THEODOR HELLBRÜGGE
Vom Deprivationssyndrom zur Entwicklungs-Rehabilitation
Das Deprivationssyndrom – Beispiele
Vor mehr als einem halben Jahrhundert – im Frühjahr 1947 – wurden mir in der Mütterberatung in München-Thalkirchen mehrere Kinder vorgestellt, die schon vom Anblick her auffällig waren. Sie waren ihrem Alter entsprechend groß, hatten blonde Haare, blaue Augen und waren bei der ärztlichen Untersuchung völlig gesund. Sie hatten ein normales Gewicht, einen normalen Kopfumfang, normalen Blutdruck und Puls und keine Anämie. Trotzdem stellten sie sich in einem erbärmlichen Entwicklungszustand dar, wie ich ihn bis dahin noch nicht erlebt hatte. Sie konnten mit zwei Jahren noch nicht sprechen, hatten keinen Blickkontakt und schrien vor Angst, wenn man sich ihnen näherte. Vor allem fiel ihr leerer Gesichtsausdruck auf, der einen eher traurigen, völlig teilnahmslosen Eindruck machte. Sie nahmen untereinander keinen Kontakt auf, so daß jedes Kind isoliert war. Wenn sie dennoch Kontakt aufnahmen, geschah dies in Form von Aggressionen.
Diese Kinder waren, wie man damals glaubte, optimal »erbbiologisch gezüchtet« und in der SS-Organisation ›Lebensborn‹ in staatlich besonders geförderten Heimen großgezogen worden. Sie sollten später einmal, frei von familiärer Bindung, die NS-Führerelite für Europa darstellen.
Dieses Krankheitsbild wurde mir erneut vor Augen geführt, als René Spitz nach dem Kriege nach München kam und am Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München seine Filme über Kinder aus südamerikanischen Waisenhäusern vorführte. Das Krankheitsbild des Deprivationssyndroms wurde weiterhin in Bowlbys Publikation über Verlust, Trauer und Depression (Bowlby, 1983) beschrieben, ebenso in den Untersuchungen von Dorothee Burlingham und Anna Freud (1949) bei Kriegskindern, die sich gegen die Evakuierung aufgebäumt hatten und lieber bei ihren Müttern bleiben wollten, obwohl sie während der Bombardierungen etwa von London unter äußerst ungünstigen Bedingungen in Luftschutzbunkern leben mußten.
Die schwere Pathologie des Deprivationssyndroms (Hellbrügge, 1966b) läßt sich besonders an Beispielen erklären, die auch mit Hilfe von Filmen dokumentiert worden waren. Hier sei der Film Monique von Jeannette Aubry vom Centre International de l’Enfance in Paris erwähnt, aber auch Marie Meierhofers Film Frustration im frühen Kindesalter (Meierhofer-Insitut Zürich, 1974). Letzterer Film zeigt die sehr guten Lebensbedingungen des gehobenen Schweizer Milieus, während der Film aus dem Centre International de l’Enfance mehr ärmlichere Lebensverhältnisse dokumentiert. Trotz der unterschiedlichen sozialen Bedingungen sind die Deprivationssymptome und die Entwicklungsfolgen für die Kinder vergleichbar schwerwiegend.
Literatur zu diesem Krankheitsbild gab es eigentlich wenig. Lediglich Meinhard von Pfaundler (1915), der Begründer der Münchener Pädiatrischen Schule, hat in seinem Kapitel über »Die Physiologie des Neugeborenen« in Döderleins Handbuch der Geburtshilfe aus dem Jahre 1915 (Bd.1) das Krankheitsbild des Hospitalismus in seinem Verlauf beschrieben:
»1. Phase: Unruhe. Säuglinge, die in das Spital eingeliefert werden, verhalten sich hier am Anfang so, wie es die Physiologie ihrer Entwicklungsperiode oder die Pathologie des betreffenden Leidens annehmen läßt. Geht dieses mit Beschwerden einher, so sind die Kinder unruhig, erfordert es Karenz oder Einschränkung der Nahrung, so sieht man sie gleich Hungernden sich benehmen.
Treten fremde Menschen an ihr Lager und manipulieren sie an ihnen, wie es die ärztlichen Untersuchungen erfordern, so werden sie ängstlich oder unwillig etc. In einer großen Zahl von Fällen gelingt es, der Störung Herr zu werden, und man erwartet nun, daß eine Rekonvaleszenz eintrete und die Kinder nach überstandener Krankheit wieder aufblühen.«
»2. Phase: Resignation. Doch darauf wartet man oft vergebens. Die Säuglinge werden zwar ruhiger, doch nicht aus besserem Behagen, sondern weil sie die Fruchtlosigkeit ihrer Äußerungen erkannt und angefangen haben, auf äußere Einflüsse aller Art weniger zu reagieren. Man findet diese Kinder öfters wach als schlafend.
Tritt man an das Bett heran, so wenden sich die Augen wohl noch dem Beschauer zu, doch weder mit dem latenten Lächeln des gesunden noch mit der ängstlichen oder schmerzhaft gespannten Miene des kranken Kindes, sondern mit einem indifferenten, resignierten, wie in Ernst und Trauer erstarrten Blick. Rumpf und Glieder liegen ziemlich regungslos auf der Unterlage. Auch wenn man das Kind aufdeckt oder entkleidet, gewahrt man keine lebhaften und kraftvollen Bewegungen der Glieder, sondern träge und unsichere.«
»3. Phase: Verfall. Man steht einem körperlichen Verfall gegenüber, der sich in außergewöhnlicher und stabiler Blässe, Schlaffheit und Welkheit der Haut und des Unterhautfettes, in Elastizitätsverlust bei scheinbar oft vermehrtem Muskeltonus ausdrückt. Dieser Verfall ist nicht etwa als Zeichen eines chronischen dyspeptischen Zustandes, eines Milch- oder Mehlnährschadens oder einer Organaffektion bestimmter Art anzusehen. Man erkennt ihn oft, bevor die Gewichtskurve ihn anzeigt.
