EINS
Staatskunst
Staatskunst bedarf sowohl der Vision von langfristigen Zielen als auch des Mutes, die oftmals qualvollen Entscheidungen zu treffen, die zu jenen Zielen hinführen.
Geht es um Taktik, so sind es nur die wirklich knappen Entscheidungen, die bis zum Präsidenten gelangen – ansonsten trifft man sie auf niedrigerer Ebene. Was Strategien betrifft, so hat es Kissinger beschrieben, kommt es zur weitaus schwierigeren Herausforderung, mit Mutmaßungen umzugehen, die verhängnisvolle Auswirkungen haben können. Wo der Handlungsspielraum am größten ist, ist das Wissen um die Einzelheiten begrenzt oder unklar. Je mehr man weiß, desto weniger Spielraum bleibt. Und je mehr die Einschätzung von der Lehrmeinung abweicht, desto schneller steht man allein da.
Präsident Nixon wandte sich einer feindlichen Macht zu, ohne genau zu wissen, wie sie oder das amerikanische Volk darauf reagieren würden. Er riskierte einen dramatischen und erfolgreichen Gipfel, indem er militärische Einsätze anordnete. Ungeachtet des militärischen Gebarens eines Rivalen hisste er Amerikas diplomatische Flagge auf unbeständigem Boden.
Und immer war es ein Grundsatz des Präsidenten, dass große Sprünge lohnender sind, wenn man für kleine Schritte den gleichen Preis zu zahlen hat.
Dr. Kissinger, Sie haben auf der Weltbühne umfassende Erfahrungen sammeln können. Sie kennen im Wesentlichen alle wichtigen Staatsoberhäupter, Führungspersönlichkeiten und Diplomaten seit Jahren, sowohl in den Vereinigten Staaten als auch im Ausland. Sie haben die guten wie die schlechten, die erfolgreichen und die erfolglosen beobachten können. Welche Qualitäten sind rückblickend Ihrer Meinung nach am wichtigsten, wenn es um Staatsführung geht?
Man muss sich als Erstes fragen, was eine Führungspersönlichkeit überhaupt machen soll. Jedes Oberhaupt sieht sich mit drängenden praktischen Problemstellungen konfrontiert, die aus den jeweiligen Umständen erwachsen; ich würde das als taktische Ebene bezeichnen. Darüber hinaus muss jene Person die eigene Gesellschaft von ihrer jetzigen Situation in eine völlig neue überführen. Das ist die Herausforderung, die Führungsqualitäten erfordert: aus den sich ergebenden Umständen eine Vision für die Zukunft zu gestalten.
Was die erste Aufgabe betrifft, hängt das zum einen von der bestehenden Gesellschaftsstruktur ab und zum anderen von einer gewissen taktischen Begabung.
Und was die Führungsqualitäten betrifft, so sind Charakterstärke und Mut am wichtigsten. Charakterstärke deshalb, weil die schwierigsten Entscheidungen oft die sind, bei denen es um das Zünglein an der Waage geht. Die eindeutigen Entscheidungen werden auf bürokratischem Wege getroffen. Wenn es sich aber um sehr knappe Entscheidungen handelt, dann heißt das, man wählt den einen Weg und entscheidet sich gegen einen anderen. Man braucht moralische Stärke, wenn man eine Entscheidung trifft, die per Definition fast keine Mehrheit bekommen kann, weil es sich um unbekanntes Terrain handelt. Und es braucht Mut, diesen Weg eine Zeit lang allein zu gehen.
Jetzt können Sie natürlich fragen: »Und was ist mit Intelligenz?« Ich würde sagen, dass man ein Minimum an Intelligenz braucht, um solche Probleme zu erfassen. Intelligente Menschen kann man immer anheuern, Charakterstärke aber nicht.
Wenn Sie von Charakter sprechen und davon, schwierige Entscheidungen zu treffen, werden solche Entscheidungen vom Staatsoberhaupt allein getroffen oder mithilfe des eigenen Beraterteams oder vielleicht auch gegen dessen Rat?
Das kommt zu großen Teilen wirklich auf die Persönlichkeit an. Aus meinem eigenen Geschichtsverständnis heraus kann ich sagen, dass die meisten wirklich wichtigen Entscheidungen eine persönliche Komponente hatten, also vom Staatsoberhaupt selbst getroffen wurden. Es ist aber durchaus möglich, dass eine Führungsperson durch eine Gruppe vertrauter Freunde und Berater eine moralische Grundlage gewinnt. Teilweise hilft dann auch der bürokratische Prozess, aber nur bis zu 49 Prozent; die entscheidenden Prozentpunkte für eine Mehrheit kommen so nicht zustande.
Und was passiert, wenn die falsche Entscheidung getroffen wird?
