Klärungshilfe
Überall, wo Menschen miteinander schaffen, machen sie sich über kurz oder lang auch zu schaffen. Ob sie wollen oder nicht. Konflikte sind ein Anzeichen von Vertiefung. Diese Vertiefung ist auch eine Chance, wenn man sie ergreifen kann. Allerdings ist diese Chance mit höchst unangenehmen Gefühlen und Situationen verbunden, die einen erst mal von der normalen, vorher vielleicht sogar sehr gut funktionierenden Zusammenarbeit abhalten. Konflikte sind weder wünschenswert noch notwendig, sondern einfach unvermeidbar.
Wenn ein Konflikt da ist, ist es entscheidend, wie damit umgegangen wird. Da es zu kaum einer Ausbildung gehört, Konflikte im Beruf lösen zu lernen, greifen wir alle in solchen Situationen auf unser – von Haus aus gelerntes – Konfliktverhalten zurück: Vermeidung, Verleugnung, Ausbrüche, Beschwichtigungen, oberflächliche Sachlösungen, faule Kompromisse, Nachgeben etc. Wie auch im Privatleben haben diese Strategien im Berufsleben fatale Langzeitfolgen. Kurzfristig ist der Konflikt zwar gezähmt, langfristig führen sie aber zu einer enormen Erschwerung der Zusammenarbeit. Auch die größten Konflikte haben klein angefangen. Wenn die Eskalation schon lange im Gange ist, sieht man meistens nur noch die unerhörten Taten und Tatsachen und nicht mehr die vorher nicht erhörten Gefühle, Wünsche und Grenzen der Menschen. An diesem Punkt ist es subjektiv schwer glaubhaft, dass Konflikte positive Auslöser sein können. Man sieht nur das «zu Bruch gegangene Geschirr» und die «schmutzige Wäsche» und hat die innere Gewissheit, dass es nie mehr so schön oder problemlos wird, wie es mal war. Alles, was jetzt noch kommen kann, ist Flickwerk. Tatsächlich kann aber durch die gründliche und saubere Bearbeitung eines Konflikts eine qualitativ neue, realere Zusammenarbeit entstehen. Es stimmt tatsächlich, dass es nicht so wird wie früher. Es wird anders – und besser. Besser heißt hier nicht strahlender, sondern realistischer, tatsächlicher und wahrer. Das ist immer mehr wert als eine oberflächliche oder problemlose Zusammenarbeit. Die Illusionen von heute sind die Katastrophen von morgen.
In der Klärung von konkreten Konflikten in der Zusammenarbeit werden der vordergründige Anlass, die Gründe und Hintergründe des Konflikts bearbeitet. Zusätzlich und fast in der Hauptsache erhöhen die Konfliktparteien ihre gemeinsame Konfliktfähigkeit. Die betroffenen Personen werden befähigt, in Zukunft anders und besser mit Konflikten untereinander umzugehen. Sie lernen, sich offener auszudrücken, einander besser zuzuhören, die Realität schneller zu akzeptieren und flexibler darauf zu reagieren, um die gemeinsamen Ziele zu erreichen.
Bei einer Konfliktklärung in der Arbeitswelt darf nie vergessen werden, dass es sich nicht um Psychotherapie, Gruppenselbsterfahrung oder dergleichen handelt. Die Klärungshelferin hat immer die sachliche Zusammenarbeit zur Erreichung des Teamziels vor Augen. Sie greift nur in solchen Fällen zwischenmenschliche und gefühlsmäßige Phänomene auf, in denen das unmittelbar zur Erreichung des Ziels unumgänglich ist. Diese Grenze ist aber fließend, und es ist unter anderem von der Person der Klärungshelferin abhängig, wie weit sie in diese tieferen Bereiche hineingehen will und kann. (Das gilt natürlich auch für männliche Klärungshelfer. Das jeweils sprachlich nicht berücksichtigte Geschlecht ist im ganzen Buch immer mitgemeint. Sorry!)
Die hier vorgestellte Methode der Konfliktauflösung betrifft in dieser Form, wie der Titel des Buches ja schon sagt, Konflikte im Beruf, d. h. bei der Zusammenarbeit in Firmen, Organisationen, Verwaltungen, Interessengruppen, Schutzvereinigungen, beruflichen Zusammenschlüssen, Ausbildungsinstituten, in Produktion, Handel und Dienstleistung. Für private Beziehungskonflikte steht die «Klärungshilfe I» von Christoph Thomann und Friedemann Schulz von Thun (rororo-Sachbuch 61476), was analog für Ehe, Familie, Wohngemeinschaften, Freundesbeziehungen, Nachbarschaft, Verwandtschaft, Freizeitgruppen und Werte-Gruppierungen (politisch, ethisch, religiös) gilt, es sei denn, sie wären offiziell hierarchisch organisiert.
Für größere oder andere Konflikte, z. B. zwischen ganzen Völkern, Staaten, Volksgruppen, Religionen oder zwischen politischen Parteien, in Kriegen oder bei Geiselnahmen, Entführungen, in politisch-militärischen Krisen kann ich keine Aussagen machen, da ich keine Erfahrungen habe. Die Klärungshilfe bezieht sich bisher immer auf eine überschaubare und endliche Anzahl von Menschen, die auch tatsächlich in Kontakt sind oder sein könnten, sein sollten oder müssten.
