2. Kapitel
Es kommt nicht zu der geplanten Schiffsüberfahrt in der Spätsommersonne. Stattdessen fahren wir mit dem Auto über den Öresund nach Kopenhagen und Refshaleøen. Die gepackten Koffer haben wir dabei, wir hoffen und glauben, dass das Ganze sich aufklären wird, dass Kim unversehrt zurückkehrt und wir dann eben über Dänemark in die deutsche Hauptstadt fahren können. Während der Fahrt nach Malmö, über die Brücke und Richtung Kopenhagen, halten wir uns über die dänischen Radiosender auf dem Laufenden. Das verschwundene U-Boot gilt als »breaking news«, es ist die erste Meldung in jeder Sendung. Unsere Besorgnis nimmt immer mehr zu. Es dauert ewig, bis wir an all den roten Ampeln und Staus des morgendlichen Berufsverkehrs vorbei sind.
In Refshaleøen angelangt, sehen wir von weitem den großen klobigen Rettungshubschrauber, der über dem Hafengebiet kreist. Plötzlich wird das Ganze sehr real, es ist Kim, nach der da gesucht wird. Sie ist irgendwo dort draußen.
Refshaleøen macht auf den ersten Blick einen heruntergekommenen Eindruck. Die Halbinsel im Norden von Amager war einst Standort des großen Maschinen- und Schiffbauunternehmens Burmeister & Wain. Triste Gebäude zeugen von Glanzzeiten, die längst vergangen sind. Jetzt ist das hier eine Spielwiese für Graffitikünstler, und auf jedem freien Fleck drängen sich Fahrräder.
Der Halbinsel gegenüber, auf der anderen Seite der Hafeneinfahrt von Kopenhagen, liegt der Langelinie Pier mit der berühmten Kleinen Meerjungfrau. Wie an jedem Morgen während der Urlaubssaison, stehen dort die Reisebusse in langen Reihen. Alle wollen die Kleine Meerjungfrau sehen und fotografieren.
Ausgerechnet an diesem Wochenende soll ein großes Musikfestival auf Refshaleøen stattfinden. Bühnenarbeiter, Gerüstbauer und viele andere sind in vollem Gange, obwohl es noch so früh am Morgen ist. Viele haben die ganze Nacht gearbeitet, um rechtzeitig fertig zu werden. Jemand hält uns für Freiwillige, und wir bekommen eine Parkgenehmigung.
Gemeinsam mit Ole legen wir die paar hundert Meter bis zu dem rostigen Kai zurück, an dem das U-Boot Nautilus seinen festen Anlegeplatz hat. Die ganze Gegend wirkt vernachlässigt, der Asphalt ist voller Löcher, das Unkraut sprießt, und überall merkt man den Mangel an Unterhaltsarbeiten. Im Hintergrund sind die Geräusche der großen Bühne zu hören, die für den Abend direkt am Kai aufgebaut wird. Ole zeigt es uns: »Dort lag das Boot, ich habe Kim noch ein Stück hierher begleitet.«
Wir wandern eine Weile ziellos durch die Hafenanlage und verfolgen über unsere Handys die Nachrichten. Ole tätigt einen Anruf nach dem anderen – vergeblich versuchen wir, uns Gewissheit und Wissen zu verschaffen. Die Fragen werden immer mehr, doch die Antworten bleiben aus. Die wichtigste Frage für uns ist, wie lange der Sauerstoff an Bord wohl reicht. Die Angaben schwanken, zwölf Stunden, vierundzwanzig Stunden. Wenn man zu zweit an Bord ist, halbiert sich dann die Zeit? Niemand weiß es. Und wie tief unten im Öresund sind sie? Sind dort nicht enorm tiefe Löcher gegraben worden, als man Sand für den Bau der Brücke brauchte? Kann man aus einem U-Boot heraus, wenn es am Grund liegt? Tausende Gedanken jagen durch unsere Köpfe. Wo ist das Boot? Wo ist Kim? Die Helikopter, die das Wasser im Hafen aufpeitschen, sind real, aber die Situation ist es nicht.
Die SMS an Freunde und Verwandte zu Hause drücken aus, was wir fühlen – Kim ist verschwunden, sie ist es, von der überall in den Nachrichten die Rede ist. Inzwischen sind auch die schwedischen Medien aufgewacht. Der Name ist noch nicht bekanntgegeben worden, aber das Interesse an der Story an sich wächst stetig. In der Presse herrscht noch immer Sommerloch, und die Kombination eines verschwundenen U-Boots und einer Journalistin genügt, um die Nachrichtenredaktionen anzufixen.
Wir beschließen, das kurze Stück bis zu dem Hangar des U-Boot-Mannes im östlichen Teil der Halbinsel zu fahren. An der rostigen Tür hängt ein Schild mit den Buchstaben RML.
Ole ist in der Nacht und den frühen Morgenstunden bereits mehrfach hier gewesen. Einige der engsten Mitarbeiter des Erfinders haben sich draußen versammelt. Einer gibt sich als Manager des Unternehmens aus und behauptet, sich ebensolche Sorgen zu machen wie wir. Das U-Boot ist verschwunden, und der Manager macht sich Gedanken, was das für das Image der Firma bedeuten könnte.
In der alten Industriehalle werden vor allem Raketen für den Weltraum gebaut. Der Mann, den Kim interviewen wollte, ist fest davon überzeugt, sich als erster Privatmann in den Weltraum schießen lassen zu können. Das U-Boot sollte als Abschussrampe dienen. Ein erster Versuch, in den Weltraum zu gelangen, war für irgendwann in den nächsten Tagen geplant. Peter Madsen hat bei den Behörden angefragt und die Genehmigung für den Raketenabschuss vom Meer vor Bornholm aus bekommen. Doch am Mittwochabend, den 9. August, hat Madsen aus unbekannten Gründen beschlossen, das Ganze abzusagen.
