|21|2 Weitergehende Beschreibung der Borderline-Persönlichkeitsstörung
Steinert et al. (2014) kommen nach der Betrachtung der diagnostischen Kriterien der Borderline-Persönlichkeitsstörung zu dem Schluss, dass es sich um ein vielfältiges Symptombild handelt, bei dem verschiedene Aspekte wie affektinduzierte Handlungen, negative Kognitionen und zwischenmenschliche Probleme zu finden sind.
In diesem Kapitel soll diese Vielfalt genauer betrachtet (Kapitel 2.1) und ein Versuch unternommen werden, verschiedene für die Störung relevante Dimensionen zu extrahieren (Kapitel 2.2). Es wird eine vorläufige Zweiteilung in eine Emotionsregulations- und eine Beziehungsstörung vorgeschlagen, welche jeweils beschrieben werden. Am Ende des Kapitels wird das Verhältnis der beiden Problemfelder zueinander diskutiert.
2.1 Heterogenität der Borderline-Persönlichkeitsstörung
Bereits bei der Betrachtung der unterschiedlichen Beschreibungen in ICD und DSM der Borderline-Persönlichkeitsstörung fällt auf, dass das Störungsbild der Borderline-Persönlichkeitsstörung sehr heterogen ist (Skodol, Gunderson, Pfohl et al., 2002; Trautmann 2004).
Wenn nach DSM-5 (APA, 2015) fünf von neun Kriterien erfüllt sein müssen, können zwei Personen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörungsdiagnose lediglich ein Kriterium gemeinsam haben. Zudem gibt es eine Vielzahl an Kriterienkombinationen (256!), welche die kategoriale Diagnose rechtfertigt. Hinzu kommt, dass einige Patientinnen klinisch relevante Symptome der Borderline-Persönlichkeitsstörung erfüllen, ohne die erforderlichen fünf Kriterien zu erreichen (Oldham, 2006).
Aufgrund dieser Vielfalt und weil die Diagnosekriterien in ICD 10 und DSM-5 offensichtlich verschiedene Problembereiche abbilden, wurde versucht, die Symptomatik in Kategorien zu unterteilen. Bohus und Höschel (2006) sprechen von vier Kernmerkmalen der Borderline-Persönlichkeitsstörung nach DSM-IV: Affektivität, Impulsivität, Kognition und interpersonelle Beziehungen. Zanarini, Frankenburg et al. (2003) nehmen eine vergleichbare Einteilung der Symptome vor und finden unterschiedliche Verläufe für die einzelnen Kategorien.
Dazu passend wurde in einigen Studien die interne Struktur der DSM-Kriterien untersucht. Auch wenn einige Studien ein einfaktorielles Modell favorisieren (Clifton & Pilkonis, 2007; Johansen, Karterud, Pedersen, Gude & Falkum, 2004; |22|Fossati et al., 1999), nimmt die Mehrheit ein mehrfaktorielles Strukturmodell der Borderline-Persönlichkeitsstörung an. Rosenberger und Miller (1989) finden zwei Faktoren (1. Interpersonelle Störung und Identitätsstörung, 2. Verhaltens- und Affektregulationsstörung). Clarkin, Hull und Hurt (1993) nennen drei Faktoren (1. Interpersonelle Schwierigkeiten und Identitätsstörung, 2. affektive Schwierigkeiten und Selbstverletzungen und 3. Impulsivität). Sanislow, Grilo und McGlashan (2000) finden eine Drei-Faktoren-Lösung, die sich in einer späteren Studie (Sanislow et al., 2002) bestätigt (1. Disturbed relatedness mit instabilen Beziehungen, Identitätsstörung und chronischer inneren Leere) 2. behavioral dysregulation mit Impulsivität und Suizidalität/Selbstverletzungen, 3. affective dysregulation mit affektiver Instabilität, unangemessenem Ärger und Bemühen, Verlassenwerden zu vermeiden).
Den mehrdimensionalen Konstrukten scheint die Unterscheidung in interaktionellen Schwierigkeiten und Problemen in der Emotions- und Verhaltensregulation gemeinsam zu sein (Bateman & Fonagy, 2008).
Dasselbe Muster spiegelt sich in einem älteren Versuch der Unterteilung der Borderline-Persönlichkeitsstörung wieder. Die Symptome, die bei den Klientinnen vorkommen, wurden in Cluster unterteilt. Hurt, Clarkin, Munroe-Blum und Marziali (1992) kommen zu einer Drei-Cluster-Lösung, die den Ergebnissen der Arbeitsgruppe um Turner (1994) trotz leichter Abweichungen ähnelt: Das Identitäts-Cluster umfasst die Identitätsstörung, Intoleranz gegenüber dem Alleinsein und ein chronisches Gefühl von Leere und Langeweile. Das Affekt-Cluster beinhaltet instabilen Affekt, instabile zwischenmenschliche Beziehungen und unangemessenen Ärger. Und dem Impulsiven Cluster wurden Selbstverletzungen und impulsives Verhalten zugeordnet.
