Die Sensation von der Saale
»Das musst du alles mal aufschreiben.«
In unserem Wohnzimmer hängt ein gerahmtes Foto an der Wand, das ich selbst geschossen habe. Es zeigt ein paar Frauen, die auf den Reisfeldern von Marsassoum arbeiten. Sie schauen nicht freundlich in meine Kamera, sie protestieren viel mehr in meine Richtung. Ich hatte sie nicht gefragt, ob ich das Bild machen dürfte, und nun schimpften sie, was einem Fremden wie mir einfalle, sie einfach zu fotografieren. Sicher wolle ich die Bilder irgendwo verkaufen und hätte auch sonst nur Niederträchtiges im Sinn.
Ich war natürlich beleidigt, denn ich war voller Stolz nach so vielen Jahren in Deutschland zum ersten Mal in den Senegal zurückgekehrt. Ich hatte wohl angenommen, alle würden mich sofort erkennen und mir gerührt um den Hals fallen. Und nun wussten sie nicht einmal, wer ich war?
Als ich meinen Familiennamen in ihre Richtung rief, um sie zu beruhigen, da war mit einem Mal alle Feindseligkeit aus ihren Gesichtern verschwunden. Ich war doch der kleine Junge aus dem Dorf, der endlich in seine alte Heimat zurückgekehrt war. Nur war ich längst kein kleiner Junge mehr. Und meine Heimat, so spürte ich damals schon, lag mittlerweile in einem anderen Land. Auch wenn es den Staat, der mich sechs Jahre zuvor bei sich aufgenommen hatte, nun nicht mehr gab.
In Deutschland war gerade die Mauer gefallen. Ich hatte auf der östlichen Seite gelebt, die DDR war das einzige Deutschland, das ich kannte. Es war das Land, in dem ich leben wollte, das mir eine Zukunft geschenkt hatte, als ich in Dakar nicht mehr studieren konnte. Dem ich dankbar und verbunden war. Dasselbe Land, das viele Menschen unglücklich machte und das sie lieber heute als morgen verlassen hätten, wenn sie denn gekonnt hätten. Ich selbst hätte als Ausländer mit meinem senegalesischen Pass zwar jederzeit aus der DDR aus- und wieder einreisen können. Nur hatte ich damals kaum Geld, schon gar nicht für einen Flug in den Senegal, und ich hatte wohl auch zu viel Angst, dass man mich vielleicht nicht mehr reinlassen würde. Erst als die Mauer gefallen war, buchte ich endlich einen Flug zu meiner Familie. Die deutsche Wiedervereinigung wurde auch für mich, der ich bei den historischen Ereignissen um mich herum nur Zuschauer sein konnte, zu einem persönlichen Wendepunkt im Leben. Nun war irgendwie alles möglich, und vieles musste ganz neu beginnen. Doch genau das, immer neu zu beginnen, das war längst der rote Faden geworden, der sich durch mein ganzes Leben zog. Ich nahm ihn an und machte das Beste daraus.
Wann immer ich den Menschen von meinem Leben erzähle, höre ich sie sagen: »Das musst du alles mal aufschreiben.« Wenn ich einmal angefangen habe zu reden, dann höre ich so schnell nicht mehr auf. Und so will ich nun die Geschichte meines Lebens erzählen, die sich in einem Satz ungefähr so zusammenfassen lässt: Ein muslimischer Waisenjunge aus dem Senegal fliegt, ohne ein Wort Deutsch zu sprechen, in die DDR, studiert, promoviert, entwickelt ein Faible für Schrebergärten, Eisbein mit Sauerkraut und deutsche Pünktlichkeit, tritt der SPD bei und zieht für die angebliche Nazi-Hochburg Halle an der Saale als erster Schwarzer in den Deutschen Bundestag ein.
Tolle Drehbuch-Story, denken Sie jetzt vielleicht, nur ein bisschen weit hergeholt. Entspricht aber – fast – alles der Wahrheit. Immer wieder wurde über mich geschrieben, ich sei der erste Bundestagsabgeordnete Deutschlands, der in Schwarzafrika geboren wurde. Allein diese Tatsache hat Kamerateams aus der ganzen Welt von CNN bis Al Jazeera nach Halle gelockt. New York Times bis Super Illu schickten ihre Reporter los, um über die Sensation von der Saale zu berichten. Streng genommen war ich aber gar nicht der Erste. Von 1983 bis 1994 hat schon einmal ein Abgeordneter im Bundestag gesessen, der in Schwarzafrika auf die Welt gekommen ist.
Wie man aber schon an seinem Namen hören dürfte, ist an Hans-Günther Toetemeyer nicht sehr viel mehr afrikanisch als der Breitengrad seines Geburtsortes Keetmanshoop. Seine Eltern waren Missionare und zur Zeit seiner Geburt in Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen Namibia, stationiert. Zwei Jahre nach seiner Geburt zogen sie mit ihrem Sohn zurück ins Ruhrgebiet. 1983 zog Toetemeyer als Sozialdemokrat in den Bundestag ein und blieb drei Wahlperioden Mitglied des Parlaments.
Ich selbst bin das Kind zweier Senegalesen. Ich kam erst mit Anfang zwanzig aus Schwarzafrika nach Deutschland und musste nicht nur die Sprache neu lernen.
