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Kirchenraum

Eine raumtheoretische Konzeptualisierung der Wirkungsästhetik

AutorClemens W. Bethge
VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl351 Seiten
ISBN9783170292338
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis44,99 EUR
Viele Menschen, die eine Kirche betreten, fühlen sich in besonderem Maße und auf besondere Art und Weise von dem Raum angesprochen und reagieren darauf in der einen oder anderen Weise. Bethge fragt, wie die Verarbeitungsprozesse im Rezipienten aussehen, die diese Resultate hervorbringen, und welche Raumgegebenheiten dafür entscheidend sind. Wolfgang Isers Theorie ästhetischer Wirkung hilft, das Geschehen, das sich zwischen Raum und Rezipient abspielt, beschreibbar zu machen. So wird etwas begrifflich gefasst und theoretisch beschrieben, was oft gar nicht verbalisiert wird und nur schwierig in Worte zu fassen ist. Daraus wird eine praktisch-theologische Theorie des Kirchenraums entwickelt.

Clemens W. Bethge ist Pfarrer beim Beauftragten für das Reformationsjubiläum und den Kirchentag 2017 in Berlin.

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Leseprobe

1         Rezeptionsästhetik: Die Konstanzer Schule und Wolfgang Isers Wirkungsästhetik


 

Rezeptionsästhetik bezeichnet im engeren Sinne eine bestimmte Richtung in der Literatur- und Kunsttheorie und meint hier in der Regel speziell das Programm der – zunächst von anderen in Anlehnung an den Wirkungsort ihrer Hauptvertreter, dann auch von den Akteuren selbst – so genannten ‚Konstanzer Schule‘, einer Gruppe von Forscherinnen und Forschern vorwiegend aus der Literaturwissenschaft, der Geschichtswissenschaft und der Philosophie um den Romanisten Hans Robert Jauß (1921–1997) und den Anglisten Wolfgang Iser (1926–2007), die man als die Gründungsfiguren der Konstanzer Schule und deren herausragende Vertreter, deren Werke am meisten Beachtung fanden, ansehen kann. Jeweils von einer spezifischen Disziplin her kommend waren sie alle einer fächerübergreifenden Theoriebildung und dem Anliegen einer umfassenden Ästhetik verpflichtet. Zum maßgeblichen Forum bildete sich dabei die Forschungsgruppe Poetik und Hermeneutik heraus, die sich in regelmäßigen Kolloquien literatur- und kunsttheoretischen Fragen widmete und die durch die Veröffentlichungen ihrer Tagungsergebnisse – ihrer „Vorlagen und Verhandlungen“ (so die Untertitel der ersten beiden Bände) – in einer gleichnamigen Reihe für eine breite, interdisziplinäre Aufnahme ihrer Ideen sorgte und weit über den deutschsprachigen Raum hinaus Wirkung erlangte.3

Die Entstehung der Rezeptionsästhetik Konstanzer Prägung fällt in die Zeit seit den (späten) sechziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts4, die Zeit der Studentenbewegung und eines allgemeinen gesellschaftlichen Wandels, in der die „Forderung nach gesellschaftlicher Emanzipation und Modernisierung, nach Teilhabe an Entscheidungsprozessen“5 laut wurde. Die Etablierung der Rezeptionsästhetik ist in diesem Kontext zu sehen. Die Umbruchs- und Aufbruchsstimmung erfasste auch die Literaturwissenschaft, die „einerseits Ausdruck der […] gesellschaftlichen Wertwandlungen, andererseits deren forcierendes Moment“6 war. Als Initialzündung für die „rezeptionsästhetische Wende der Literaturwissenschaft“7, in deren Folge sich Konstanz zum Zentrum der Rezeptionsästhetik entwickelte, können die Antrittsvorlesungen von Hans Robert Jauß und Wolfgang Iser an der 1966 neu gegründeten Reformuniversität Konstanz gelten, in denen sie die bis dato in der Literaturbetrachtung im Vordergrund stehende Dyade aus Autor und Werk aufbrechen und um die Instanz des Lesers bzw. Publikums zu einer Triade erweitern. In seiner 1967 gehaltenen Antrittsvorlesung ‚Was heißt und zu welchem Ende studiert man Literaturgeschichte‘ – zunächst 1967 unter verändertem Titel in der Reihe der ‚Konstanzer Universitätsreden‘ erschienen, dann 1970 in erweiterter Fassung unter dem Titel ‚Literaturgeschichte als Provokation‘8 – löst sich Jauß von der Vorstellung eines zeitlos-identischen Kunstwerkes. Stattdessen geht er von einer sukzessiven Entfaltung des Werkes in dessen historischem Rezeptionsprozess aus. Zentral ist der Begriff des ‚Erwartungshorizontes‘, der das durch die literarische Sozialisation bedingte Vorverständnis des Rezipienten, „die jeden Rezeptionsprozeß präformierenden Gedankenstrukturen des Lesers im Sinne eines die Lektüre leitenden Referenzsystems“9 bezeichnet. Wolfgang Iser, 1967 ebenfalls nach Konstanz berufen, thematisiert in seiner Antrittsvorlesung ‚Die Appellstruktur der Texte. Wirkungsbedingungen literarischer Prosa‘ (1969, erschienen 1970)10 die Bedeutungsgenerierung literarischer Texte, die sich im Lesevorgang und durch den Leser ereignet: Bedeutungen sind nicht etwa im Text gegeben und müssten nur herausgefunden werden, vielmehr kommt dem Leser eine aktive Rolle im Sinnbildungsprozess zu. Die Konstanzer Schule war so getragen von dem Impuls – so formuliert Jauß rückblickend –, „den Rezipienten als Empfänger und Vermittler, mithin als Träger aller ästhetischen Kultur, endlich in sein historisches Recht einzusetzen“11. In den Fokus rückte die Aneignung durch den Rezipienten und die daraus entstehende Rezeptionsgeschichte und allgemein die sich darin vollziehende Bedeutungskonstitution. Vor diesem Hintergrund, dem „hermeneutischen Vorrang des Rezipienten“, versuchte die Rezeptionsästhetik, „allgemeine Fragen des Aufbaus von Kunstwerken, des ästhetischen Werts, der künstlerischen Kommunikation und geschichtlichen Tradierung zu lösen“12.

