1. Thema und thematische Eingrenzung
Das europäische Mittelalter, die Zeit zwischen der Antike und der Neuzeit, die einen Bereich von etwa dem 5. Jh. bis zum 15. Jh., also mehr als 1000 Jahren umfasst, ist geprägt durch Feudalstaaten keltischer, germanischer, romanischer und z. T. slawischer Stämme mit verschiedener Sprach- und Kulturbasis und theoretisch geordnet nach Ständen sowie durchwirkt von christlicher Glaubenshaltung, die durch Rom strikt eingefordert und bewahrt wurde. Rom legitimierte auch die weltlichen Machtverhältnisse über alle hierarchischen Stufen bis ins Spätmittelalter.
Heute wird vielfach das Jahr 476, Todesjahr Kaiser Romulus Augustus und Ablösung der römischen Kaiserzeit, der Spätantike, als Beginn des Mittelalters genannt oder aber die Zeit um 300 n. Chr. mit der Bekehrung Kaiser Konstantins zum Christentum. Das Ende des Spätmittelalters kann mit den geschichtlichen Eckdaten der Entdeckung Amerikas, der Erfindung des Buchdrucks und der Reformation (1517) um das Ende des 15. Jahrhunderts datiert werden. Die Dreiteilung in Früh-, Hoch- und Spätmittelalter folgt meist den Herrscher-Epochen von Merowinger/Karolinger (6.-10. Jh.) ‒ Ottonen/Salier/Staufer (Anf. 10.-Mitte 13. Jh.) ‒ Tod Friedrichs II./Habsburger/Territorialherren/Bürgertum, Hanse (Mitte 13. Jh. - 15. Jh.) als Aufstieg, Blüte und Machtzerfall der herrschenden Klassen.
Das Thema Kindheit im Mittelalter ist so umfangreich, dass es in einer Hausarbeit nicht annähernd umfassend dargestellt werden kann. So sind folgende mir wesentlich erscheinende Themenaspekte herausgegriffen. Es war mir zum ersten wichtig, die einzelnen Lebensabschnitte des Kindes von der Zeugung bis zum Übergang ins junge Erwachsenenalter aus Sicht dieser Zeit zu erfassen und entwicklungstypische, soziale und rechtliche Gesichtspunkte, die diese Phasen kennzeichnen, zu beschreiben. Die Erziehungsfragen im zweiten und dritten Lebensabschnitt der Kinder, pueritia und adolescentia, waren ein weiterer Aspekt, insbesondere um Unterschiede in den Ständen und in der weltlichen oder geistlichen Ausrichtung des kindlichen Lebens zu verstehen. Schließlich war mir wichtig, ohne den Diskurs des Hauptseminars aufnehmen zu wollen, einige Querbezüge zur dort besprochenen und anderer mittelalterlicher Literatur aus dieser und der spätmittelalterlichen Zeit um 1400 herzustellen.
Die zeitliche Eingrenzung des Themas folgt also der den im Hauptseminar Heiligkeit und Heiligkeitskonzepte der »höfischen« Legendenliteratur besprochenen Werken Hartmanns von Aue Gregorius und Der arme Heinrich, der Erzählung Die gute Frau, sowie Konrads von Würzburg Der Welt Lohn und Alexius zugrunde liegenden Zeit, nämlich der Endzeit des Hochmittelalters und des Beginns des Spätmittelalters. Eine kurze Ausweitung ins Spätmittelalter um 1400 wird die Satire Der Ring von Wittenwiler darstellen.
Laut Schultz[1] haben zwei Paradigmen die Studien zur Kindheit im Mittelalter geprägt. Die ältere, immer noch mächtige, gehe von einer statischen Situation aus:
that childhood is primarily a natural phenomenon and that it must have been more or less the same in the past as it is in the present.[2]
So behaupte z. B. Ignaz Zingerle 1868, dass sich die Spiele und Spielzeuge im Mittelalter von denen heute nicht unterschieden.
Das zweite Paradigma gehe auf Philippe Ariès[3] zurück:
that childhood is primarily an historical phenomenon, but a recent one, and that there was nothing in the Middle Ages that deserves the name.[4]
Dass die Kindheit sich als über die Zeiten hinweg unveränderlich erweist – natural phenomenon, ‒ liege an ihrer noch unverbildeten Art, die die Kinder von der Natur direkt empfangen haben.[5] Andere Wissenschaftler wie Shahar haben den Ansatz, dass moderne psychologische Kategorien auch durchaus auf die Kinder im Mittelalter angewendet werden können.