Als »Schwarzafrika«, das ich ab jetzt nur noch in Anführungszeichen verwenden will, bezeichnet man gemeinhin jene Teile des Kontinents, die sich südlich der Sahara befinden – darum sagen wir auch Subsahara-Afrika – und die klimatisch im tropisch-subtropischen Bereich liegen. »Schwarzafrika«, das klingt nach bedrohlicher Fremde, nach Joseph Conrads Herz der Finsternis, nach Voodooritualen und Stammeskriegen. Tatsächlich geht der zu Kolonialzeiten geprägte Ausdruck auf die Schwarze1 Bevölkerung in diesem Erdteil zurück, aber Assoziationen einer den Bewohnern unterstellten Barbarei und Kulturlosigkeit waren natürlich nicht unbeabsichtigt.
Ich habe mich im Rahmen meiner Arbeit oft dagegen gewehrt, dass wir all jene Länder unter dem Begriff »Schwarzafrika« zusammenfassen. Nicht nur wegen des so überdeutlichen Bezugs zur Hautfarbe ihrer Bewohner. Nein, wenn Migrantinnen und Migranten in Deutschland nach ihrer Herkunft aufgeschlüsselt werden, sind in den Statistiken immer alle Länder einzeln aufgeführt. Nur bei den Ländern südlich der Sahara heißt es immer »Schwarzafrika«, obwohl es erhebliche Unterschiede zwischen den einzelnen Staaten und Regionen gibt.
Manche Länder im subsaharischen Afrika gehören zu den ärmsten der Erde. Mein Heimatland, der Senegal, stellt unter seinen Nachbarländern, die zum Teil seit Jahrzehnten von Kriegen und Krisen erschüttert werden, eine Ausnahme dar. Es herrscht Frieden im Senegal, Toleranz und Freiheit gehören zur Staatsräson. Doch auch aus dem Senegal machen sich jedes Jahr Tausende auf, um ein besseres Leben in Europa zu finden. Wer seine Heimat, seine Familie, sein ganzes vertrautes Umfeld verlässt, der wagt diesen Schritt nicht aus Langeweile oder einer flüchtigen Laune heraus, sondern aus einem existenziellen Zwang. Als ich mich Mitte der achtziger Jahre entschied, mein Land zu verlassen, litt ich weder Hunger, noch wurde ich politisch verfolgt oder an Leib und Leben bedroht. Ich wusste trotzdem nicht, wie es dort für mich weitergehen sollte. Und so entschloss ich mich zu dem Schritt, der alles für mich veränderte. Ich bewarb mich für ein Stipendium, das mich weit weg ins Ausland bringen sollte.
Ich will von meinem Leben erzählen, weil es vielen Menschen ähnlich geht wie mir damals: Sie müssen in der Fremde von vorn anfangen. Ich will davon erzählen, weil mein Weg nie geradlinig verlaufen ist, er war voller Kurven und Abzweigungen, manchmal so unwegsam und holperig, dass ich ganz kurz davor war zu stolpern.
Ich wünsche mir, dass mein Weg andere Menschen inspiriert und motiviert, sich ein bisschen mehr zuzutrauen im Leben. Dass sie an meinem Beispiel sehen, was alles möglich ist in diesem Land. Auch als Migrant.2
Mein Leben ist geprägt von Grenzüberschreitungen. Ich spreche nicht nur von Ländergrenzen, nicht nur von den scheinbaren Grenzen des Machbaren, sondern auch von den Grenzen des Miteinanders. Ich spreche von meinem Schwager in Marsassoum, der mich selbstlos umsorgt hat wie seinen eigenen Sohn und mir alles Wichtige mit auf den Lebensweg gegeben hat. Vom rassistischen Taxifahrer in Magdeburg, der mir die Mitnahme verweigert und mich zu Fuß durch den Tiefschnee zur Staatskanzlei laufen lässt. Ich spreche von jener Chemikerin in der DDR, die mich bei sich willkommen hieß wie ihr sechstes Kind und mir Schals und Mützen strickte. Von der Kellnerin in Berlin, die mich nicht bedienen will. Vom Gezischel im Zug. Den bösen Blicken auf der Straße. Von der übergroßen Anerkennung meiner Hallenser. Und immer wieder von Hass-Mails in meinem Postfach.
Wie alle guten Geschichten hat auch diese nicht nur helle, sondern auch ihre dunklen Seiten. Ich will sie ins Licht ziehen, sie sichtbar machen. Ich beobachte mit Sorge den Rechtsruck in Europa und befürchte, dass die offene Feindseligkeit im politischen Klima unserer Zeit noch besser gedeihen wird. Hass gegenüber Fremden, anderen Religionen, gegen Juden und gegen Muslime.
Ich selbst bin islamisch erzogen worden. Unsere Familie gehört der Richtung Qādirīya an, das ist die liberalste Form des Islam. Ich stamme aus einer Gelehrtenfamilie, der Name Diaby ist den Menschen auch in den Nachbarländern des Senegal noch ein Begriff. Auch ich war darum schon als Jugendlicher dazu berufen, andere Kinder in Religion zu unterrichten. Doch schon beim Studium in Dakar trat der Glaube für mich immer weiter in den Hintergrund. In der DDR war Religion generell kein Thema für die Menschen. In meinem Umfeld, auch unter den ausländischen Studierenden, gab es kaum jemanden, der den Islam praktizierte, und so verschwand er allmählich auch aus meinem Leben.
Heute gelten für mich die Kernwerte der abrahamitischen Religionen, des Islam, des Christentums und des Judentums. Aber natürlich haben sich auch auf meine religiöse Erziehung schon wirre Unterwanderungstheoretiker gestürzt, um mich zum Mitglied einer islamischen Weltverschwörung zu erklären.
Ich hoffe, dass meine eigenen...