Unter diesem ersten großen Kapitel werden Kinder[61] als Zielgruppe der Werbewirtschaft vorgestellt. Generell gesprochen konstituieren sie "three different markets: the primary, the influencer, and the future market”[62] und werden somit auch zielgruppenspezifisch von der Werbewirtschaft erfasst und mittels Kinderwerbung[63] adressiert. Die größte Herausforderung bei der Analyse und Ansprache dieser Zielgruppe ist ihre Komplexität, Heterogenität und die stetige Veränderung durch entwicklungsbedingte Entwicklungen.[64] Der erste Abschnitt dieses Kapitels bespricht zunächst die altersgruppenspezifischen Unterschiede von Kindern und geht dann auf ihre Mediennutzung unter bestimmten Gesichtspunkten ein.
Obwohl es zahlreiche Weiterentwicklungen gab, blieb das durch Kinderwerbung angepriesene Produktsortiment vergleichsweise stabil[65] und den Kindern bekannt. Sie „wachsen heute in einer Medien- und Konsumwelt auf. Sie kennen – meist aus der Werbung – Produkte und Marken, und auch jüngere Kinder wissen genau, welches Produkt welcher Marke sie wollen“[66] und auch, wie sie es bekommen können. Den beiden Möglichkeiten widmet sich ein Unterpunkt dieses Kapitels, der die Macht der Kinder vorstellt. Trotz – oder gerade wegen – ihres Alters werden Kinder von der Werbewirtschaft als Konsumenten sehr ernst genommen und in Marketingstrategien bedacht und eingebunden.[67] Die kindlichen Eigenschaften bieten Werbemachern zahlreiche Ansatzpunkte, welche in einem weiteren Teil dieses Kapitels besprochen werden.
Der abschließende Teil widmet sich den Auswirkungen von Werbung auf Kinder. Diese nehmen Werbung um ein Vielfaches intensiver und genauer wahr, sodass sich ihre Wahrnehmung und auch die daraus resultierenden Folgen unterscheiden.
Kinder sind als Zielgruppe der Werbewirtschaft zwar in einem bestimmten Rahmen schutzbedürftig, allerdings kann man nicht davon ausgehen, dass sie hilflose und rein passive Empfänger sind.[68] Sie benötigen zweifelsohne Anleitung und Unterstützung bei ihrer Entwicklung und den damit einhergehenden Lernprozessen um zu vollauf mündigen Erwachsenen heranwachsen zu können. In diesem Zusammenhang sollten Kinder Erfahrungen machen und Veränderungen durchlaufen dürfen.[69] Jean Piaget geht davon aus, dass die Entwicklungsstufen bei Kindern immer in derselben Reihenfolge auftreten und aufeinander aufbauen, und unterscheidet hierbei drei spezifische Entwicklungsstufen des Kindes.[70] Daher ist es auch wichtig, Kinder nicht als eine homogene Zielgruppe der Werbung zu begreifen, sondern auf die verschiedenen Stadien der Persönlichkeits- und Reifeentwicklung Rücksicht zu nehmen. Bieber-Delfosse formuliert den großen Einfluss von Medien und Werbung auf Kinder folgendermaßen:
„Die Weltanschauung der Kinder, ihr Bild vom Menschen, vom Kindsein, vom Leben ist medial strukturiert, von der sich gegenseitig befruchtenden Werbewelt und Medienwelt geprägt. Diese beiden virtuellen Welten – sofern man nicht nur von einer einzigen sprechen will – steigern ihre reziproke Wirkung beim Adressaten.“[71]
Des besseren Überblicks halber und unter Berücksichtigung (1) wichtiger sozial-institutioneller Veränderungen im Leben der Kinder, (2) Erfahrungen der Kinder und (3) sozial geteiltem und erworbenem Wissen werden hier drei Gruppe eingeteilt: Die erste Gruppe beschreibt Kinder vom Kleinkind- bis ins Vorschulalter, die zweite bezeichnet Kinder ab dem Eintritt in die Grundschule und die dritte Gruppe Kinder nach dem Übertritt in die fünfte Jahrgangsstufe. Diese Gruppen basieren nicht auf spezifischen Altersangaben, sondern berücksichtigen die jeweiligen Veränderungen im Leben der Kinder wie Erziehungsebene, zugesprochene Reife, Veränderung des Freundeskreises und der Betreuungspersonen oder die Entwicklung neuer Interessen.
