2 Schulische Lernprozesse im Kontext sprachlich-kultureller Vielfalt
Sprachliche Vielfalt findet nicht nur im Zusammenhang mit dem Erwerb und dem Gebrauch einer Sprache statt (Kap. 1). Deshalb wird im zweiten Kapitel der Fragestellung nachgegangen, was es bedeutet, wenn Schulkinder mit zwei oder mehreren Sprachen aufwachsen. Hierzu stellen Sie sich als Lehrkraft vielleicht die Frage, ob Mehrsprachigkeit eher förderlich oder eher hinderlich sei. Deshalb möchten wir folgende Aspekte klären:
■ Was bedeutet es, wenn ein Kind mehrsprachig aufwächst? Welchen Stellenwert nehmen dabei die verschiedenen Sprachen ein? (Kap. 2.1)
■ Ist es problematisch, wenn Kinder zwischen Erst- und Zweitsprache wechseln und die Sprachen mischen? Wie sind Spracherwerbsschwierigkeiten bei mehrsprachigen Kindern einzuschätzen? (Kap. 2.2)
2.1 Sprachlich-kulturelle Vielfalt
Grundsätzlich kann davon ausgegangen werden, dass mehrsprachige und interkulturelle Erfahrungen für Kinder vorteilhaft und gewinnbringend sein können (Chilla / Niebuhr-Siebert 2016). Allerdings können Erschwernisse entstehen, wenn beispielsweise mehrsprachige Kinder im Unterricht keine Möglichkeit haben, ihre Erstsprache zu benutzen oder wenn die Schule keine Anknüpfungspunkte zu wichtigen individuellen Erfahrungen der Kinder schaffen kann.
Spannungsfeld Migration und Fluchterfahrung
Das Spannungsfeld zwischen Vorteil und Erschwernis soll zunächst exem plarisch am Fallbeispiel eines 8 Jahre alten russisch-deutschsprachigen Jungen mit Migrationshintergrund aus Kasachstan veranschaulicht werden.
Nikita freut sich immer auf den Sachunterricht in seiner 3. Klasse. Laut Aussage der Eltern erzählt er zu Hause auf Russisch begeistert von diversen Inhalten. In dieser Unterrichtsstunde arbeitet er mit seinen Mitschülern in einer Tischgruppe zum Thema „Tiere des Waldes“. Die Kinder haben die Aufgabe, Tierbilder Wortkarten zuzuordnen, z. B. „Waschbär“, „Rotkehlchen“, „Siebenschläfer“. Sehr langsam erliest er einzelne Wortteile und meint: „Häh? Bär hier nicht dibt’s!“ „Das ist doch kein Bär!“, erwidert ein Kind aus der Vierer-Gruppe. Nikita ist irritiert. Zusammengesetzte Nomen kommen nämlich im Russischen eher selten vor. Bei dem Begriff „Waschbär“ haben sich zudem die Bedeutungen der beiden Wortteile in der Wortverknüpfung verändert. Er macht sich Gedanken und fragt sich: „Die anderen Kinder sind wohl schlauer als ich. Hoffentlich bemerkt das niemand!“
Ein anderes Fallbeispiel offenbart Schwierigkeiten in der Kommunikation und Kontaktaufnahme eines 8-jährigen Mädchens mit Fluchthintergrund. Das Mädchen ist mit seinem Vater aus Syrien geflohen und lebt nun seit einem Jahr in Deutschland.
Basima steht während der Pause in der Nähe einer Gruppe von vier anderen Mädchen im Innenhof der Schule. Die Schülerinnen erzählen sich Neuigkeiten aus dem aktuellen Kinofilm. Basima beobachtet interessiert ihre Mitschülerinnen und verfolgt in Ansätzen das Gespräch. Auch nachdem sie von zwei der Mädchen angesprochen wurde, kommt sie der Gruppe nicht näher. Basima glaubt, dass sie zu den Schilderungen der Mädchen nichts beitragen kann, da sie den Film nicht kennt und in Deutschland noch nie im Kino war. In großen Menschenansammlungen wie im Kino fühlt sie sich auch unwohl. Sie versteht die Erzählungen der Mädchen schon erstaunlich gut, kann sich aber im Deutschen noch nicht ausreichend ausdrücken. Deshalb denkt sie: „Warum spricht niemand Arabisch in der Schule? Dann könnte ich mehr sagen.“
Für die pädagogische Arbeit an inklusiven Schulen sind in Bezug auf Migrations- und Fluchterfahrungen von Kindern folgende erste Orientierungen hilfreich.
