreisen, am gravierendsten mit dem Islam und China. Auf lokaler Ebene bewirken Bruchlinienkriege (im wesentlichen zwischen Muslimen und Nichtmuslimen) den »Schulterschluß verwandter Länder«, die Gefahr einer breiteren Eskalation und damit Bemühungen von Kernstaaten um Eindämmung und Unterbindung dieser Kriege.

Teil Fünf. Das Überleben des Westens hängt davon ab, daß die Amerikaner ihre westliche Identität bekräftigen und die Westler sich damit abfinden, daß ihre Kultur einzigartig, aber nicht universal ist, und sich einigen, um diese Kultur zu erneuern und vor der Herausforderung durch nichtwestliche Gesellschaften zu schützen. Ein weltweiter Kampf der Kulturen kann nur vermieden werden, wenn die Mächtigen dieser Welt eine globale Politik akzeptieren und aufrechterhalten, die unterschiedliche kulturelle Wertvorstellungen berücksichtigt.

EINE MULTIPOLARE, MULTIKULTURELLE WELT


In der Welt nach dem Kalten Krieg ist Weltpolitik zum erstenmal in der Geschichte multipolar und multikulturell geworden. Für die längste Zeit menschlichen Daseins auf Erden waren Kontakte zwischen Kulturen sporadisch oder nicht existent. Zu Beginn der Neuzeit um 1500 n. Chr. nahm dann die globale Politik zwei Dimensionen an. Auf der einen Seite bildeten die Nationalstaaten des Westens – England, Frankreich, Spanien, Österreich, Preußen, Deutschland, die USA und andere – ein multipolares internationales System im Rahmen des westlichen Kulturkreises und interagierten, konkurrierten und kämpften miteinander. Auf der anderen Seite wurde jede andere Kultur von den expandierenden westlichen Nationen erobert, kolonisiert oder zumindest massiv beeinflußt. (Karte 1.) Während des Kalten Krieges wurde die globale Politik bipolar, und die Welt zerfiel in drei Teile. Eine Gruppe zumeist wohlhabender und demokratischer Gesellschaften unter Führung der USA stand in einer durchgängigen ideologischen, politischen, ökonomischen und zeitweise militärischen Konkurrenz zu einer Gruppe etwas ärmerer kommunistischer Gesellschaften im Machtbereich und unter Führung der Sowjetunion. Ein erheblicher Teil dieses Konfliktes wurde außerhalb dieser beiden Lager in der Dritten Welt ausgetragen, bestehend aus armen, politisch instabilen Ländern, die erst seit kurzem unabhängig waren und für sich Bündnisfreiheit beanspruchten. (Karte 2.)

Ende der achtziger Jahre brach die kommunistische Welt zusammen, und das internationale System des Kalten Krieges wurde Geschichte. In der Welt nach dem Kalten Krieg sind die wichtigsten Unterscheidungen zwischen Völkern nicht mehr ideologischer, politischer oder ökonomischer Art. Sie sind kultureller Art. Völker und Nationen versuchen heute, die elementarste Frage zu beantworten, vor der Menschen stehen können: Wer sind wir? Und sie beantworten diese Frage in der traditionellen Weise, in der Menschen sie immer beantwortet haben: durch Rückbezug auf die Dinge, die ihnen am meisten bedeuten. Die Menschen definieren sich über Herkunft, Religion, Sprache, Geschichte, Werte, Sitten und Gebräuche, Institutionen. Sie identifizieren sich mit kulturellen Gruppen: Stämmen, ethnischen Gruppen, religiösen Gemeinschaften, Nationen und, auf weitester Ebene, Kulturkreisen. Menschen benutzen Politik nicht nur dazu, ihre Interessen zu fördern, sondern auch dazu, ihre Identität zu definieren. Wir wissen, wer wir sind, wenn wir wissen, wer wir nicht sind und gegen wen wir sind.

Nationalstaaten bleiben die Hauptakteure des Weltgeschehens. Die wichtigsten Gruppierungen von Staaten sind jedoch nicht mehr die drei Blöcke aus der Zeit des Kalten Krieges, sondern die sieben oder acht großen Kulturen der Welt. (Karte 3.) Nichtwestliche Gesellschaften, zumal in Ostasien, sind heute dabei, ihren wirtschaftlichen Wohlstand zu entwickeln und die Grundlage für eine Ausweitung ihrer militärischen Macht und ihres politischen Einflusses zu schaffen. In dem Maße, wie Macht und Selbstbewußtsein der nichtwestlichen Gesellschaften zunehmen, pochen sie verstärkt auf ihre eigenen kulturellen Werte und verwerfen jene, die ihnen der Westen »aufgezwungen« hat. »Das internationale System des 21. Jahrhunderts«, bemerkt Henry Kissinger, »... wird mindestens sechs Großmächte aufweisen – die USA, Europa, China, Japan, Rußland und wahrscheinlich Indien –, neben einer Vielzahl mittelgroßer und kleinerer Länder.«1 Kissingers sechs Großmächte gehören zu fünf sehr verschiedenen Kulturen, und außerdem gibt es wichtige islamische Staaten, die durch...

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