Die Unterteilung in interaktionelle Schwierigkeiten und in Probleme in der Emotions- und Verhaltensregulation erinnert an die beiden Subtypen der emotional instabilen Persönlichkeitsstörung der ICD 10 (ICD 10; Dilling et al. 2006). Während beim Impulsiven Typ vor allem Schwierigkeiten in der Emotionsregulation wie unüberlegtes Handeln, Wutausbrüche und unbeständige Stimmung im Vordergrund stehen, kommen beim Borderline-Typ weitere Kriterien hinzu, die schwerpunktmäßig Selbstbild und Verhalten der Klientinnen in Beziehungen aufgreifen.
Clifton und Pilkonis (2007) schlagen vor, in Zukunft bei der Betrachtung von Subtypen der Borderline-Persönlichkeitsstörung auf Variablen zu fokussieren, die über die DSM-Kriterien hinaus gehen. Dass dieser Ansatz eine Möglichkeit darstellt, ergibt sich auch aus den weiteren Aspekten, welche die Borderline-Persönlichkeitsstörung zu einem heterogenen Störungsbild machen.
Des Weiteren gibt es bei der Borderline-Persönlichkeitsstörung große Unterschiede im Schweregrad. Während manche Personen mit dieser Diagnose nie eine Behandlung in Anspruch nehmen und sich die Symptomatik von selber bessert oder sie zwar mit den verbundenen Schwierigkeiten aber auf einem durchaus hohen Funktionsniveau ihren Alltag bewältigen, benötigen andere ambulante Psychotherapie mit unterschiedlichen Längen. Darüber hinaus gibt es die Klientinnen, die viele verschiedene und intensive Behandlungsangebote in Anspruch nehmen und große Schwierigkeiten auf unterschiedlichen Ebenen und auch im allgemeinen Funktionsniveau aufweisen (Hörz & Zanarini, 2012). Insgesamt belaufen sich die jährlichen Behandlungskosten der Patientinnen mit Borderline-Persönlichkeitsstörung in Deutschland auf etwa 3,5 Milliarden |23|Euro (etwa 25 % der Gesamtkosten für stationäre Behandlung psychischer Störungen; Bohus, 2007a).
Neben der Heterogenität des Störungsbildes erschwert die hohe Komorbidität mit anderen Achse-1- und Achse-2-Störungen (s. Kapitel 1.3.1 und 1.3.2) die Diagnostik der Borderline-Persönlichkeitsstörung. Entsprechend wurde versucht, die Klientinnen mit Borderline-Persönlichkeitsstörung in Cluster zu unterteilen, die verschiedenen anderen Persönlichkeitsstörungen ähneln. So postuliert Millon (1996) vier Untergruppen mit Bezug zu anderen Achse-2-Störungen. Der Entmutigte Typ ist dependent, der Impulsive Typ histrionisch oder antisozial und der Mürrische Typ erscheint passiv-aggressiv; der Selbstdestruktive Typ ist durch einen Abhängigkeits-Autonomie-Konflikt und Selbsthass charakterisiert; er erscheint unterwürfig bis masochistisch und ist sensibel für Stimmungen und Erwartungen.
Die drei von Conklin, Bradley und Westen (2006) beschriebenen Subtypen unterscheiden sich sowohl in Bezug auf das Muster an Affekten und Affektregulationsstrategien als auch in Bezug auf die Komorbidität mit anderen Achse-2-Störungen. Für den internalizing-dysregulated Subtyp geben die Autoren Cluster-C-Komorbidität, für den externalizing-dysregulated Subtyp Cluster-A- und für den histrionic-impulsiv Subtyp Cluster-B-Komorbidität an.
Auch in dem Fragebogen Personality Assessment Inventory (PAI, Morey, 1991) wird versucht, der Komplexität und Heterogenität der Borderline-Persönlichkeitsstörung Rechnung zu tragen und eine Clusterung vorzunehmen, in dem sich die Borderline-Subskala aus vier Unterskalen (affektive Instabilität, Identitätsprobleme, negative Beziehungen und Selbstverletzungen) zusammensetzt (Morey & Boggs, 2003; Sherry & Whilde, 2007).
Es wird also an verschiedenen Stellen vermutet, dass der Inhomogenität des Störungsbildes Muster oder Subtypen zugrunde liegen (Conklin et al. 2006). Und es besteht weitgehende Einigkeit, dass für jedes Cluster bzw. jede Dimension der Borderline-Persönlichkeitsstörung unterschiedliche Behandlungsstrategien notwendig sind.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass das Bild der Borderline-Persönlichkeitsstörung sehr heterogen ist, dass es eine hohe Komorbidität mit anderen psychischen Störungen, u. a. auch mit den verschiedenen Persönlichkeitsstörungen gibt, und dass eine Unterteilung in Subgruppen oder Problemcluster sinnvoll sein kann. Mögliche Faktoren, die...