Leitgedanken für eine sprachlich-kulturelle Vielfalt in der inklusiven Schule (Lüdtke / Stitzinger 2017; Stitzinger 2009):
■ Anerkennung interkultureller und interlingualer Aspekte im Unterricht, z. B. morgendliche Begrüßungen in verschiedenen Sprachen und Ritualen
■ Einblicke in die Verschiedenartigkeit familiärer Kontexte, z. B. durch Elterngespräche, vertraute Personen vermitteln in der Herkunftssprache
■ Kenntnisse über Identitätskonflikte hinsichtlich wirtschaftlicher, kultureller, sozialer und sprachlicher Gegebenheiten, z. B. durch Informationen mittels Fachliteratur, interkulturelle Fortbildungen
■ Unterstützung im Erwerb und Gebrauch von Herkunftssprache und Zweitsprache in Familie, Wohnumfeld, und Bildungsbezug, z. B. Empfehlung an die Eltern in der Familiensprache zu sprechen und gleichzeitig auch einen Deutschkurs zu belegen
Jabornegg-Altenfels, M., Böhm, H. J., Basol, B. (2012): Neue Nachbarn, neue Freunde. Yeni komsular, yeni arkadaslar. Langenhagen, Talisa
Weschke-Scheer, B. (2013): Interkulturelles Arbeiten mit Kindern und Eltern. Cornelsen Scriptor, Berlin
Stellenwert von Erst- und Zweitsprache
Im schulisch-unterrichtlichen Zusammenhang tauchen möglicherweise für LehrerInnen grundsätzliche Fragen auf, inwieweit alle Sprachen eines mehrsprachigen Kindes gefördert werden sollen oder nur eine? Wie stehen die Sprachen eines Kindes eigentlich zueinander? Ist vielleicht die Ziel- bzw. Bildungssprache Deutsch wichtiger?
Die Metapher zweier Bäume (Abb. 10) soll zunächst die Gelegenheit bieten, sich zu diesem Themenkomplex eigene Gedanken zu machen. Betrachten Sie bitte die Zeichnung und überlegen Sie, welche Assoziationen Sie damit zum Erst- und Zweitspracherwerb bzw. -gebrauch verknüpfen.
Abb. 10: Baum-Metapher für Erst- und Zweitspracherwerb bzw. -gebrauch
Assoziationen zu Erst- und Zweitsprache
Mögliche Assoziationen zum Bild der Bäume als Metapher für den Erst- und Zweitspracherwerb bzw. -gebrauch sind:
− Wurzeln als kulturelle, gesellschaftliche oder familiäre Basis für mehrsprachige Kinder; Wurzeln greifen ineinander über; teilweise nicht (mehr) äußerlich sichtbar; …
− Boden als Umfeld; hier erwerben und gebrauchen mehrsprachige Kinder ihre Sprachen; …
− Stämme als eigenständige Sprachsysteme; mehrsprachige Kinder entwickeln diese im Gehirn und wenden sie in unterschiedlichen Umgebungen und Situationen mit anderen Kindern und Erwachsenen an; …
− Äste als verschiedene sprachliche (linguistische) Kompetenzen eines mehrsprachigen Kindes, wie Wortschatz und Wortbedeutungszuordnung, Satzbau und Formenbildung, Lautbildung und Lautdifferenzierung (Kap. 1.3); diese unterscheiden sich von Sprache zu Sprache, können sich aber auch ähneln und überschneiden; …
− Blätter als Laute, Wörter, Sätze und Texte; mehrsprachige Kinder verstehen und sprechen diese in den verschiedenen Sprachen und lesen und schreiben diese (meist nur in der Sprache Deutsch) in der Schule; …
− Früchte als Erfolge eines mehrsprachigen Kindes, sich in vielen verschiedenen Situationen mit mehr als einer Sprache mit unterschiedlich sprechenden Kindern und Erwachsenen ausdrücken und unterhalten zu können; …
Mehrsprachigkeit bedeutet die Fähigkeit von Menschen, zwei oder mehr Sprachen zu verstehen und zu sprechen. Mehrsprachige Kinder können von der einen Sprache in die andere wechseln, wenn es die Situation erfordert.
Funktionen von Erst- und Zweitsprache bei Kindern
■ Die Erstsprache ist ein wichtiger Bestandteil der Emotionalität, Identität und Herkunft eines Kindes, z. B. innige Eltern-Kind-Dialoge, vertraute familiäre Besonderheiten, stützende Peergroup, Zugehörigkeitsgefühl zur engeren Umgebung.
■ Die Zweitsprache ist notwendig für die Handlungsfähigkeit, Alltagsbewältigung sowie Aneignung von Kulturtechniken und Wissen (Meyer 2002), z. B. Einkaufen, Sportvereine, Schulerfolg, Basis für hochwertige Berufsauswahl, Zugehörigkeitsgefühl zur Gesamtgesellschaft.
■ Die Erst- und die Zweitsprache ergänzen sich im Leben eines Kindes und fördern die Persönlichkeitsentwicklung (sprachliche Heterogenität und Individualität) sowie die Teilhabe an Bildung und Gesellschaft (sprachliche Homogenität und Leitkultur) (Kiel 2005).
Balance zwischen der Erst- und Zweitsprache in der Schule!
– Wenn die Fähigkeiten der Erstsprache eines Kindes in der Schule nicht gewürdigt werden, kann sich dies negativ auf das sprachliche Selbstbewusstsein auswirken, z. B. „Das, was ich kann, möchten die in der Schule gar nicht hören, dafür immer das, was ich nicht kann. – Ich bin ein sprachlicher Versager.“
– Wenn Kinder in der schulischen Umgebung untereinander nicht ihre Erstsprache sprechen dürfen, wird ein Teil ihrer Persönlichkeit abgeschnitten, z. B. „Meine Sprache ist verboten, die Sprache ist schlecht. – Ich bin nichts wert.“
– Wenn Kinder im Zweitspracherwerb nicht schulisch unterstützt werden, können sie Unterrichtsinhalte nicht adäquat bearbeiten, z. B....