Dieser rezeptionsästhetische Ansatz der Konstanzer Schule wurde vielfach aufgenommen – nicht nur in der Literaturwissenschaft. Auch in anderen Disziplinen wurden die Ideen der Konstanzer Schule aufgegriffen, so etwa in der Kunstwissenschaft – vor allem durch Wolfgang Kemp, der durch eine Übertragung der rezeptionsästhetischen Interpretationsweisen ein „Parallelunternehmen[…] für die Kunstwissenschaft“13 zu entfalten suchte und den Betrachterbezug zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen machte. Über den engen Begriff (nämlich bezogen auf die Konstanzer Schule) hinaus spricht man so auch von Rezeptionsästhetik in einem weiteren Sinne. Rezeption meint hierbei jede Art der kommunikativen Aneignung von Literatur im Besonderen und Kunst im Allgemeinen durch den Rezipienten (Leser, Betrachter, Hörer). Rezeptionsästhetik ist dann – allgemein gesprochen – „die wissenschaftliche Disziplin, welche die Bedingungen, Modalitäten, Ergebnisse und Konsequenzen der Aufnahme, eben der Rezeption, eines künstlerischen Werks durch den Adressaten, sei er Leser, Zuschauer, Betrachter oder Hörer [sic] untersucht“14. Sie betont so „die sinnschöpfende Leistung des Rezipienten“ und betreibt die „Aufwertung des Rezipienten vom marginalen Konsumenten zum sinnstiftenden Co-Produzenten“, indem sie Verstehen nicht als im Kunstwerk selbst, sondern insbesondere in der ästhetischen Erfahrung des Rezipienten grundgelegt sieht.15 Dementsprechend negiert und verwirft Rezeptionsästhetik jegliche „Vorstellung eines ästhetischen Gegenstandes, der unabhängig von der partikularen Perspektive des Betrachters gegeben ist“16. Das heißt mit anderen Worten: Sinn und Bedeutung eines Kunstwerkes liegen nicht von vornherein fest; vielmehr ist dieses gekennzeichnet durch eine grundsätzliche Offenheit seines Bedeutungs- und Sinnangebots, welches sich erst durch die Verschmelzung mit dem Erwartungs- und Bildungshorizont sowie der Verständnisbereitschaft des Rezipienten konkretisiert.

Die Rezeptionsästhetik Konstanzer Prägung steht für eine „Wende von der Werk- zur Erfahrungsästhetik17. Mit ihrem Programm setzte sie sich ab von der Autonomieästhetik des achtzehnten Jahrhunderts, vor allem aber von der Produktions- oder Widerspiegelungsästhetik marxistischer Prägung auf der einen und auf der anderen Seite der Darstellungsästhetik, hier vor allem der Werkästhetik bzw. werkimmanenten Interpretation, deren prominente Vertreter Wolfgang Kayser und Emil Steiger waren und welche im Nachkriegsdeutschland das vorherrschende Paradigma der Germanistik war.18

Rezeptions- und wirkungsästhetische Gedanken finden sich freilich schon früher, so etwa u. a. in der Rhetorik oder in Bezug auf die Tragödie, die „– von Aristoteles über Lessing bis Brecht – […] immer ein Gegenstand wirkungsästhetischer Überlegungen [war]“19. So gesehen reichen die Wurzeln der Rezeptionsästhetik, ihre ‚unerkannte Vorgeschichte‘, zurück bis in die Antike und in die scholastische Theologie.20 Nicht zuletzt hat man diesbezüglich auch auf den Zusammenhang zwischen reformatorischer und neuzeitlicher Rezeptionstheorie hingewiesen: „Das Kunstwerk wird zu einem Angebot, das sich im Rezipienten vollendet, wenn nicht überhaupt erst konstituiert… Alles das hat mit Luther begonnen.“21 Jedoch blieb es der Rezeptionsästhetik vorbehalten, erstmals eine systematische und methodisch reflektierte Entfaltung solcher Überlegungen zu bieten. Explizit Bezug nimmt sie dabei auf den Strukturalismus und russischen Formalismus, in deren Nachfolge sie sich teils sieht, teils sich als Gegenbewegung versteht.22 In ihrer Iserschen Ausprägung greift sie – neben semiotischen und systemtheoretischen Konzepten und Begriffen –...

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