PRÄLUDIUM
Wo sind die Frauen und Kinder abgeblieben? Warum ich dieses Buch schreibe
Auf meiner Reise in die Flüchtlingslager dieser Welt begleitete mich immer wieder die Frage: Wieso sind die flüchtenden Frauen und Kinder ohne Schutz? Und: Wo sind denn all ihre Männer, ihre Väter und Brüder? – Wie ich inzwischen weiß, ist das eine längere und bittere Geschichte. Mit diesem Buch möchte ich sie erzählen. Auch, damit sie nicht vergessen wird.
Denn erinnern wir uns: Als die ersten Bilder von Flüchtlingen im Frühjahr 2015 über die Fernsehbildschirme flimmerten, rieben wir uns doch in Deutschland ungläubig die Augen. Wir saßen ja alle warm und sicher in unseren Wohnzimmern. Aber wir sahen Tausende von Menschen, wie sie aus kleinen Booten herauskletterten. Wie sie sich wackelig, ängstlich und zögernd die Gangways der großen Schiffe in Italien herunterwagten. Manchmal wenigstens in wärmende Decken gehüllt und mit Wollmützen auf dem Kopf. Später berichtete die EU-Grenzschutzagentur Frontex, dass in Italien fast siebenmal so viele Männer angekommen seien wie Frauen. Siebenmal!
Aber: Das war für uns ja noch so weit weg. Flüchtlinge, das haben wir begriffen, verlassen in Afrika Not leidende Länder oder Diktaturen, fliehen in Syrien vor einem Krieg, suchen Schutz aus dem unsicheren Afghanistan. Nur wer da genau ankommt, darüber waren wir uns wohl noch nicht so ganz im Klaren. Hatten wir doch jahrelang die EU-Nachbarn Italien und Griechenland mit den Flüchtlingsströmen nur allzu gerne allein gelassen. Außerdem schien Deutschland monatelang wie paralysiert von ganz anderen Themen: von der Griechenland-Krise und ihren Folgen. Vom Mob von Heidenau und von der Frage, wo wir am besten den Sommerurlaub verbringen. Alles ganz normal. Fast.
Erst die Fotos der schier endlosen Menschenschlangen in der Sommerhitze auf der Balkan-Route bis Passau, die Bilder der kauernden Menschen auf den Bahnhöfen von Budapest und Wien, die verzweifelten Gesichter der Flüchtlinge am Stacheldraht von Mazedonien – erst diese Bilder haben uns aufgeschreckt. Ich habe mir damals die Szenen sehr genau angesehen und fast nur Männer, Väter, Söhne und Brüder entdeckt. Ganz selten habe ich auf den Fotos von den engen Booten oder von den Schlangen vor einem Zaun, einer Behörde oder einer Toilette eine Frau gefunden. Wo sind sie bloß geblieben in diesem Flüchtlingssommer 2015? Es kam mir so vor, als gäbe es keine Not leidenden Frauen und Kinder, als wäre der Bürgerkrieg in Syrien, als wären die Gesellschaften in Afghanistan, Eritrea und im Irak reine Männerwelten. So wird wohl auch der Flüchtlingssommer 2015 in Deutschland als eine Massenflucht junger Männer in den Geschichtsbüchern beschrieben werden: Zwei Drittel der Asylanträge in dieser Zeit stellten Männer. Mehr als 70 Prozent von ihnen sind, so vermerkt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) später, jünger als 30 Jahre. Unter den 14- bis 34-jährigen Flüchtlingen sind sogar drei Viertel der Migranten Männer.
Die Frage nach den Frauen und Kindern treibt mich um. Ich lese von den Tausenden Frauen und Kindern, die vor der Terrormiliz Islamischer Staat aus Nordsyrien und dem Nordirak fliehen mussten. Dazu berichtete UNICEF Deutschland in Rundbriefen seinen Komitee-Mitgliedern von den schlimmen Lebensumständen für Frauen und Kinder in den Flüchtlingslagern in Jordanien und im Libanon. Ich weiß zudem aus vielen Jahren der Recherche sowohl im Krieg auf dem Balkan als auch in Tschetschenien und in Ruanda: Vor allem Frauen und Kinder sind in Kriegen akut gefährdet. Systematische Vergewaltigungen werden längst als strategische Kriegswaffe eingesetzt, die Entführung von Mädchen und ihr Verkauf an Kämpfer oder an Internet-Bieter ist eine der grausamen Methoden der IS-Terroristen.
Aber ich kenne auch diese Zahlen: Weltweit sind 60 Millionen Menschen auf der Flucht, und laut den Vereinten Nationen ist jeder zweite Flüchtling weiblich. Sie fliehen entweder im eigenen Land aus ihrem Heim, ihrem Haus wegen kriegerischer Auseinandersetzungen oder retten sich in ein anderes Land. Tatsache ist in diesem 21. Jahrhundert: Noch nie haben so viele Menschen ihre Heimat verlassen müssen. Wo sind dann nach diesem Sommer 2015 die Frauen?
Ich beginne in den Ländern zu recherchieren, die bisher die meisten Flüchtlinge beherbergen: in der Türkei, im Libanon, in Jordanien. Denn genau dort sitzen sie fest, die Frauen, Mütter und Großmütter mit ihren Kindern. Dabei wird mir schnell klar, dass der große Flüchtlingstreck der syrischen Männer in dem Augenblick begann, als das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) seine bisherigen monatlichen Zahlungen von 26 Dollar pro Flüchtling halbierte auf nur noch 13 Dollar. Schlichtweg, weil viele Länder nicht eingezahlt haben. Denn das Programm lebt ausschließlich von freiwilligen Zahlungen und besitzt keine Grundfinanzierung der UN-Organisationen. So fehlte das Geld für Millionen syrischer Flüchtlinge. Ein Desaster für die Betroffenen. »Die Einstellung der Nahrungsmittelhilfe wird die Gesundheit und Sicherheit dieser Flüchtlinge gefährden und weitere Spannungen, Instabilität und Unsicherheit in den Aufnahmeländern verursachen«, so mahnte schon 2014 die Direktorin des Programmes, Ertharin Cousin, in New York.1 Mit den Aufnahmeländern sind die Türkei, der Libanon und Jordanien gemeint.