Shahar stützt sich in ihrer grundlegenden Arbeit über Kindheit im Mittelalter[6]in der Tat auf Erikson, Freund und Piaget in ihrer Einteilung der Entwicklungsphasen und -abschnitte, die sich nach ihren vergleichenden Recherchen in ähnlicher Form bei mittelalterlichen Schriftstellern als »charakteristische Merkmale jeder Phase« wiederfinden.[7]
Shahars Arbeit ist wesentlicheGrundlage meiner Darstellungen und ‒ wenn man Sharon Farmer in ihrer Review zu Shahars Buch folgt ‒ »the first overall survey of childhood in the middle ages, [... and] likely to remain the standard reference on the subject for a long time«.[8]
Shahar führt ‒ und das ist eine der Stärken ihrer Arbeit ‒ eine erstaunlich große Menge und Vielfalt Mittelalter-Primär-Quellen aus Medizin, Didaktik, pastoraler Literatur, Philosophie, Heiligenviten und Gerichtsakten an,[9] die ein abgerundetes Bild der Kindheit im Mittelalter erwarten lassen und das sie m.E. auch zeichnet, wenn auch manches redundant erscheint und manchmal über die Arbeit verstreut auffällt.[10]
Schultz untersucht über 300 Kinderschicksale aus dem deutschen Mittelalter zwischen 1100 und 1350;[11] in der weit überwiegenden Zahl aus dem Bürgertum und Adel. Die dabei von ihm untersuchten Texte sind literarische mittelhochdeutsche Texte. Es stellt sich die systematische Frage, inwieweit sich aus solchen Texten von Schriftstellern und Dichtern Schlüsse auf die realen Gegebenheiten von Kindern im Mittelalter ziehen lassen eingedenk ihrer Poetizität und Fiktionalität.
Die systematischen Schwierigkeiten werden auch in Klingers Essay zur Mentalitätsgeschichte thematisiert, die dort darauf hinweist, »mit welchen Wirklichkeitsunterstellungen und Kohärenzannahmen Hörer oder Leser Lehrstellen zu füllen [...] haben«.[12] Sie nennt »Komplexe der Wahrnehmungs-, Deutungs- und Erfahrungsmuster von Wirklichkeit [und...] die ›kollektive Dimension‹ [...] von psychischen Phänomenen«[13], die wissenschaftlich aus mittelalterlichen Texten herauszuschälen sind, um ein möglichst verlässliches Bild der vergangenen Wirklichkeiten zu bekommen. Klinger ist wie Schultz der Auffassung, das gehe, weil sie unterstellt, dass diese Texte auf dem Hintergrund eines »kollektiven Gedächtnisses«[14] zu werten sind, das durch sie gewissermaßen hindurch scheint.
Ursula Peters nimmt mentalitätsgeschichtlich sowohl die »von den herausragenden Persönlichkeiten [im Mittelalter] formulierten […] Verhaltensexplosionen« als auch den »Generationen überdauernden Prozess eines langsamen Verhaltenswandels«[15] in den Blick, letzteren insbesondere in seiner Wirkung »auf das geschichtsbildende Moment der lenteur, des Verharrens«,[16] und betont wenig später die Wichtigkeit bestimmter Quellentypen, anhand derer die structures mentales und mentalités collectivesals Basis mittelalterlichen Denkens und Handelns aufgedeckt werden können,
Quellentypen und Materialien, in denen sich nicht-offizielles Verhalten und seine psychischen Hintergründe relativ breit dokumentiert: die Verhörprotokolle der Inquisitionsverhandlungen und Hexenprozesse, Traumberichte, hagiographische Texte, [...] Mythen, rituelle Formeln und Symbole.[17]
Man könnte sagen, dass der Mentalitätshistoriker damit bewusst auf Quellen abhebt, die gewissermaßen neben dem mittelalterlich-literarischen Mainstream angesiedelt sind und »aus dem offiziellen Normensystem ausgegrenzte […] Verhaltensdispositionen«[18] sichtbar werden lassen.
Der Historiker Klaus Arnold bevorzugt in einer kritischen Rezension von Schultz' The Knowledge of Childreneinen ähnlichenAnsatz und kritisiert Schultz:
Zu einem Bild der Kindheit im Mittelalter wird man schwerlich gelangen, wenn man die lateinische Literatur, die volkssprachlichen Texte normativen Charakters (Rechtstexte, Erziehungslehren etc.), die mittelalterliche Fachliteratur, die bildliche Überlieferung, archäologische und demographische Ergebnisse ausblendet.[19]
Eine der StärkenShahars liegt denn auch darin, dass sie solchen Quellen breiten Raum im Text und in den Anmerkungen einräumt. Auch Klinger betont: »dass weiterhin literarische Quellen mit eher geringem Stilisierungs- und Komplexitätsgrad bevorzugt werden«.[20]
Malett geht in seinem einleitenden Kapitel zu Untertan Kind[21] auf Erziehungsfragen im Mittelalter ein; doch bleibt er, wie mir scheint, ohne rechtes Studium mittelalterlicher Quellen in seinen Aussagen zu dieser Epoche zu allgemein und wurde daher nur mit Vorbehaltherangezogen. Gleichwohl war sein Buch noch in den 1990er Jahren relevant in der pädagogischen Ausbildung.
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