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E-Book

Kein Job für schwache Nerven

Neue Fälle des Tatortreinigers

AutorPeter Anders
VerlagHeyne
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl256 Seiten
ISBN9783641098308
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Deutschlands bekanntester Tatortreiniger berichtet
Peter Anders kommt, wenn der Tod hässliche Spuren hinterlassen hat. Der Tatortreiniger putzt, wo andere nicht hinsehen können: Er wischt Blut weg, beseitigt Insekten, befreit Räume von Leichengeruch. Bei seinen Einsätzen begegnen ihm spektakuläre Kriminalfälle, bewegende Schicksale und traumatisierte Hinterbliebene, denen er durch seine Arbeit ein Stück Normalität wiedergibt. Nach dem großen Erfolg von Was vom Tode übrig bleibt schildert Peter Anders jetzt neue Fälle - spannend, ergreifend, schaurig-faszinierend!

Peter Anders, geboren 1966, erkannte durch seine Einsätze als Feuerwehrmann bei der Berufsfeuerwehr München den Bedarf an Fachleuten, die den Angehörigen die Tatort-, Leichenfundort- und Unfallortreingung abnehmen. Er gründete seine Firma ' ASD München' und ist seit 2005 als einer der wenigen Tatortreiniger Deutschlands tätig. Peter Anders ist verheiratet und lebt mit seiner Frau und den zwei Töchtern bei München. Sein erstes Buch 'Was vom Tode übrig bleibt' (2011) war ein Bestseller.

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Leseprobe

2. Doppelrahmstufe

Eigentlich war sofort klar, dass die Angelegenheit länger dauern würde: »Erstmaßnahmen« sollten wir durchführen, nur »Erstmaßnahmen«. Das bedeutet: die Wohnung reinigen, die Möbel wegschaffen, die Insekten entfernen, den Geruch oberflächlich bekämpfen. Die Schwester und der Bruder des Toten hatten sich dafür entschieden, ich hatte eindringlich darauf hingewiesen, dass das vermutlich nicht genügen würde. Ach was, vermutlich: Wenn man sich die Umstände ansah, war es vollkommen ausgeschlossen, dass die Sache damit erledigt sein würde.

Der Mittvierziger war in seinem Wohnzimmer gestorben, aber das war nicht das Problem. Das Problem war das Haus: Er hatte sich ein Doppelhaus gebaut, am Rande eines bayerischen Dorfes und in der Mitte von Nichts. Und bei diesem Hausbau hatte er sich komplett übernommen. Schulden, Hypotheken, nichts half, also hatte er erst eine Hälfte des Hauses fertig gebaut, die schönere, die ihm besser gefallen hatte, und dann hatte er diese Hälfte verkauft, um Geld für die andere Hälfte zu haben. Irgendetwas an diesem Plan war schiefgegangen, vielleicht verstand er auch nichts vom Häuserverkaufen, das kann ja manchmal schwieriger sein als das Bauen selbst. Jedenfalls stellte er die andere Hälfte des Hauses nur noch notdürftig fertig, nämlich das Erdgeschoss, so halbwegs, und dabei blieb es dann. Das war vor etwa 20 Jahren gewesen, seither hatte der Mann in einer Art halbfertigem Rohbau gelebt. Das war der erste Teil des Problems: Je weniger verputzt und verarbeitet ein Mauerwerk ist, je billiger das verwendete Material ist, desto saugfähiger ist es auch, wenn die Leichenflüssigkeit kommt. Und Leichenflüssigkeit hatte es mehr als genug gegeben.

Der Mann hatte 180 Kilo gewogen.

Er war im Hochsommer gestorben, auf dem Sofa sitzend oder halb sitzend, gefunden hatte man seine Leiche direkt vor dem Sofa, vielleicht war er ja auch aufgestanden, weil ihm übel war, und dann zusammengeklappt. Besonders sicher konnte er ohnehin nicht gestanden haben, neben dem Sofa lehnte eine Beinprothese. Seine Beinprothese. Das sah seltsam aus, dabei ist es, wenn man mal drüber nachdenkt, nur normal: So was nimmt der Bestatter natürlich nicht mit. Logisch. Aber überrascht ist man dann doch.

