Vorwort
Katyn ist eine der grellen Chiffren des 20. Jahrhunderts, ein Massenmord, der eine gewaltige und nachhaltige Wirkung entfaltete. Doch war die Ermordung von rund 4300 polnischen Offizieren und Fähnrichen, die meisten davon Reservisten mit Hochschulbildung, sowie mehreren Dutzend Spitzenbeamten durch die Geheimpolizei Stalins im Frühjahr 1940 viel mehr als ein Kriegsverbrechen. Der Name des kleinen Dorfes im Westen Russlands steht stellvertretend für den Versuch des Kremls unter Stalin, die polnische Führungsschicht weitgehend auszurotten, um das totalitäre System der Sowjetunion besser auf Polen ausdehnen zu können. Der Mordbefehl betraf nicht nur Katyn, sondern auch weitere Orte, an denen insgesamt rund 25.000 polnische Offiziere, Beamte und Intellektuelle einen gewaltsamen Tod fanden. Der Begriff «Verbrechen von Katyn» schließt im heutigen Sprachgebrauch in Polen die Opfer aus den erst ein halbes Jahrhundert später bekannt gewordenen anderen Massengräbern mit ein, weil das Dorf westlich von Smolensk der erste Ort war, an dem es offenbar wurde. Sie finden daher auch Berücksichtigung in diesem Buch.
Auch steht Katyn für die Lüge als Kernelement des von Lenin und Stalin geprägten Systems, das hier alle moralischen Kategorien auf den Kopf stellte: Wer von sowjetischer Täterschaft sprach, wurde als Verleumder verfolgt, bestraft und schlimmstenfalls liquidiert. Nicht zuletzt wegen der Katyn-Lüge konnte das von Moskau mit Zwang durchgesetzte System, das sich Sozialismus nannte, in Polen nicht Fuß fassen. Weit über die konfliktbeladene Geschichte der polnisch-russischen Beziehungen hinausweisend steht Katyn also auch für das Streben nach Wahrheit gegen Lüge, nach Freiheit gegen Unterdrückung, nach Kultur und Zivilisation gegen rohe Gewalt und Mord.
Der Kampf um die «Wahrheit über Katyn» wurde zur Konstante in der polnischen Dissidenten- und Demokratiebewegung, aus der die Gewerkschaft Solidarność hervorging. Dieser Kampf bekam eine sakrale Note, Katyn als der Ort, in dem das absolut Böse das Gute, nämlich die Blüte der Nation, vernichtet hat. Erst recht wurden das Verbrechen und das Gedenken daran überhöht, als 2010 die polnische Präsidentenmaschine bei Smolensk abstürzte, ausgerechnet auf dem Weg zu einer Gedenkfeier aus Anlass des 70. Jahrestages des Massakers von Katyn.
In der Suche nach Motiven dafür stehen sich zwei Positionen gegenüber: Namentlich in Polen gilt es als Völkermord, ein Teil der westeuropäischen und nordamerikanischen Historiker verortet es dagegen als Klassenmord. Doch gegen diese eindeutigen Zuordnungen lassen sich Einwände erheben: So ließ Stalin auch Zehntausende Polen, die kleine Bauern oder einfache Arbeiter waren, also aus den «Klassen», die nach der reinen Lehre zur herrschenden werden sollten, in die Tiefen der Sowjetunion deportieren.
Überdies hat er bei weitem nicht alle Angehörigen der polnischen Führungsschicht umbringen lassen, die seinem Regime in die Hände gefallen waren. Vielmehr brauchte er Helfer beim Aufbau einer vollständig von ihm abhängigen und ihm auch hörigen neuen Elite. Für sie stehen die blind fanatische Stalinistin Wanda Wasilewska, der in Moskau kriecherisch buckelnde, in Polen gnadenlos nach unten tretende Parteichef Bolesław Bierut, auch er ein Schreibtischmörder, sowie der opportunistische General Zygmunt Berling. Alle drei spielten bei der Katyn-Lüge ihre Rolle und wurden nicht zuletzt deshalb in der polnischen Gesellschaft, die stets ein überaus starkes Geschichtsbewusstsein prägte, zu Hassfiguren.
Wie wichtig ethnische und nationale Kategorien im Denken Stalins waren, belegen einige seiner Aussprüche und vor allem sein Handeln: Den Polen und den Russen bescheinigte er, «desselben Blutes» zu sein, nämlich des slawischen. Obwohl er Georgier war, schloss er somit an panslawische Ideen an. Die Russen seien das «größte aller Völker der Sowjetunion», was nicht quantitativ gemeint war – ein Anklang an das «dritte Rom» der russisch-orthodoxen Kirche.
Stalin rühmte sich gegenüber den Vertretern der polnischen Exilregierung, die angeblich deutschfreundlichen Ukrainer «zu vernichten» – und hat, was deren kulturelle Elite angeht, auf diesem Wege tatsächlich ein gutes Stück zurückgelegt. Er beanspruchte die Verfügungsgewalt über die ukrainischen Einwohner des damaligen Ostpolens, die vor dem Krieg polnische Staatsbürger waren, deren Heimat nie Teil des Zarenreichs war – und die auf keinen Fall zur Sowjetunion gehören wollten, weil sie von der auf Befehl Stalins organisierten Hungersnot in der Ukrainischen Sowjetrepublik wussten. Zu den Spätfolgen seiner brutalen Ukraine-Politik gehört der blutige Konflikt zwischen Moskau und Kiew von heute.