Überblick über das Vorgehen in der Klärungshilfe
Der Ablauf der Klärungshilfe gliedert sich von der Anfrage bis zum Abschluss des Falles in sieben Phasen auf:
Die Konflikt-Klärungshilfe-Brücke (‹bridge over troubled water›) mit ihren 5 + 2 Phasen:
0. Auftragsklärung
1. Anfangsphase
2. Selbstklärung
3. Dialogphase
4. Erklärungen und Lösungen
5. Abschluss
6. Nachsorge
In der Auftragsklärung wird überprüft, ob die angefragte Situation überhaupt für Klärungshilfe indiziert ist. Wenn dem so ist, wird hier auch das konkrete Vorgehen mit dem Auftraggeber zusammen geplant. In der Anfangsphase treffen sich alle am Konflikt Beteiligten, lernen den Klärungshelfer kennen, nehmen mit ihm und untereinander Kontakt auf, um herauszufinden, ob es noch Hindernisse gibt, bevor man in die Klärung des Konflikts einsteigt. In der Selbstklärungsphase geht es ans «Eingemachte». Jede anwesende Person erklärt aus ihrer subjektiven Sicht, was alles zu dem Konflikt zu sagen ist, wie er entstanden ist, wie er sich auswirkt. Im Dialog der Wahrheit (Dialogphase) werden diese unterschiedlichsten und sich gegenseitig widersprechenden subjektiven Sichtweisen miteinander in Kontakt gebracht. Es findet eine Art verlangsamter und dadurch vertiefter Streitdialog zwischen den Konfliktparteien statt. Schwierige ‹negative› Gefühle und belastende Vergangenheit müssen erst aufgelöst werden, bevor man Lösungen für die Gegenwart und Zukunft finden kann. Dies geschieht dann in der Phase Erklärungen und Lösungen. Zunächst wird der Konflikt anhand einer Theorie für alle annehmbar erklärt. Das bewirkt eine allgemeine Beruhigung. Die Beteiligten sind nun fähig, sachlich nach neuen Lösungen zu suchen. Es vergehen also über zwei Drittel der Zeit, bevor man zu den Lösungen kommt. Hier werden nun Sachthemen diskutiert und Abmachungen getroffen. In der Abschlussphase wird der Klärungsprozess abgeschlossen, Reste werden benannt und Konsequenzen für nicht Besprochenes oder nicht Gelöstes formuliert. Außerdem wird hier natürlich auch Abschied genommen. In der späteren Nachsorgephase findet eine Begleitung und Überprüfung des Transfers und eventuell eine Nachbetreuung statt.
Dieser Weg führt über viele Details und Stolpersteine, die in den folgenden Kapiteln ausführlich behandelt werden.
Bei der Beschreibung der einzelnen Phasen in den nächsten Kapiteln wird immer zwischen Zweier- und Teamklärungen unterschieden. Bei Zweierklärungen lassen sich zwei Konfliktparteien, die auch wirklich aus je nur einer Person bestehen, von einem Dritten bei der Klärung ihres Konflikts unterstützen. Bei Teamklärungen sind mehr als zwei Personen anwesend, beteiligt und betroffen. Meist handelt es sich um eine ganze Abteilung.
Wer die Teamklärung als Klärungshelfer lernen und beherrschen will, muss die Zweierklärung können, nicht aber umgekehrt. Bei Teamklärungen ist ungleich mehr zu bedenken. Die kleinen Piktogramme hinter den Überschriften zeigen jeweils an, ob sich dieses Kapitel hauptsächlich auf Teamklärung oder Zweierklärung bezieht.
Das Ziel der Klärung im beruflichen Bereich ist immer die Stärkung
der Zusammenarbeit,
der guten, nützlichen, fach- und personengerechten Führung,
der sachgerechten Hierarchie,
der Klarheit,
der Transparenz, Effizienz und Effektivität.
Das alles bei gutem, mindestens aber annehmbarem und sachlichem Klima. Dazu muss in der Klärungshilfe das «Unsachliche» angeschaut und erledigt werden. Das heißt dann konkret: Fehler in der Vergangenheit müssen zugegeben werden, aufgestaute und verhärtete Gefühle müssen aufgelöst werden, und die versiegte Kommunikation muss wieder zum Fließen gebracht werden. Insgesamt entsteht durch die in diesem Buch beschriebenen Grundhaltungen und Interventionen ein Klima der Toleranz und Offenheit. Dieses Klima wirkt sich enorm beruhigend auf die Teilnehmer aus, sodass die fachlich/sachliche Zusammenarbeit in relativ kurzer Zeit wieder eine Chance hat.
Klärung heißt nicht, dass es hinterher schöner wird, nur wahrer. Oft ist es hinterher trotzdem besser. Klärung kann aber auch zu unangenehmen Klarheiten und Wahrheiten führen, für die der Klärungshelfer dann aber nicht schuldig ist. Klären heißt den Nebel wegblasen. Aber was dann ans Licht kommt, liegt nicht im Verantwortungsbereich des Klärungshelfers. Er kann vorher nicht wissen, ob sich unter dem Nebel eine saftige Wiese, ein schroffer Felskamm, ein tosendes Meer oder gar ein Gletscher verbirgt. Auf alle Fälle hilft die Klärung allen Beteiligten, sich in Zukunft der Realität entsprechend zu verhalten. Klärung kann auch zu...