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Grundlagen der Klinischen Kinderpsychologie: Definitionen, Konzepte und Modelle
Simone Gebhard
1.1 Was ist Klinische Psychologie bzw. Klinische Kinderpsychologie?
Die Klinische Psychologie befasst sich mit psychischen Störungen und den psychischen Aspekten und Krankheiten in Forschung, Diagnostik und Therapie. Sie ist eine Teildisziplin der Psychologie und umfasst die Themen
- Ätiologie und Bedingungsanalyse
- Klassifikation und Diagnostik
- Prävention, Psychotherapie und Rehabilitation
- Epidemiologie, Gesundheitsversorgung und Evaluation
Die Klinische Psychologie umfasst die Forschung, Diagnostik und Therapie von psychischen Störungen und den psychischen Aspekten somatischer Störungen bei Menschen aller Altersgruppen (Baumann und Perrez, 2011).
Die Klinische Kinderpsychologie setzt einen Schwerpunkt bei der Erforschung von früh wirksamen Risiko- und Schutzfaktoren (vgl. Exkurs Risiko- und Schutzfaktoren) und orientiert sich insbesondere an den Bedürfnissen von Kindern und deren Familien. Die benachbarten Disziplinen Heil- und Sonderpädagogik, Kinderheilkunde und Kinder- und Jugendpsychiatrie sind eng mit der Klinischen Kinderpsychologie verzahnt und leisten einen Beitrag zu Prävention, Diagnostik und Intervention auf diesem Gebiet (Petermann, 2008).
Für die Forschung im Jugendalter hingegen hat sich der Begriff Klinische Jugendpsychologie bislang nicht durchgesetzt. Petermann führt das u. a. darauf zurück, dass die Leitlinien zur Diagnostik und Therapie psychischer Störungen zwischen Kindes- und Jugendalter nicht hinreichend differenzieren, dass gruppentherapeutische Verfahren, die sich für diesen Altersbereich eignen, kaum erprobt sind, nur wenig Präventionsprogramme existieren und dass die Motivation der Jugendlichen meist so gering ist, dass sie kaum aktiv an einer Behandlung mitwirken.
1.2 Was sind psychische Störungen und wie lassen sie sich definieren?
In den oben genannten Definitionen ist der Begriff »psychische Störung« von zentraler Bedeutung und deshalb soll nun geklärt werden, was darunter zu verstehen ist.
Vor der Definition gilt es herauszustellen, dass »psychische Störung« ein Konstrukt ist, auf das sich Praktiker und Forscher auf der Grundlage von Forschungsergebnissen geeinigt haben, die zu diesem Zeitpunkt den neusten Stand der Forschung widerspiegeln. Es ist somit die bestmögliche Lösung für eine begrenzte Zeit und kann auf der Grundlage neuerer Forschungsergebnisse eine Änderung erfahren. Genutzt wird dieser Begriff seit der Einführung der DSM-Klassifikation im Jahre 1980 und löst »psychiatrische Störung« bzw. »psychiatrische Erkrankung« ab (Wittchen und Hoyer, 2011). Das Konstrukt will vermeiden, dass der Eindruck entsteht, dass Dysfunktionen auf ein eindeutiges Prinzip (Ursachen, Wirkung...) zurückführbar sind und darauf reduziert werden. Diese Zusammenhänge sind nicht so einfach herzustellen, da die Ursachen und Verläufe psychischer Störungen wesentlich komplexer sind, als es bei somatischen Krankheiten häufig der Fall sein kann.
Renneberg, Heidenreich und Noyon definieren eine psychische Störung wie folgt:
»Unter einer Störung werden Symptome oder Symptommuster (Syndrome) im Denken, Erleben und/oder Handeln einer Person verstanden, die von der Norm abweichen, zu einer Beeinträchtigung der beruflichen Leistungsfähigkeit und/oder sozialen Aktivitäten führen, durch ausgeprägtes Leiden gekennzeichnet sind und bei den Betroffenen ein Änderungsbedürfnis hervorrufen.« (2009, S. 21)
Was mit einer Abweichung von der Norm gemeint ist, unterliegt gesellschaftlichen Werten und Normen.
Der vorliegende Band beschäftigt sich mit psychischen Störungen im Kindes- und Jugendalter. In diesem Altersabschnitt gilt es, vielfältige Entwicklungsaufgaben mit den zur Verfügung stehenden Ressourcen zu bewältigen. Besonders im Jugendalter müssen durch den Übergang von der Kindheit zum Erwachsenenalter vielfältige Anforderungen (bspw. körperliche und hormonelle Veränderungen, die Zunahme von Verantwortung und Selbständigkeit) im Spannungsfeld von Identitätsentwicklung und der Zugehörigkeit zu einer Gruppe bewältigt werden. Gelingt diese Anforderungsleistung nicht und kommen evtl. besonders belastende Ereignisse wie bspw. chronische Erkrankung oder Behinderung, der Verlust eine nahen Angehörigen oder Freundes, Ereignisse wie Naturkatastrophen oder Unfälle oder seelische und körperliche Erkrankungen eines Elternteils hinzu, kann das möglicherweise zur Ausbildung einer psychischen Störung beitragen.