In der Tradition des Zarenreichs sah Stalin auch die Juden als eigene «nationale Minderheit» an. Die letzten großen Säuberungswellen zu seinen Lebzeiten, die Kampagne gegen «Kosmopoliten» und die «Ärzteverschwörung», richteten sich vor allem gegen die jüdische Intelligenz in der Sowjetunion, waren also ebenfalls kulturell-ethnisch motiviert. Auch ließ er ganze Völkerschaften deportieren, wie die Wolgadeutschen, die Tschetschenen und Krimtataren – hier entluden sich ebenfalls zwei Generationen später aufgestaute Konflikte. Da er den anderen Völkern misstraute, setzte er in allen Sowjetrepubliken und Satellitenstaaten Russen auf Schlüsselpositionen. In Warschau wurde der Sowjetmarschall Konstantin Rokossowski polnischer Verteidigungsminister, eine – durchaus so beabsichtigte – Demütigung der Polen.
In seinen ideologischen Schriften hat Stalin die Lösung politischer Probleme durch Gewalt mit den Lehren von Karl Marx gerechtfertigt, so wie es bereits der Revolutionär Lenin getan hat. Stalin und die Mitglieder seines Politbüros, die am Mordbefehl für Katyn beteiligt waren, dachten in Feindkategorien und Verschwörungstheorien, getreu dem Motto Lenins «Wer wen?» – Wer wird wen besiegen? Ob sie im Leninschen Sinne noch ein Gesellschaftsziel außer der Sicherung der eigenen Machtposition verfolgten, ist unter Historikern umstritten. Ob sie pathologische Mordlust und grenzenlose kriminelle Energie antrieben, Allmachtsphantasien oder kaltes Kalkül, ebenfalls. Vermutlich von jedem etwas. Dass Stalin zunehmend paranoid misstrauisch war, dass sein Geheimdienstchef Beria perverse Züge hatte, gilt heute als erwiesen. Ebenso, dass sie und ihre Mittäter in der Leitung von Partei- und Geheimdienstapparat für sich das Recht beanspruchten, über Leben und Tod tatsächlicher, potenzieller und vermeintlicher Gegner zu entscheiden. Und dass sie offenbar davon überzeugt waren, auch im Fall Katyn etwas Notwendiges zu tun.
In abgeschwächter Form haben dies auch die Nachfolger Stalins getan, von Chruschtschow bis zu Andropow. Auch sie nahmen das Recht für sich in Anspruch, ihren Bürgern das Denken sowie den Lebensstil vorzuschreiben und Abweichler in den Gulag oder in psychiatrische Kliniken zu schicken, wobei sie billigend deren Tod in Kauf nahmen. Auch ihre Geheimdienstapparate unterlagen keinerlei gesellschaftlicher Kontrolle, waren Instrumente eines – nun stark gedämpften, weitaus weniger umfassenden und eher berechenbaren – Terrors.
Doch während Lenin offen den «roten Terror» predigte, während die Parteipresse im Russischen Bürgerkrieg und den ersten Jahren nach der Machtergreifung der Bolschewiken offen Kampagnen für die Vernichtung von Kapitalisten, Zaristen, Priestern führte, gab sich das totalitäre Regime Stalins den Anstrich eines Rechtsstaates: Verfassung, Wahlen, Justizverfahren, völkerrechtliche Abkommen imitierten die demokratischen Staaten. Der Orwellsche Aufwand, der für das Tarnen und Täuschen, für Geheimhaltung und Propaganda getrieben wurde, war enorm, gerade auch im Fall Katyn.
Sogar der letzte Sowjetführer Michail Gorbatschow, der vergeblich versuchte, das Riesenreich zu modernisieren, hielt lange wider besseren Wissens an dieser Lüge fest. Erst als er längst die Kontrolle über die Entwicklung verloren hatte, gab er zumindest einen Teil der Wahrheit zu. Doch es war zu spät, die Polen im Ostblock zu halten. So hat sich an Gorbatschow selbst der ihm zugeschriebene, aber vermutlich von einem Übersetzer stammende Spruch bewahrheitet: «Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.» Katyn hat sich als Sprengsatz mit großer Zeitverzögerung erwiesen. Es gehört zur Tragik des gescheiterten Reformers Gorbatschow, dass seine Politik erst die Schleusen für den breiten Strom der Vergangenheitsbewältigung geöffnet hat, der letztlich auch ihn mit fortriss. Denn die Flut der Berichte über Verbrechen im Auftrag der kommunistischen Partei unterminierte die gesamte Legitimationsgrundlage ihrer Herrschaft.
Diesem Buch liegen sämtliche Augenzeugenberichte, Dokumentationen und Analysen zu dem Schicksal der polnischen Kriegsgefangenen zugrunde. Die meisten sind in Polen erschienen, ein beträchtlicher Teil auch in Russland. Letztere belegen einerseits den festen Willen zur Aufklärung bei einem Teil der russischen Historikerzunft, andererseits ihre zunehmenden Probleme, dies auch umzusetzen. Denn die politische Klasse in Moskau zeigt sich erneut...