3 Grundlegender Aufbau klettertherapeutischer Behandlungseinheiten
Klettern wirkt bereits durch den hohen Aufforderungscharakter der architektonisch inzwischen sehr ansprechend gestalteten, modernen Kletterhallen. Es handelt sich meist um hohe, lichtdurchflutete Räume, die Wände sind mit bunten und auffälligen Klettergriffen und -tritten farblich interessant gestaltet (Abb. 2).
Abb. 2: Kletterwand von unten
Auf Menschen mit einer psychischen Störung, egal ob es sich um eine Depression, Angst- oder gar psychotische Störung handelt, wirkt die Gestaltung der Kletterhalle ansprechend und Neugier erweckend. Das ist der erste Schritt, das Schneckenhaus zu verlassen, in das sich der Mensch auf Grund seiner Erkrankung zurückgezogen hat. Diesen Umstand können sich Therapeuten zu Nutze machen, um ihre Klienten mit der neuen Situation vertraut zu machen (Abb. 3).
Abb. 3: Trainerin erklärt an der Kletterwand
TIPP
Weniger ist mehr: Der Therapeut kann dem Patienten in Ruhe die Halle zeigen und die anregende Umgebung in Kletterpausen einfach wirken lassen. Er kann diesen sehr besonderen Raum für eine Verbesserung der Kommunikation und zum Herstellen eines guten Kontaktes zum erkrankten Menschen nutzen, ohne etwas Besonderes tun oder sagen zu müssen.
3.1 Aufwärmspiele
Bevor direkt an die Boulderwand gegangen wird, sollten die Boulderräume für Aufwärmspiele genutzt werden. Bei allen Spielen im Boulderraum ist die Spielfeldgröße adäquat nach Anzahl der Spieler zu wählen Es sind grundlegende Sicherheitsaspekte zu beachten:
■ Überhänge,
■ vorstehende Griffe und
■ ausreichender Wandabstand.
Bereits bei den Aufwärmspielen und den Boulderübungen kann der Gruppenleiter wichtige Informationen über die emotionale Gestimmtheit der einzelnen Teilnehmer, soziales Interagieren untereinander und die Gruppenatmosphäre erhalten. Diese Eindrücke sind in der Spieleauswahl für die nächste Übungseinheit zu berücksichtigen. Die Aufwärmspiele dienen außerdem der Aktivierung des Herz-Kreislaufsystems und dem Aufwärmen der Muskulatur, um Überlastungsschäden vorzubeugen.
Spielerisch, das ist im psychotherapeutischen Kontext sehr wichtig, da man sich hier meist nur auf die Krankheit fokussiert, können sich die Gruppenmitglieder kennenlernen und einen achtsamen und humorvollen Umgang mit sich selbst und den anderen einüben. So tragen bereits die Aufwärm- und Boulderspiele wesentlich zu einer positiven Gruppenatmosphäre bei.
| Die Aufwärmspiele sind wenig kompetitiv zu gestalten, d. h. es sollte um „Miteinander“ statt um „Gegeneinander“ gehen. |
TIPP
Gibt es in der Kletteranlage eine vorinstallierte → Slackline, sollte diese vor oder nach einer Wandklettereinheit eingesetzt werden. Die Teilnehmer führen sich z. B. gegenseitig über die Slackline, auch mit geschlossenen Augen – eine hervorragende Übung zur Vertrauensbildung. Für Kinder ist es besonders wichtig, eine ganze Palette von Boulder- und Aufwärmspielen parat zu haben, da der Aufforderungs- und Aktivierungscharakter des Seilkletterns schneller erschöpft ist als bei Erwachsenen.
3.1.1 Spielzeit
Der zeitliche Umfang der Aufwärm- und Boulderspiele hängt von verschiedenen Faktoren ab:
■ Bin ich zum ersten Mal mit einer Gruppe in der Halle, deren Teilnehmer sich nicht kennen?
■ Bin ich mit Kindern, Erwachsenen oder einer Eltern-Kind-Gruppe in der Halle (Merke: Auch Erwachsene spielen für ihr Leben gern!)?
■ Wie groß und wie voll ist der Boulderraum, habe ich den Raum nur für meine Gruppe oder muss ich diesen teilen?
■ Wie voll ist die Halle? Psychisch kranke Menschen leiden schnell an einem → Overflow äußerer Eindrücke, d. h. wenn die Kletterhalle sehr voll ist, sollte ich mehr Zeit im Boulderraum verbringen.
■ Habe ich die Möglichkeit, vor der Klettereinheit einige zusätzliche Griffe und Tritte im Boulderraum anzuschrauben um patientengeeignete Boulderspiele und Bewegungsaufgaben durchführen zu können?
| Als Faustformel kann gelten: 1 / 3 Aufwärm- und Boulderzeit, 2 / 3 Kletterzeit. Dies ist jedoch individuell und flexibel zu handhaben. |
3.1.2 Material
In die Materialkiste oder den Materialsack des Klettertherapeuten gehören z. B.: unterschiedlich lange Bandschlingen und Seilenden, ein Schaumstoffball mit ca. 15 Zentimetern Durchmesser, Wäscheklammern, ein bis drei Dreieckstücher (als Augenbinden verwendbar), ein Puzzle mit zwölf bis zwanzig Teilen, eine gehörige Anzahl Bierdeckel mit verschieden bedruckten Seiten (mindestens zwanzig Stück), kleine „Belohnungen“ für Kinder und Erwachsene (Mini-Gummibärchentüten, Brausebeutelchen, etc.) und viel Fantasie!