Damals haben sich wohl viele Flüchtlingsfamilien gesagt: Hier in den Lagern nahe unserer einstigen Heimat haben wir keine Zukunft mehr. Lieber steigen wir in Schlauchboote auf dem Mittelmeer, als hier zu verhungern. Das wenige noch vorhandene Geld in den Familien wurde zusammengekratzt und in die Flucht des »starken« Mannes, in den Sohn, den Vater investiert. Auf dass er die gefährliche Reise schafft in einen sicheren Staat in Europa. Um dann von dort aus die Familie nachzuholen. Eine nachvollziehbare Entscheidung, denn ein Mann kommt allein eher durch als mit der ganzen Familie im Schlepptau.
Meine erste Station auf der Suche nach den Frauen und Kindern ist die Türkei. Das Land mit seinen 78 Millionen Einwohnern hat bis 2016, ohne zu klagen, 2,8 Millionen Flüchtlinge aufgenommen. Überwiegend syrische Familien. Vor allem aber Frauen und Kinder. Ich reise also nach Diyarbakir, in die kurdische Hauptstadt im Osten des Landes. Insgesamt sind es 25 Zeltstädte, die die Türkei bis dahin entlang der syrischen und irakischen Grenze mithilfe ihres Militärs aufgebaut hat. Die Jesidinnen aus dem irakischen Sindschar-Gebirge sind dorthin geflohen. Ihre Männer sind entweder tot oder noch im Kampf. Einige befinden sich auch auf dem Weg nach Europa. In den großen, aber im Sommer unglaublich heißen Militärzelten erzählen sie mir ihre traurigen Geschichten. Von ihren Tränen um die im Krieg Getöteten. Von ihrem Kummer um die von den IS-Milizen entführten Töchter und über ihre Angst, hier im kurdischen Teil der Türkei zurückzubleiben. Denn das habe ich immer wieder gehört: Vor 100 Jahren haben die Jesiden als christliche Gemeinschaft genau in dieser Region der Türkei einen schrecklichen Genozid durch die Muslime erlitten. Sie fragen mich immer wieder: »Warum nimmt uns Deutschland nicht auf? Warum nur die Syrer?« Damals kursierten die Selfies der Bundeskanzlerin mit den syrischen Flüchtlingen im weltweiten Netz. Ich begegne aber auch tapferen syrischen Kurdinnen, die nahe ihrer zerstörten Heimatstadt Kobane in Lagern untergekommen sind und so bald wie möglich wieder zurückwollen über die Grenze. Auch wenn dort noch Krieg herrscht. Viele von ihnen sind sogar dazu bereit, ihre Kinder den Großmüttern zu überlassen, um selbst gegen den IS zu kämpfen. So wie viele andere Irakerinnen auch, die sich zum Teil den kurdischen Peschmerga angeschlossen haben, um mit in den Kampf gegen den IS zu ziehen. Diese Frauen haben Mut, sie geben nicht auf und nehmen die Waffen selbst in die Hand. Aufregende Geschichten haben sie alle miteinander zu erzählen.
Die Situation der im Libanon zurückgebliebenen Frauen und Kinder ist dagegen viel hoffnungsloser. Das Land mit seinen 5,8 Millionen Einwohnern hat bis zum Januar 2015 die Grenzen zum Nachbarstaat Syrien offen gehalten. Inzwischen aber sind die Grenzstationen geschlossen, und die rund 1,2 Millionen registrierten Flüchtlinge bleiben im Libanon auf sich alleine gestellt. Denn das kleine Land schafft es finanziell nicht, den Menschen so etwas wie organisierte Lager oder schützende Zelte zur Verfügung zu stellen. Das müssen die Flüchtlingsfamilien selbst organisieren. So leben sie in selbst gebastelten Unterkünften aus Pappe, Papier, ein wenig Holz und Plastikplanen. Oder in engen, dunklen Räumen mit Schimmel an den Wänden und dünnen Matten auf dem kalten Boden. Es ist zum Erbarmen. Ich sehe, dass die Hilfsorganisationen tun, was ihnen möglich ist. Aber die Geschichten der Frauen und ihrer Kinder bereiten mir schlaflose Nächte. Vor allem die Ausweglosigkeit ihrer Situation ist erschütternd.
Was auch überall sichtbar wird: Vergewaltigung, Zwangsheirat und Zwangsprostitution sind an der Tagesordnung in den Lagern. Vor allem, wenn die Männer fehlen. Familien bieten den Frauen und Kindern Schutz. Ohne Männer verlieren sie diese Sicherheit. Da helfen dann nur Zusammenschlüsse von starken Frauen, die sich gemeinsam wehren und füreinander einstehen. Das habe ich im Libanon gesehen, und das gilt auch für Jordanien.
Dort ist der Frauenhandel inzwischen zu einem guten Geschäft geworden. Die Araber lieben es, sich eine Syrerin als Zweit- oder Drittfrau zu kaufen. Dafür sind sie in Jordanien bereit, bis zu 10 000 Dollar auszugeben. Syrerinnen sind nicht nur schön, sondern angeblich auch sanfter als die Araberinnen. Das haben mir die Libanesinnen...