Nur wenige Meter von uns entfernt liegt eine alte Rakete. Sie wirkt wie eine Requisite aus einem Science-Fiction-Film, zeugt aber davon, dass hier ein Raumfahrt-Wettlauf der eher ungewöhnlichen Art abläuft. Das Team des U-Boot-Mannes konkurriert mit einem ähnlichen Unternehmen darum, wer es als Erstes schaffen wird.
Plötzlich kommt der Anruf. Das U-Boot wurde gesichtet, und alle an Bord sind wohlauf! Freudentränen fließen, ich bin wahnsinnig erleichtert. Wir umarmen uns, auch von offizieller Seite wird die Nachricht bestätigt. Ein paar dramatische Stunden sind vorüber, und ich schaue auf die Uhr. Wir können es immer noch zu einer anständigen Zeit nach Berlin schaffen, doch erst müssen wir Kim sehen und sie fest drücken.
Jemand schreit auf: »Wir haben Kontakt zum U-Boot.« Ole und Jocke folgen den Mitarbeitern zu einem Gebäude etwas weiter weg. Ich schreibe unterdessen beruhigende Nachrichten an alle, die auf der anderen Seite des Öresunds besorgt die Entwicklungen verfolgt haben. Unser Sohn Tom arbeitet als Fotograf beim Helsingborgs Dagblad, wo die Nachricht von dem U-Boot-Zwischenfall seit Beginn seiner Schicht ganz oben stand. Sein nächster Vorgesetzter weiß, dass es sich bei der Journalistin um Kim handelt, nicht aber die anderen in der Redaktion.
Wir telefonieren kurz und sind uns einig, dass er ruhig auf der Arbeit bleiben kann und nicht nach Kopenhagen kommen muss. Jetzt ist ja alles gut. Kim ist gerettet, sie ist in Sicherheit, das ist das Ende der Geschichte. Oder vielleicht auch nicht, Kim wird sicher noch auf vielen Familien- und Freundestreffen von diesem Abenteuer berichten müssen.
Doch dann stellt sich heraus, dass es nicht das Ende der Geschichte ist. Es ist nicht einmal der Anfang.
Ole und Jocke kehren zurück, und sie sehen besorgt aus. Das U-Boot ist gesunken, und es heißt, dass nur eine Person gerettet wurde. Das kann nicht wahr sein, wir haben doch eben erst erfahren, dass man das U-Boot gesichtet hat und dass alle an Bord unversehrt sind. Wo ist Kim, ist sie es, die gerettet wurde? Die Angst schlägt wieder mit aller Macht zu.
Kurz darauf kommt die Nachricht, dass es nicht Kim ist, sondern der U-Boot-Mann. Er ist von einem Sportboot aus dem Wasser gezogen worden und soll im Hafen bei Kastrup an Land gebracht werden, oder im Hafen von Dragör. Wir werfen uns ins Auto und fahren, wahrscheinlich viel zu schnell, Richtung Kastrup. Der Hafen liegt verlassen da, und wir fahren weiter nach Dragör. Während der Fahrt verfolgen wir die Nachrichten im Autoradio, an diesem Vormittag gibt es nichts anderes als die neuesten Entwicklungen in der U-Boot-Geschichte. Ole führt endlose Telefonate, um Klarheit darüber zu gewinnen, was eigentlich passiert ist. Die Ungewissheit ist enorm, Aussage steht gegen Aussage.
In Dragör angekommen, dem idyllischen kleinen Hafen am Öresund, den wir bisher mit Fährüberfahrten und gutem Essen in den Restaurants am Kai verbunden haben, empfängt uns ein riesiges Medienaufgebot. Reporterteams filmen, machen Aufsager vor der Kamera und verfolgen alles, was im Hafengebiet passiert. Wir gehen zu den großen graugrünen Helikoptern hinüber, die sich startklar machen. Jocke versucht vergeblich einen Polizisten zu überreden, sie aufzuhalten: »Kim ist immer noch da draußen, sie müssen weitersuchen!«
In einem der Polizeiwagen sitzt der U-Boot-Mann. Wir erkennen seinen Umriss durch die Scheibe. Ein paar Minuten zuvor ist er an Land gegangen, hob lächelnd den Daumen in Richtung der wartenden Presse und teilte mit, alles sei in Ordnung. Er sei ein bisschen traurig, weil das U-Boot gesunken sei, aber, fügte er hinzu – »sie ist ja versichert«.
Wir glauben und hoffen noch immer, dass er Kim irgendwo entlang der Küste abgesetzt hat. Wenn er technische Probleme hatte, wie er der versammelten Presse mitgeteilt hat – wäre es dann nicht logisch, dass er Kim an Land gebracht hat, um ihr Leben nicht zu gefährden?
Der Hafen in Køge wäre eine geeignete Stelle. Denn dort in der Nähe ist, nach unseren ersten Informationen, das U-Boot gesunken. Wenn das aber der Fall ist – warum hat Kim uns dann noch nicht angerufen? Selbst wenn sie ihr Handy verloren hätte oder der Akku leer gewesen wäre, hätte sie sich gemeldet. Telefone gibt es schließlich überall, und sie hätte Ole und uns niemals unnötig im Ungewissen gelassen.
Wir bitten, mit dem U-Boot-Mann reden zu dürfen, der auf der Rückbank des Polizeiwagens sitzt. Er ist schließlich der Einzige, der weiß, wo Kim ist. Ist sie noch an Bord? Die Beamten verweigern uns dieses Anliegen, freundlich aber bestimmt, und bitten uns, lieber zur Polizeidienststelle am Halmtorvet mitten in Kopenhagen zu fahren. Was tun? Nach...