3.1.3 Beispiele für Aufwärmspiele am Boden
„Kennenlernen“
Alle Teilnehmer stellen sich im Kreis auf. Jeder nennt seinen Vornamen. Der Kursleiter ruft einen Namen, z. B.: „Michael!“, und wirft ihm den Softball zu. Michael ruft: „Johanna!“, und wirft Johanna den Ball zu, usw.
Nach ein paar Wiederholungen läuft die Gruppe langsam durcheinander. Der Ball wird nun zwischen den Teilnehmern – auch über deren Köpfe hinweg – nach Namensnennung dem entsprechenden Adressaten zugeworfen. Wichtig ist, den Balladressaten anzuschauen (Blickkontakt!), dessen Namen laut zu sagen und ihm dann erst den Ball zuzuwerfen.
Eine Variante ist, den Namen des Balladressaten mit einem freundlichen, positiven Adjektiv oder Attribut mit dem gleichen Anfangsbuchstaben des Namens zu verbinden: Der „freundliche“ Franz, der „großzügige“ Georg etc. Diese Aufgabe benötig etwas mehr Zeit, sorgt aber für viele Lacher in der Gruppe.
„Start in den Tag“
Es wird eine kleine Geschichte erzählt, die auf humorvolle Weise die Teilnehmer in Bewegung bringt und so den Kreislauf aktiviert und verschiedene Muskelgruppen beansprucht:
BEISPIEL
Ich wache Montagmorgen auf, recke und strecke mich genüsslich, gähne kräftig (alle sollten sich recken, strecken und ordentlich gähnen). Was bin ich heute ausgeschlafen.
Mein Blick fällt auf den Wecker.
8.30 Uhr!
Ich habe verschlafen!
Ich springe erschrocken auf (hochspringen) und renne ins Bad (auf der Stelle laufen).
Dabei ziehe ich mir schon mal den Schlafanzug aus (Bewegungen durchführen, als ob man aus einem T-Shirt und einer Hose schlüpft).
Im Bad stelle ich mich schnell unter die Dusche, wasche mir die Haare (Kopf wird wie beim Friseur ausgiebig massiert, der Körper abgerubbelt), trockne mich ab (reibende Bewegungen an Kopf, Oberkörper und Beinen), putze mir die Zähne und massiere mir meine Anti-Aging-Creme ins Gesicht (Gesicht wird ausgiebig massiert und gestreichelt).
Ich laufe zurück ins Schlafzimmer (auf der Stelle rennen) und stürze zum Kleiderschrank
Mist!
Alle wichtigen Sachen sind ganz oben oder ganz unten im Schrank eingeräumt (sich strecken, sich bücken und nach imaginären Sachen greifen).
Dann ziehe ich mich schnell an (imaginäres Anziehen) und laufe in die Küche (auf der Stelle rennen), schalte im Laufen die Kaffeemaschine an, laufe weiter in den Flur und packe meine Aktentasche, laufe wieder in die Küche, schenke mir im Laufen eine Tasse Kaffee ein.
Das Telefon klingelt (Klingelgeräusch machen)!
Wo ist das Mobilteil?
Wahrscheinlich wieder im ersten Stock. Mit Kaffeetasse in der Hand geht’s die Treppen hoch (auf der Stelle laufen, dabei die Oberschenkel ordentlich hochziehen) und ich suche das Telefon.
Bevor ich es finde, verstummt es. Der Anrufer hat aufgelegt – ich war zu langsam.
Ich renne die Treppe wieder runter (auf der Stelle laufen, dabei wieder die Oberschenkel ordentlich hochziehen), durch die Küche. Dort stelle ich schnell die Tasse ab, renne zur Haustür und öffne diese. Da steht meine Tochter, sehr verschlafen, im Gang: „Papa was machst du für einen Lärm? Hast du vergessen, den Wecker auf Winterzeit umzustellen?“
„Balanceübung“
Die Teilnehmer bilden einen Kreis. Die Hände liegen auf den Schultern der jeweiligen Nebenmänner. Die Arme sind dabei locker ausgestreckt. So kann jeder seine individuelle, adäquate Distanz regulieren. Die Teilnehmer werden gebeten, alle Bewegungen des Leiters mitzumachen: Der Kursleiter hebt sein rechtes Bein und streckt es in die Mitte, dann nach hinten – gleicher Ablauf mit dem linken Bein. Dann lehnt er sich, auf einem Bein stehend, etwas nach hinten dann nach vorne. Die Hände von den Schultern der Nebenleute nehmen lassen.
Die Teilnehmer bleiben im Kreis stehen, stellen sich aber so, dass jede rechte Schulter in die Mitte zeigt, d. h. jeder schaut auf den Rücken des Vordermannes. Der obere Rücken des Vordermannes wird nun aktivierend abgeklopft. Dabei sollten die Teilnehmer miteinander kommunizieren, ob das...