Nun, wenn eine Entscheidung wirklich die falsche ist, muss man erst einmal analysieren, warum es so war. Es besteht die große Versuchung, das eigene Verhalten korrigieren zu wollen, zu denken, dass eine Entscheidung lediglich nicht schnell genug zum richtigen Ergebnis geführt hat. Also versucht man, alle Anstrengungen zu verdoppeln, um den Prozess zu beschleunigen. Oder man entdeckt eine bestimmte Schwachstelle im Prozess. Doch Führungspersönlichkeiten müssen immer auch noch einmal alles grundlegend überdenken. Das sollte stets der erste Schritt sein.
Es ist äußerst mutig und schwierig, sich selbst einzugestehen, dass man etwas falsch eingeschätzt hat, und dann genügend Stärke und Unterstützung zu haben, um die Entscheidung zu revidieren. Aber in eine solche Situation sind wir selbst nie geraten. Es gab Dinge, die nicht funktioniert haben, aber wir haben nie einen Weg eingeschlagen, den wir später für die falsche Entscheidung gehalten hätten.
Manchmal gab es jedoch taktische Anpassungen.
Können Sie ein wenig mehr zur Bedeutung von Mutmaßungen sagen? Eine Führungspersönlichkeit muss handeln, ohne genau zu wissen, wozu das später führen kann. Je länger man wartet, desto besser kann man die Dinge einschätzen, aber gleichzeitig wird man weniger flexibel.
Vieles im dichten Netz der Entscheidungen basiert auf Mutmaßungen. Man muss Einschätzungen treffen, die man in jenem Moment nicht beweisen kann. Das ist erst im Nachhinein möglich. Und je weiter die eigene Einschätzung von der herkömmlichen Meinung abweicht, desto einsamer ist man. Aber generell kann man sagen, dass es meist zu spät zum Handeln ist, wenn man alle Fakten kennt. Die Kunst besteht darin, in dem Moment eine Entscheidung zu treffen, in dem man genügend Fakten hat, um die Entwicklungen richtig einschätzen zu können; nicht so früh, dass man alles über den Haufen wirft, und nicht so spät, dass man ins Stocken gerät.
Gemeinsam mit Präsident Nixon haben Sie viele bestehende Annahmen und Lehrmeinungen – ob es die Beziehungen zu China betraf, zu Russland, zum Nahen Osten – neu durchdacht. Sie haben die Möglichkeit genutzt, die amerikanische Außenpolitik neu zu ordnen und auszurichten. Erzählen Sie uns davon. War Ihnen bewusst, dass Sie genau das taten? Haben Sie vielleicht lediglich die Möglichkeiten genutzt, die sich Ihnen boten? Oder hatten Sie eine Vision davon, wie sich die Dinge in zwanzig Jahren darstellen könnten?
Wenn Sie sich den ganzen Prozess ansehen, zeigt sich, dass wir ein sehr aktives Verhältnis zu anderen Ministerien hatten, um genau solche Fragen zu stellen. Aber eine solche Zusammenarbeit zwischen Ministerien existiert vor allem für Probleme, die schnell und direkt angegangen werden müssen. Das liegt in der Natur einer Bürokratie, die täglich Tausende Mitteilungen bekommt und alle beantworten muss.
Was unsere Beziehung ausmachte, war unter anderem die Tatsache, dass Nixon bürokratische Diskussionen nicht mochte. Solange es um taktische Entscheidungen ging, war er interessiert, aber nicht besonders involviert. Nixon mochte keine bürokratischen Streitereien, also konzentrierte er sich auf Diskussionen über langfristige Themen. Was wollte er erreichen? Ich war ein Akademiker, der aus historischer Perspektive über genau solche Themen geschrieben hatte: nicht darüber, was große Staatsmänner tagtäglich leisteten, sondern darüber, wie sie gewisse Situationen analysierten.
Es war also eher ein glücklicher Zufall, dass wir zusammenkamen. Nixon und ich verbrachten Stunden damit, uns zu fragen: »Was wollen wir tun? Was wollen wir erreichen? Was wollen wir vermeiden?« Ich hatte Nixon vor seinem Wahlsieg nie getroffen, aber wir hatten beide, was zum Beispiel China betraf, die gleiche Einstellung. Er hatte einen Artikel geschrieben. Ich hatte für Rockefeller ähnliche Abhandlungen verfasst. Also kamen wir schnell überein, dass wir uns China gegenüber öffnen sollten. Wir analysierten die Lage auf eine Art, die für amerikanische Verhältnisse einzigartig war.
Im Sommer 1969 wurde uns klar, dass die Chinesen Grund hatten, sich vor einem sowjetischen Angriff zu fürchten. Allein die Tatsache, wie uns das klar wurde, war für die Nixon-Regierung typisch, denn wir lasen Berichte über Auseinandersetzungen zwischen China und der Sowjetunion, die uns auf verschiedenen Wegen zugetragen worden waren, aber vor allem über den sowjetischen Botschafter. Da die Sowjets uns normalerweise nicht über die Probleme an ihren Grenzen informierten, gewannen wir den Eindruck, dass sie etwas planten, wofür sie einen...