Der Kampf um Strom
In Berlin-Schöneberg, einem wenig bekannten, aber immer beliebteren Kiez unserer energetisch pulsierenden Hauptstadt, gerät man leicht unter Hochspannung. Ein 1000 Volt starker Stromschlag durchzuckt den Fußgänger, wenn er den Handlauf der Crellepromenade berührt. Dahinter steckt ein Planungsfehler: Beim Bau dieser Brücke wurde eine ungünstige Kombination von Stoffen verwendet, die sich schnell elektrisch auflädt. Auch an eine Erdung wurde nicht gedacht. Leider lässt sich die Sache nicht mehr rückgängig machen – zumindest will dafür niemand die finanzielle Verantwortung übernehmen. Und so bleibt es dabei. Was sind schon 1000 Volt? Natürlich, der eine oder andere beschwert sich. Die Sorge sei unbegründet, heißt es dann. Eine Spannung von 1000 Volt verursache wegen der geringen Ladung nur kleine Stromstöße. Auch wenn solche Stromstöße nicht völlig ohne Risiko sind. So oder so: Niemand käme auf die Idee, wegen des fehlerhaften Brückengeländers den Sinn und Zweck der Brücke selbst anzuzweifeln.
Als der Club of Rome 1972 seinen Bericht »Grenzen des Wachstums« veröffentlichte, ahnte noch niemand, wie nachhaltig die damit angestoßene Diskussion um die Zukunft der Welt anhalten würde. Dabei ist Nachhaltigkeit selbst zu einem zentralen Begriff aller Zukunftsdebatten geworden. Seitdem heißt es, die Welt kann nicht bleiben, wie sie ist. Das gilt unter anderem auch für Umweltfragen: Wir müssen handeln, mahnt uns der Bericht, anderenfalls drohen Klima- und Umweltkatastrophen sowie Ressourcenkonflikte unvorstellbaren Ausmaßes. Wohlgemerkt: Die Partei Die Grünen gab es damals noch nicht, und die Worte Klima und Energie waren in unseren Köpfen noch keinen assoziativen Zwangsverband mit Bioläden, Ökotragetaschen und erdgasbetriebenen Fahrzeugen eingegangen.
Erst später nahm sich die Politik dieses Themas an. Es entstanden inner- und außerparlamentarische Bewegungen, Umweltverbände und Naturschutzorganisationen. Das musste so sein, denn die Politik ist der Bereich gesellschaftlichen Handelns. Doch was derzeit in puncto Klima und Energie geschieht, lässt sich kaum mehr als Handeln beschreiben – eher als das Gegenteil. Ein Jahr vor der anstehenden Bundestagswahl im Herbst 2013 hat sich die Energiepolitik in Deutschland in ein Schlachtfeld verwandelt. Ein Schlachtfeld, auf dem laut gestritten und dabei jegliches Handeln blockiert wird. Es tobt ein Kampf um Strom, in dem vernünftige Entscheidungen kaum mehr möglich scheinen. Davon erzählt dieses Buch. Im Vordergrund steht die Fehde, die Politiker, Lobbyisten, Ökologen und andere sich seit geraumer Zeit liefern. Es geht um eine Debatte, die in den Medien gezielt lanciert wird, damit so mancher Energieunternehmer hinter den Kulissen unbeobachtet Fakten schaffen kann. Die Ingredienzien dieser Auseinandersetzungen sind bekannt: Macht und Einfluss, Pfründe, die verteidigt oder neu verteilt werden müssen – und natürlich geht es um Geld.
Im Schlachtengetöse um das richtige Energiekonzept ist die Lage ziemlich unübersichtlich geworden. Richtig und Falsch, Gut und Böse, Sinn und Unsinn sind hier kaum mehr zu unterscheiden. Sind die Zusammenhänge nicht völlig undurchschaubar, viel zu komplex, und ist es deshalb nicht nahezu unmöglich zu entscheiden, wer recht hat und was richtig ist? Sollen wir den Ausstieg aus der Atomenergie und die Energiewende für eine kluge, langfristig orientierte Politik oder aber für eine Bedrohung unserer Zukunft halten?
Im Prinzip ist die Sache unglaublich einfach: Drei Fakten reichen aus, um den Kern der Zusammenhänge zu verstehen.
Erstens: Fossile Ressourcen wie Öl, Gas und Kohle sind endlich. Sie werden knapper, und irgendwann wird der weltweit steigende Energiebedarf durch sie nicht mehr zu decken sein. Große Länder wie Indien und China, in denen erst allmählich eine vollständige Industrialisierung stattfindet, werden ihren Energieverbrauch in den nächsten Jahrzehnten noch gewaltig steigern.
Zweitens: Das Verbrennen fossiler Ressourcen verursacht Treibhausgase, die das Klima gefährden. Doch auch die weltweit produzierten Treibhausgase steigen immer noch an.
Drittens: Erneuerbare Energien versprechen akzeptable Lösungen für beide Probleme. Sie sind unendlich (Sonne und Wind gibt es immer), und sie verursachen weitestgehend (mit Ausnahme von Biomasse) keine Treibhausgase.
Die Lösung scheint nach diesem Dreischritt klar: Wir sollten auf erneuerbare Energien setzen. Doch es gibt Einwände. Ist die Energiegewinnung aus neuen Quellen nicht viel zu teuer? Können wir uns das leisten? Und ist die Versorgung mit grünem Strom wirklich sicher? Stecken die Technologien alternativer Energiegewinnung nicht erst in den Kinderschuhen?