Dort, vor dem Sofa, hatte er nun gelegen, 14 Tage lang, im Hochsommer. 180 Kilo Körpergewicht ergeben, wenn man mal von 70 Prozent Wasseranteil im Körper ausgeht, 126 Liter Körperflüssigkeit zu Lebzeiten. Und 126 Liter Leichenflüssigkeit hinterher. Wenn man diese Menge 14 Tage auf höchstens zwei Quadratmeter eines 20 Jahre alten Teppichbodens über mäßig verputztem Mauerwerk einwirken lässt, diese Rechnung allein genügt, um zu wissen, dass es da mehr braucht als »Erstmaßnahmen«.

Außer natürlich, man will das ganze Haus sowieso abreißen.

Trotzdem, die Geschwister blieben bei ihrer Sparbestellung. Ich stellte meine Warnungen ein und versprach, ihnen Bescheid zu geben, wenn mehr zu tun wäre. Wir rückten also zunächst zu zweit an, meine Frau Petra und ich. Als Erstes beschlossen wir, das Sofa rauszutragen. Eine alte Tagesdecke lag noch darauf, die ich zur Seite legen wollte, genau genommen mehr aus Gewohnheit, man lässt beim Raustragen auf dem Sofa nichts liegen, damit erstens das Sofa leichter wird und einem zweitens das Zeug beim Tragen nicht runter und zwischen die Füße fällt. In diesem Fall war es allerdings ein Fehler: Dieses Sofa war das erste Sofa, das durch Entfernen einer Tagesdecke schwerer wurde. Ich wollte die Decke nehmen, um sie zur Seite zu werfen, aber als ich den ersten Zipfel halbwegs in der Luft hatte, wäre ich beinahe selbst entsetzt zurückgesprungen – ich hatte nicht mit den Käfern gerechnet. Es waren etwa zwei, drei Dutzend von ihnen, und solche hatte ich noch nie an einem Leichenfundort gesehen. Nicht die üblichen kleinen Speckkäfer, sondern schwarze, drei bis vier Zentimeter lange Käfer; im Internet habe ich sie später als »Schwarze Totengräber« wiedererkannt. Das war sogar für mich richtig gruselig, weil komplett unerwartet.

Sie waren wohl unter der Leiche hervorgekommen, und bei deren Entfernen hatten sie sich eben anderweitig versteckt – unter der Tagesdecke auf dem Sofa. Und unter dem Sofa selbst. Das Unerfreulichste war, dass ich mangels eigener Erfahrung auch Petra nicht auf das Käfergewimmel hatte vorbereiten können. Ich sah ihr in die Augen, und mir war sofort klar, dass keine Macht der Welt sie jetzt noch dazu bringen würde, das Sofa mit anzufassen. Also schleppte ich es allein, ich überwand mich, hob an einer Ecke an und zerrte das Ding vor die Tür. Wenn mich jemand beobachtet hat, muss ich ihm vorgekommen sein, als hätte mich jemand frisch aus diesem Western herausgeschnitten, in dem Django immer einen Sarg hinter sich herschleift.

Petra kümmerte sich inzwischen um die Maden. Die Maden waren in der Küche. Dezimeterdicke Madenschichten, Kilos von Maden, alle inzwischen in der Küche, muss man sagen. Schließlich hatten sie dort ihre Laufbahn nicht begonnen. Die Maden hatten allesamt auf dem Hausbesitzer gesessen. Und wie die Beinprothese lassen die Bestatter auch die Maden zurück. Was also tun Maden, wenn man ihnen plötzlich das Futter wegnimmt? Sie gehen auf Wanderschaft, und das haufenweise. Wie sie das organisieren, ist mir schleierhaft. Ameisen gehen da ja systematisch vor: Sie schicken Späher aus, und diejenigen, die was finden, holen dann die anderen nach. Maden machen das nicht. Es gibt keine Madenstraßen, Maden wandern immer im Pulk. Und der gesamte Klumpen, den die Bestatter vom Vermieter abgestreift hatten, wand sich nun in der Küche auf dem Fußboden. Es gibt Schlimmeres: Auf dem gefliesten Boden kann man sie wenigstens nach der Insektizidbehandlung mit dem Bodenwischer zusammenschieben und mit der Kehrschaufel einsammeln – zumindest die in der Küche. Denn natürlich sondern sich in nicht ganz so penibel gereinigten Wohnungen einige kleinere Madenklumpen links und rechts ab, überall dort, wo sie andere essbare Teile finden oder wo ein bisschen Hausbesitzer zurückgeblieben ist, sagen wir auf dem handtellergroßen Hautfetzen in der Zimmermitte. Wohl auch deswegen habe ich mir schon öfter überlegt, ob die Bestatter nicht vielleicht beim Abtransport für die Maden ein Kotelett zurücklassen könnten, dann würden die wenigstens alle beieinander bleiben.