Kinder, die der ersten Gruppe angehören, sind bereits von Fernsehen oder vergleichbaren bewegten Darstellungen fasziniert und „nehmen die Werbe- und Medienbotschaften sehr aktiv auf, ohne den Unterschied zwischen Werbung und Programm zu kennen.“[72] Schon sehr früh entwickeln sie Präferenzen und lernen, diese kundzutun.[73] Da sie noch nicht lesen können, nehmen sie Werbebotschaften über Bilder, Stimmen, Melodien und Logos wahr, die sie bewusst aufnehmen und behalten.[74] Bis zum Vorschulalter entwickeln sich die geistigen und kognitiven Fähigkeiten von Kindern rapide,[75] aber es gelingt ihnen noch nicht vollständig, sich auf mehrere Dinge gleichzeitig zu konzentrieren[76] oder abstrakte Denkmuster nachzuvollziehen. Die Forderung nach einer Umsetzung durch Werbung hervorgerufener Wünsche zeugt jedoch von der kognitiven Fähigkeit, über Fernsehwerbung wahrgenommene Informationen zu verarbeiten.
Sobald sie in die Grundschule eintreten, „sind Kinder in feste Zeitstrukturen eingebettet. Ihr Alltag ist geprägt durch sogenannte Pflichttätigkeiten und Freizeitaktivitäten“[77] und sie erhalten, auch seitens der Erwachsenen, mehr Fähigkeiten und Kompetenzen zugesprochen. Nicht nur über die Schule, sondern auch durch den verstärkten Kontakt mit Gleichaltrigen und älteren Kindern[78] lernen die Kinder neue Medien kennen und Wege, diese „als Orientierungs-, Wissens- und Kompetenzquelle“[79] zu nutzen. Medien – und damit auch Werbung – werden noch mehr als fester Bestandteil des Alltags etabliert. Durch Erfahrungen und zunehmende Reflexionsfähigkeit erkennen Kinder allmählich die beschönigenden Effekte von Werbung und lernen immer besser, sie vom normalen Fernsehprogramm zu unterscheiden.[80] Als Angehörige dieser zweiten Gruppe sind Kinder zu einem Skippie und mithin von noch größerem Interesse für die Werbemacher geworden.[81] In dieser Phase unternehmen Kinder auch die ersten selbstständigen Schritte als Marktteilnehmer, da sie bereits kleinere Einkäufe tätigen können.
Nach dem Ende der Grundschulzeit steht für Kinder die Entscheidung über ihren künftigen Schulweg an. Damit einher geht eine alters- und schulformspezifische Medieneinführung und -weiterbildung, aber auch ein zunehmend selbstbestimmterer Medienkonsum, da Kinder eigene Präferenzen von denen der Eltern abgrenzen und durch eigene Mediengeräte umsetzen können. Innerhalb ihrer peer group wird Kindern Markenbewusstsein vermittelt[82] und durch die weiterhin steigende Unabhängigkeit durch größere Taschengeldbeträge und später auch durch Nebenjobs verdientes Geld werden die Kinder und Jugendlichen nunmehr als Flyers (fun loving youth)[83] erkannt und über die Werbung angesprochen.
Die Einteilung in diese drei Gruppen ist keineswegs als starr zu verstehen, sondern erlaubt auch fließende Übergänge. Zudem können sich Zugehörige anderer Gruppen auch nicht Werbeeinflüssen von Spots entziehen, die an Jüngere oder Ältere gerichtet sind, da Werbung allgegenwärtig ist und sich nicht individuell an den Rezipienten richtet.
Durch den technischen Fortschritt und die gesunkenen Preise für Mediengeräte sehen sich Kinder heute einem unüberblickbaren Angebot von Medien(-inhalten) und gleichzeitig auch Werbung gegenüber.[84] Kinder beteiligen sich aus verschiedenen Gründen[85] sehr aktiv an der Mediennutzung und sind auch Neuem und Innovationen gegenüber aufgeschlossen. Bieber-Delfosse stellt heraus, dass selbst Kleinkinder sich bereits „frei im Medien- und Konsumbereich bewegen“[86], Erfahrungen sammeln und unweigerlich auch in Kontakt mit Fernsehwerbung kommen, denn das Fernsehen stellt auch heute noch das Leitmedium dar.[87]
Die veränderte Familienstruktur, in der Kinder heute aufwachsen, fördert die Rolle von Medien als „Miterzieher“[88], die als eine Sozialisationsinstanz auf den Wissens- und Fähigkeitserwerb von Kindern einen großen Einfluss hat.[89] Etwa ein „Drittel der 6- bis 13jährigen verfügt über ein Fernsehgerät im eigenen Zimmer“[90] und kann in der Freizeit über die Inhalte und oftmals auch den Umfang des Medienkonsums selbst bestimmen. Seit Einführung des dualen Rundfunksystems haben sich spezielle Kinderprogramme etabliert, die die Kinder zu jeder Tageszeit und an jedem Wochentag „mit einem speziell auf ihre Bedürfnisse zugeschnittenen Programm“[91] umwerben und die Medienzeit der Kinder ebenfalls beeinflussen. Hierbei präferieren Kinder eindeutig private Sender.[92]
Unter diesem Punkt wird die Mediennutzung von Kindern vorgestellt. Zunächst wird kurz auf die zeitliche Nutzung von Medien...