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E-Book

Sinnverstehende Psychomotoriktherapie mit Erwachsenen

AutorBenajir Wolf
VerlagERNST REINHARDT VERLAG
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl142 Seiten
ISBN9783497612208
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis28,99 EUR
Menschen mit psychischen Erkrankungen fühlen sich häufig in ihrem Erleben alleine. Eine Psychomotoriktherapeutin, die verstehen will, was in der Welt ihres Klienten passiert und warum, betritt dessen Erlebensraum. Gelingt der gemeinsame Verstehensprozess, kann er als heilender und aufmerksamer innerer Dialog im Klienten weiter wirken. Die sinnverstehende Psychomotoriktherapie ist die erste psychoanalytisch fundierte Therapiemethode für die psychomotorische Arbeit mit Erwachsenen. Sie ist beeinflusst durch den Verstehenden Ansatz wie auch durch psychoanalytische Konzepte der Körperpsychotherapie. Das Buch zeigt, wie die Beziehung zu PatientInnen gestaltet wird, welche Störungsbilder vom frühen bis hohen Erwachsenenalter auftauchen und wie sie therapiert werden können. So erweitern PsychomotorikerInnen ihre professionellen Handlungsspielräume!

Dr. Benajir Wolf, Dipl.-Sportlehrerin, Dipl.-Motologin, Körperpsychotherapeutin (DGK/EABP), Heilpraktikerin für Psychotherapie, ist wiss. Mitarb. Im Studiengang Motologie an der Univ. Marburg und leitet den Studienschwerpunkt Körperpsychotherapie. Sie ist Beirätin der Fachzeitschrift "körper - tanz - bewegung".

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Leseprobe

5   Körperpsychotherapie

Die Körperpsychotherapie (KPT) sieht den Menschen als „ein sich in seinem Körper und über seinen Körper erlebendes Wesen“ (Geuter 2015, 2). Wie auch in der Psychomotorik findet in ihrer Behandlungspraxis das psychische und körperliche Geschehen gleichermaßen Beachtung. Als eine Grundorientierung der Psychotherapie hat sie eine Vielzahl von Verfahren entwickelt. Die Variationen in deren methodischem Vorgehen lassen sich auf drei historische Traditionen zurückführen:

1. Psychoanalyse

2. Reformbewegung in Gymnastik und Tanz

3. Human Potential Movement

Aus der Erweiterung der Psychoanalyse um die Arbeit mit und am Körper entwickelten sich zwei große Verfahrensgruppen:

  Auf Wilhelm Reich gehen die affekt- und energieorientierten Verfahren zurück, in deren Fokus der Körper als Ort der Verdrängung und Affektunterdrückung steht. Über direkte Körperarbeit am sogenannten Charakterpanzer soll der freie Fluss von Affekten und Lebensenergie wiederhergestellt werden. Dadurch bekommt der Körper zwei Bedeutungen für den Therapieprozess: eine funktionale und eine analytisch-dialogische (Kap. 10). Bekanntestes affekt- und energieorientiertes Verfahren ist die Bioenergetische Analyse (Lowen 2002).

  Sandor Ferenczi begründete die analytisch-dialogischen Verfahren. Seine Einbeziehung des Körpers in die verbale Psychoanalyse war anders motiviert. Er sah in Mimik, Gestik, Haltung und Verhalten ein weiteres Ausdrucksmittel des Unbewussten, das genutzt werden konnte. Mit der Berührung seiner Patienten verließ er jedoch den reinen Verstehensprozess und veränderte die therapeutische Beziehung. Die Berührungen zielten darauf, den Patienten korrektive, emotionale Erfahrungen zu ermöglichen. Die entstehenden Übertragungs- und Gegenübertragungsdynamiken und der unklare Umgang mit ihnen wurden zum Hauptkritikpunkt an seiner Arbeitsweise. Diesem Vorwurf müssen sich auch Vertreter der analytischen Körperpsychotherapie (Geißler/Heisterkamp 2013) stellen.