Kurzfristig muss man sagen: Ja, die Versorgung mit erneuerbaren Energien kann nicht von heute auf morgen technisch umgesetzt werden. Es müssen Wind- und Solarparks, aber auch Netze zur Verteilung des Stroms gebaut werden. Es gilt, Wege zu finden, wie man den Strom speichern kann, der an wind- und sonnenreichen Tagen zu viel und an anderen Tagen zu wenig produziert wird. Das alles, so weiß man nach rund 30 Jahren Forschung im Bereich erneuerbare Energien, ist machbar. Es wird jedoch noch einige Jahre dauern und kostet zunächst einmal Geld.
Insofern lautet auch die Antwort auf die Frage nach der Finanzierung vorerst: Ja, es stimmt. Das Umrüsten auf erneuerbare Energien kostet. Und dann stimmt es doch wieder nur zum Teil: Zwar ist die Entwicklung neuer Technologien anfangs immer teuer, doch handelt es sich bei diesen Kosten um Investitionen, die sich später wieder auszahlen. Noch sind die alten Kohle-, Gas- und Atomkraftwerke im Vorteil, denn sie haben eine Laufzeit von bis zu 60 Jahren und liefern so Strom zu vergleichsweise niedrigen Produktionskosten. Doch auch die Stromgewinnung aus erneuerbaren Quellen steht längst nicht mehr ganz am Anfang. Und Preise ändern sich schnell – die meisten Technikinnovationen gehen den Weg vom Luxusartikel zur Massenware. Ein Mercedes kostete zu Beginn des 20. Jahrhunderts 17 000 Goldmark. Nach heutigen Maßstäben waren das 100 000 Euro – für ein Auto, das nicht viel mehr zu sein schien als ein Dreirad. Das erste Mobiltelefon war so groß wie ein Knochen, kostete aber umgerechnet bis zu 1600 Euro. Damals galt es noch als spektakulär, dass man drahtlos, wo man ging und stand, telefonieren konnte. Das war 1992. Heute nutzen wir Smartphones für E-Mails, Kochrezepte, Urlaubsfotos und als Wörterbuch – zu einem Drittel des Preises oder weniger. Und während die Preise neuer Technologien stürzen, werden die Produkte ständig besser. Niemand hätte sich vor 20 Jahren vorstellen können, was heute technisch möglich ist. Dass etwa Daten, deren Speicherung anfangs riesige, raumfüllende Computer erforderte, kurze Zeit später auf einen daumennagelgroßen Chip passen würden. Dieselbe Entwicklung ist auch im Bereich der erneuerbaren Energien festzustellen. Gerade im Hinblick auf die Speicherung des grünen Stroms, die viele für völlig unmöglich halten, wurden manche Wege bisher noch gar nicht erforscht. Insgesamt jedoch haben die Ökostromtechnologien das Stadium des Dreirads längst hinter sich gelassen. Nach fast drei Jahrzehnten Forschung sind sie mindestens beim Mercedes der 1950er Jahre angelangt. Das ist kein schlechter Stand, aber es gibt noch Spielraum nach oben. Schon jetzt ist abzusehen, dass der grüne Strom mittel- und langfristig noch billiger wird und dass gleichzeitig die Technologien zur Produktion, Speicherung und Verteilung immer besser werden. Und das mit hundertprozentiger Garantie: Sonne und Wind sind nicht nur unendlich vorhanden, sondern auch kostenlos verfügbar, während die Ressourcenknappheit die Öl-, Gas- und Kohlepreise in die Höhe treiben wird. Die umweltfreundlichere und zugleich nachhaltigere Energieversorgung ist also nicht nur technisch machbar, sondern auch noch billiger als die konventionelle. Ist da nicht alles »im grünen Bereich« – im wahrsten Sinne des Wortes?
Tatsächlich gibt es allen Grund, optimistisch zu sein: Im Jahr 2011 verabschiedete die EU eine verbindliche Roadmap, die vorsieht, dass alle Staaten den Anteil der erneuerbaren Energien an ihrer Stromversorgung bis zum Jahr 2050 auf 80 Prozent erhöhen. Damit leitete die Politik in Europa einen Prozess ein, der einen vollständigen Umbau der Energieversorgung zum Ziel hat. In absehbarer Zukunft sollen CO2-emittierende Kohlekraftwerke – in Deutschland auch die Atomkraftwerke – durch umweltverträglichere Energien ersetzt werden, an denen die erneuerbaren einen hohen Anteil haben. – Wo also liegt das Problem? Wieso ist Deutschlands Energieversorgung in Gefahr? Was spricht dagegen, den begonnenen Umbau in der geplanten Weise fortzusetzen?
Gegen Neuerungen sprechen immer zwei Dinge: erstens der alte Besitzstand. Und zweitens: die grundsätzliche Angst des Menschen vor dem Neuen. Wer an der herkömmlichen Energieversorgung gut verdient, wird alles gegen Veränderungen tun, die seine Position gefährden. Für die Energieversorger, die auf fossile Brennstoffe und Atomkraft setzen, stellen Ökostromanbieter eine ernst zu nehmende Konkurrenz dar. Und so kommt es, dass diejenigen, die im Energiemarkt bestens aufgestellt sind, alles tun, um bei den Menschen – ihren Kunden – die Angst vor Neuerungen zu schüren. Das ist eine ihrer stärksten Waffen im Kampf um Strom. Die anderen, das sind die Politiker, die es zu überzeugen gilt. Denn am Ende entscheidet der...