Die Entsorgung des Wohnzimmers war da schon unangenehmer. Ich erzähle das manchmal, als ob das so einfach wäre: Man zerlegt halt alles in handliche Pakete und verpackt sie entsorgungsgerecht. Vielleicht wäre es mir ohne Petras Reaktion überhaupt nicht aufgefallen, dass das gar nicht so selbstverständlich ist. Am deutlichsten wurde das beim Teppichboden. Dieser alte Teppichboden war inzwischen vollgesogen mit Leichenflüssigkeit, und in einen knappen Quadratmeter Teppichboden passt mehr Flüssigkeit, als man glauben will: Zehn Liter sind da kein Problem. Obwohl ich ihn in Stücke von einer Größe zerschnitt, mit der wir arbeiten konnten, hatte der leichte Teppichboden plötzlich das Gewicht von einem Kasten Bier.

Jetzt klingt ein Kasten Bier immer noch tragbar. Aber unser Teppichkasten Bier hat keine Griffe. Also müsste man ihn, um ihn gut tragen zu können, eigentlich zusammenknüllen und mit den Armen an den Körper pressen wie ein kleines Kind. Aber dieses Kind will niemand in den Armen halten. Es ist das widerlichste Kind, das man sich denken kann. Trotz Schutzanzug, trotz dichter Handschuhe, dieses Kind will niemand näher an sich heranlassen, als unbedingt nötig. Dabei wäre es in diesem Fall sogar besonders nötig gewesen.

Denn dieses sperrige bierkastenschwere Teppichmonster ist zugleich auch unglaublich schmierig. Leichenflüssigkeit besteht nicht nur aus Wasser, sie besteht zu einem hohen Prozentsatz aus Fett, und bei einem übergewichtigen Herrn wie dem Verstorbenen ist der Fettanteil sogar besonders hoch, weil das Fett – anders als das Wasser – praktisch nicht verdunstet oder versickert. Ich habe den Fettanteil nie nachgemessen, aber es sollte mich wundern, wenn die Flüssigkeit im Teppich wesentlich weniger Fett enthielte als, sagen wir, 25 oder 30 Prozent; das ist etwa derselbe Prozentsatz wie in einem Becher Schlagsahne. Das macht unseren Leichenteppichbodenfetzen so glitschig wie einen Aal. Man versucht verzweifelt, ihn zu greifen, ihn zu bugsieren, und das möglichst weit weg vom Körper, nur durch den Druck der Finger, und dabei rutscht er einem natürlich millimeterweise durch die Fingerkuppen, ein schmieriger, wirklich widerlicher Kasten Bier in den ausgestreckten Armen, die schon nach einer halben Minute wehtun, er glitscht nach unten weg, weshalb man noch verkrampfter die Finger zusammenpresst, man versucht es mit den Fingernägeln durch die Handschuhe hindurch, um wenigstens etwas Grip zu bekommen, und man bewegt sich mit diesem sperrigen Glitschmonster auf seine geliebte Frau zu, die gequält einen Müllbeutel aufhält, den sie möglichst weg weit von ihrem Körper hält, und man will es nicht glauben, während einem die Arme halb abfallen, während einem jeder Muskel wehtut mit dem tonnenschweren Teppichschmodder in den Fingern, sieht man doch tatsächlich auch noch entsetzt, wie die eigene Frau einem nicht nur keinen einzigen kleinen Schritt entgegenkommt, sondern sich angewidert sogar rückwärts wegbewegt.

Da müsste man sich schon sehr zusammenreißen, um freundlich zu bleiben. Und ich kann mich zwar nicht erinnern, was genau ich in jenem Moment zu Petra gesagt habe, aber ich fürchte, ich war gar nicht freundlich. Und irgendwie freundlich...

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