Der zeitgleichen Reformbewegung in Gymnastik und Tanz ging es nicht um Psychotherapie. Ihr Anliegen war eine neue Einstellung zu Körper und Erleben, ermöglicht durch eine Entfunktionalisierung von Tanz und Gymnastik, sowie eine bewusste Arbeit mit dem Atem.

  Eine zentrale Vertreterin der Gymnastiktradition ist Elsa Gindler. Sie ersetzte vorgegebene Übungen zur Körperertüchtigung durch Angebote zum Spüren und Gewahrwerden im Sinne einer körperlichen Selbstreflexivität. Als Psychotherapeuten diese Spürmethode zu Therapiezwecken aufgriffen, entstanden wahrnehmende Verfahren wie die vom Psychoanalytiker Helmuth Stolze begründete Konzentrative Bewegungstherapie (Schmidt 2006).

  Die expressiven Verfahren der Tanztherapie entstanden aus demselben Zeitgeist. Der Ausdruckstanz ersetzte die rigiden Bewegungen des Balletts durch den Ausdruck des inneren Erlebens. Diese veränderte Sicht auf den Körper bildete die Grundlage für die Tanztherapie. Bedeutende Tänzerinnen entwickelten für die Arbeit in psychiatrischen Einrichtungen Methoden, die auch den Ausdruck symptomatischer Verkörperungen ermöglichten und verständlich machten. Im Spektrum der Tanztherapie finden sich neben der von Elaine Siegel begründeten Analytischen Tanztherapie (Siegel et al. 1999) und der später entwickelten Systemischen Tanztherapie (Bender 2014) vorrangig tiefenpsychologisch fundierte Verfahren.

Ab den 1960er-Jahren entstand im Rahmen des Human Potential Movement eine große Vielfalt an (Körper-)Psychotherapieverfahren, welche sich als Alternative zu Psychoanalyse und Verhaltenstherapie sahen. Die menschlichen Leidenschaften sollten nicht länger der Vernunft untergeordnet werden. Der Körper wurde so zu einem wichtigen Therapiemedium. Die intensive Sehnsucht nach Selbstverwirklichung führte dazu, dass die Grenze zwischen Psychotherapie und Selbsterfahrung verschwamm. Wochenendworkshops für „Stadtneurotiker“ lockerten das therapeutische Setting zugunsten von experimenteller Therapie. Diese barg jedoch auch Gefahren. Konfrontative und affektintensivierende Methoden erwiesen sich als kontraindiziert für strukturschwache Teilnehmer und die Abschaffung der therapeutischen Abstinenz ermöglichte ein missbräuchliches Agieren von therapeutischer Seite. Bis auf einzelne systemische Methoden sind die humanistischen Verfahren tiefenpsychologisch ausgerichtet. Das bedeutet, dass sie wahrnehmende, expressive, dialogische und auch konfrontative Methoden kombinieren. Dies setzt sie dem Dilemma von unklarer Wirkweise und Vorgehen aus. Totton formuliert treffend: „Die Theorie und klinische Praxis der Körperpsychotherapie ist undurchdacht, eine Mischung aus ‚Was-Auch-Immer-Wirkt’-Improvisationen, Notfalllösungen, die permanente Lösungen werden, und tief eingebettete Tradition, die sich weit von ihrer ursprünglichen Begründung entfernt hat“ (Totton 2002, 214).

Analytische Verfahren der Körperpsychotherapie

Die drei bekanntesten KPT-Verfahren, welche sich darum bemühen, methodenspezifisch nach psychoanalytischer Haltung und Methode zu arbeiten, sind die Analytische Körperpsychotherapie (Geißler/Heisterkamp 2013), die Konzentrative Bewegungstherapie (Schmidt 2006) und die Analytische Tanztherapie (Siegel et al. 1999). Sie betrachten den Körper als weiteres Ausdrucksmedium des Unbewussten neben der Sprache. Im Umgang mit ihm soll dieselbe gleichschwebende Aufmerksamkeit wie in der klassischen Psychoanalyse praktiziert werden. Das verkörperte Unbewusste erhält lediglich die Möglichkeit, die freie Assoziation auch in Bewegung und Handlung im Raum umzusetzen. Für diesen szenischen Gestaltungsraum haben die drei Verfahren spezifische Zugänge entwickelt, mit jeweils eigenen Handhabungen des Abstinenzgebotes.