1.3 Entwicklungspsychopathologie
Die Modellvorstellung der Entwicklungspsychopathologie hat in den letzten Jahren den Grundstein dafür gelegt, dass psychische Störungen nicht nur beschrieben und klassifiziert werden können, sondern darüber hinaus dazu beigetragen, das Auftreten von Entwicklungsabweichungen und psychischen Störungen von der frühen Kindheit bis zum Erwachsenenalter nachzuzeichnen (Blanz, Remschmidt, Schmidt und Warnke, 2006). Die Entwicklungspsychopathologie vergleicht die normale Entwicklung mit der Entstehung und dem Verlauf von Entwicklungsauffälligkeiten und versucht Aussagen zu machen, wie eine Störung entsteht bzw. wie die Störung verlaufen wird, um auf diesem Weg klinisches Handeln zu untermauern. Sie untersucht außerdem, welche negativen und positiven Faktoren auf die Entwicklung einwirken und warum es dazu kommt, dass Kinder, die unter widrigen Bedingungen aufwachsen, sich trotzdem normal entwickeln und keine psychische Störung ausbilden.
Petermann (2008) weist besonders auf den Prozesscharakter hin: Eine Fehlanpassung ist das Ergebnis einer Entwicklung. In diesem Zusammenhang sucht man auch nach Indikatoren, die bestimmte Entwicklungsverläufe vorhersagen können, so dass bei ungünstigen Prognosen frühzeitig mit Gegenmaßnahmen begonnen werden kann, die schlimmere Folgen vielleicht vermeiden können (vgl. dazu Resilienz).
1.4 Biopsychosoziales Krankheitsmodell
Die Entstehung und der Verlauf von Krankheiten können aus unterschiedlichen Perspektiven beschrieben werden. Neuere interaktionistische Theorien berücksichtigen bei ihrem Versuch, das Entstehen psychischer Störungen zu modellieren, das Wechselspiel von biologischen, psychischen und sozialen Faktoren. In diesem biopsychosozialen Krankheitsmodell spielen zudem Risiko- und Schutzfaktoren eine Rolle für das Auftreten und die Schwere einer Störung. Die Auswirkungen der einzelnen Faktoren sind stark kontextabhängig und so kann dem gleichen Faktor in einem anderen Kontext auch eine veränderte Rolle zukommen. Schüssler und Brunnauer (2011, S. 296) stellen das folgendermaßen dar:
»Biologisch-genetische und psychosoziale Faktoren können in einem Fall die Erkrankung ursächlich bedingen, in einem anderen Fall den Verlauf der Erkrankung bestimmen oder – als dritte Möglichkeit – als Folge der individuellen psychischen Erkrankung erscheinen.«
Wittchen und Hoyer (2011) stellen auf dieser Grundlage ein Vulnerabilitäts-Stress-Modell vor, das das Zusammenspiel aller Faktoren und die Möglichkeit der unterschiedlichen Bedeutung deutlich machen soll. Das Modell geht von unterschiedlichen Bereichen aus, die zueinander in Wechselwirkung stehen. Jede Person durchläuft ihre individuelle Sozialisation, und so sind alle Bereiche durch diese unterschiedliche Sozialisation geprägt, die sich auf der Grundlage der biologisch-genetisch vorgegebenen Entwicklungsgrundlage vollzieht:
Abb. 1: Vulnerabilitäts-Stress-Modell (Wittchen und Hoyer, 2011, S. 21, eigene Bearbeitung)
Die zentralen Komponenten dieses Modells werden im folgenden Abschnitt erläutert:
Unter Vulnerabilität wird eine Anfälligkeit verstanden, die sich darauf bezieht, wie Individuen auf der psychologischen, biologischen und sozialen Ebene reagieren, wenn sie einer entsprechenden Belastung ausgesetzt sind. Vulnerabilität alleine führt nicht zur Störung, es ist die Kombination mit einem entsprechenden Auslöser, die zum Ausbruch einer Störung beiträgt (ebd.). Vulnerabilität kann genetisch beeinflusst, erworben oder erlernt sein, auch eine Kombination dieser drei ursächlichen Bedingungen muss in Betracht gezogen werden. Diese Sichtweise wird von Petermann (2008) als interaktionistische Sichtweise bezeichnet, da man davon ausgeht, dass die Entwicklung von Persönlichkeitsmerkmalen wie auch die Entstehung von psychischen Störungen auf eine Wechselwirkung von angeborenen und umweltbezogenen Faktoren zurück geht. Vielfältige Beispiele dafür finden sich in den nachfolgenden störungsbezogenen Kapiteln.
Der Begriff Stress meint in diesem Zusammenhang alle Anforderungssituationen auf biologischer, psychologischer und sozialer Ebene an eine Person, die eine Anpassungsreaktion hervorrufen. Sie können die Bandbreite von einfachen Alltagssituationen bis zu traumatischen Ereignissen umfassen. Im abgebildeten Modell sind einige »Stressereignisse« bespielhaft genannt. Deren Bedeutung und Auswirkung wiederum sind u. a. von Vulnerabilitäten, dem Entwicklungsstadium einer Person sowie von Bewältigungsstrategien und der individuellen Resilienz abhängig (Wittchen und Hoyer, 2011).
Unter Resilienz wird die Fähigkeit einer Person verstanden, sich trotz des Vorhandenseins von extremen Belastungsfaktoren und...