Von diesem Stadium an macht sich die schwerste Form des Hospitalismus bemerkbar, nämlich die völlige Widerstandslosigkeit gegen infektiöse Schäden. Das Kind erkrankt dann an irgendwelchen enteralen oder parenteralen Infekten und deren Mischformen wie Enteritiden, Kolitiden, Cystopyelitiden, grippösen Bronchopneumonien, Pyodermien. Unter solchen Diagnosen verbirgt sich der wahre Hergang der Sache in Publikationen, statistischen Jahresberichten und dergleichen.
In dem Zustand des Hospitalismus steht der Körper außerhalb aller in alter und neuer Zeit aufgestellten Gesetze für das Verhalten seiner Funktionen; ein Gesetz allein behält seine Gültigkeit in der tiefgreifenden Deroute, das Gesetz des unaufhaltsamen Verfalls.«
Diagnose des Deprivationssyndroms – Sozialentwicklung, Entwicklung zur Selbständigkeit, Kontaktfähigkeit und Sprache
Um dieses Krankheitsbild zu diagnostizieren, war es notwendig, neben den klassischen Bereichen der Medizin, nämlich Anatomie und Physiologie, eine neue Diagnostik einzuführen, welche das Verhalten des Säuglings analysiert. Dabei war es mir wichtig, die klassischen Bereiche der Entwicklungspsychologie zu verlassen, weil deren Ergebnisse letztlich auf Mittelwerte und Streubereiche hinausgingen, d.h. ein Kind eher schlechter oder besser einstuften. Mir kam es darauf an, das Verhalten im Säuglingsalter so festzuhalten, daß möglichst viele Kinder rechtzeitig einer spezifischen Therapie oder einer weiteren notwendigen Diagnostik zugeführt wurden.
In der Münchener Pädiatrischen Längsschnittstudie, die vor allem von meinen Mitarbeitern H.Schirm, K.Sadowsky und T.Faus-Keßler (1986) unter Mitarbeit von W.Hawel, M.Zörner, H.-J.Lange und K.Ulm durchgeführt wurde, haben wir über 1600 Neugeborene aus zwei Münchener Frauenkliniken mehrere Jahre lang immer wieder in Abständen untersucht und insgesamt 400 bis 800 Beobachtungen durchgeführt bzw. Meßwerte pro Untersuchung und Kind erhoben. Daraus entstand ein System der Früherkennung von Verhaltensweisen als Basis für die Entwicklungs-Rehabilitation.
Entwicklungs-Rehabilitation ist – das sei hier ausdrücklich vermerkt – ein Kunstbegriff, mit dem ich versuchte, die eigentliche Besonderheit des Kindesalters, nämlich seine Entwicklung – also Wachstum und Differenzierung –, mit den 100 Jahre alten Prinzipien der Rehabilitation in Verbindung zu bringen. Aus dieser Studie entstand die Münchener Funktionelle Entwicklungsdiagnostik (Hellbrügge et al., 1978) als Basisdiagnostik, zunächst nur für das 1. Lebensjahr und etwas später auch für das 2. und 3. Lebensjahr. Mit Hilfe des Bayerischen Fernsehens entstanden 17 Längsschnittfilme, bei denen fünf Kinder über zwei Jahre lang in ihren wichtigen Verhaltensweisen, nämlich Krabbeln, Sitzen, Laufen, Greifen, Perzeption, Sprechen, Sprachverständnis und Sozialentwicklung sowie Selbständigkeitsentwicklung, beobachtet wurden.
Systematische Untersuchungen mit Hilfe dieser Diagnostik, wie sie gemeinsam mit Pechstein und einer Reihe von Doktoranden in Säuglingsheimen in und um München durchgeführt wurden, zeigten schließlich, daß vor allem die Sprach- und Sozialentwicklung durch den Mangel an einer konstanten Hauptbezugsperson zurückblieb. Pechstein hat dies in seiner Publikation Umweltabhängigkeit der frühkindlichen zentralnervösen Entwicklung 1974 näher beschrieben.
Das wesentliche Ergebnis dieser und weiterer Untersuchungen zeigt sich am Beispiel der Diagramme in der Münchener Funktionellen Entwicklungsdiagnostik (Hellbrügge et al., 1999). Am meisten waren die Sozialentwicklung und die Entwicklung zur Selbständigkeit und Kontaktfähigkeit betroffen. Daneben blieb die Sprache deutlich zurück. Dies veranlaßte uns, als neue Basis der Therapie die Eltern zur Früherkennung von Entwicklungsrückständen systematisch einzusetzen. Parallel zur Sendereihe Die ersten 365 Tage im Leben eines Kindes – Die Entwicklung des Säuglings wurde unter dem gleichen Titel ein Buch für Eltern herausgegeben (Hellbrügge et al., 1973), das international eine Anerkennung erfuhr, wie wir uns das kaum vorstellen konnten. Bis heute sind über 30 fremdsprachige Ausgaben erschienen, z.B. in Sprachen wie Assamese, Tamil oder Malaialam, von denen ich vorher nie etwas gehört hatte.
Die verschiedensprachigen Ausgaben dieses Elternhandbuchs führten dazu, daß auf der ganzen Welt nach dem von mir in München begründeten Vorbild Kinderzentren eingerichtet und die...