  Die analytischen Tanztherapien nutzen für die Umsetzung spontaner Impulse in Bewegung häufig den evokativen Effekt von Musik. Die sich ergebende „Bewegung aus der Tiefe“, welche das Authentic Movement kennzeichnet, ist ebenso Deutungsgegenstand wie Träume, Bilder und Assoziationen. Eine Besonderheit der Tanztherapie ist das Spiegeln von Bewegungen des Patienten. Dieses Mit-Bewegen ermöglicht der Therapeutin einen leibhaftigen Einblick in das, was den Patienten bewegt, und wirkt beim Patienten als korrigierende emotionale Erfahrung früher Beziehungsdefizite.

DEFINITION

Spiegeln: Wenn der „Glanz in den Augen der Mutter“ (Kohut 1974, 141) fehlt, beeinträchtigt dies das Selbstwertgefühl des Kindes, denn das Gesehenwerden macht entwicklungspsychologisch die eigene Existenz erst spürbar: „Wenn ich sehe und gesehen werde, so bin ich“ (Winnicott 1987, 131). Das therapeutische Spiegeln schafft einen präverbalen, zwischenleiblichen Raum für den Tanz zwischen Mutter und Kind, und erfüllt daher besonders in der Therapie von Frühstörungen wie der Schizophrenie eine wichtige Funktion.

  Die Analytische Körperpsychotherapie beginnt in der Regel im klassischen Setting, auf der Couch liegend. Sie nutzt szenisch-körperliche Arbeit und Berührung, um innerhalb der Übertragungsbeziehung frühe Beziehungsmuster zu reinszenieren. Die von ihr praktizierte Berührung durch den Therapeuten kann zwei Funktionen haben:

1. Sie soll dem Patienten Zugang zu abgespalteten Affekten in einzelnen Körperregionen ermöglichen.

2. Sie soll eine nachnährende, haltende Funktion erfüllen.

  Die Konzentrative Bewegungstherapie (KBT) gibt Anregungen zum experimentellen Umgang mit dem eigenen Körper und der Umwelt. Dies geschieht über die Exploration von Polaritäten und den Kontakt mit Personen und Gegenständen. Die eingesetzten Materialien (Ball, Stock, Seil u.v.m.) erfüllen unterschiedliche Funktionen. Werden sie zur Symbolisierung eingesetzt, so können sie unbewusste Bedeutungsinhalte externalisieren und begreifbar machen. Dabei wird häufig das Arbeiten mit geschlossenen Augen angeregt, um die Wahrnehmung auf das Spüren zu richten.

Das große Potential dieser drei Verfahren liegt in der Möglichkeit, präverbale, unaussprechliche und andere im verkörperten Unbewussten „eingelagerte“ Szenen über Bewegung und Handlung ins Bewusstsein zu bringen. Damit wird der Körper zu einem besonders wertvollen Partner in der Arbeit mit unbewussten Bedeutungsinhalten. Diese methodische Erweiterung birgt jedoch auch Gefahren. Wenn Körper, Raum, Musik und Materialien die Inszenierung erweitern, erhöht sich auch die Komplexität der zu verstehenden Szene. Wirkt dazu noch die Therapeutin über eigene Bewegungen oder Berührungen mit, steigt die Gefahr des therapeutischen Ausagierens.

ZUSAMMENFASSUNG

Die Mehrzahl der körperpsychotherapeutischen Verfahren ist tiefenpsychologisch ausgerichtet. Die drei wichtigsten analytischen Verfahren gehen auf die historischen Quellen von Psychoanalyse und Reformbewegung in Gymnastik und Tanz zurück. Sie erweitern die psychoanalytische Arbeit mit dem Unbewussten, indem sie das verkörperte Unbewusste zur freien Assoziation in Bewegung, Handlung und Körperkontakt einladen. Hier liegt die gemeinsame Schnittmenge mit der sinnverstehenden...

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