|9|1 Einleitung: Die schwierigen Distanz-Störungen
In diesem Buch befassen wir uns mit den wirklich schwierigen Distanz-Störungen: Mit der schizoiden, der passiv-aggressiven und der paranoiden Störung.
„Schwierig“ sind diese Störungen deshalb, weil die Klienten, die solche Störungen aufweisen, im Therapieprozess eine Fülle von Interaktionsproblemen realisieren: Hohe Ich-Syntonie, mangelnde Änderungsmotivation, extremes Misstrauen, schlechten Zugang zu internalem Erleben, starkes Testverhalten, Realisation einer Vielzahl von schwierigen Interaktionssituationen.
Wie an anderer Stelle ausgeführt (Sachse, 2013), haben wir im Hinblick auf Persönlichkeitsstörungen eine Unterscheidung getroffen zwischen „Nähe-Störungen“ und „Distanz-Störungen“; diese Unterscheidung ist von großer praktischer Relevanz für die konkrete Psychotherapie.
1.1 Nähe-Störungen
Nähe-Störungen sind dadurch gekennzeichnet, dass Klienten, die diese Störungen aufweisen, zu Interaktionspartnern Nähe herstellen: Sie gehen Beziehungen ein, Beziehungen sind ihnen wichtig; sie gehen auch (in spezifischer Form!) Bindungen ein, sie stellen zu Partnern aktiv Nähe her und haben ein Bedürfnis nach Nähe. Sie nutzen z. T. manipulative Strategien, um zu Interaktionspartnern Nähe herzustellen und Partner an sich zu binden. Andererseits nutzen sie hergestellte Nähe auch aus, um Interaktionspartner für andere Ziele einzuspannen, d. h. sie manipulieren auch durch Nähe.
Zu den „Nähe-Störungen“ gehören:
die Narzisstische Persönlichkeitsstörung
die Histrionische Persönlichkeitsstörung
die Selbstunsichere Persönlichkeitsstörung
die Dependente Persönlichkeitsstörung
Therapeuten können zu Klienten mit Nähe-Störungen in der Regel relativ leicht eine therapeutische Beziehung aufbauen: Sie können, wenn sie richtig mit diesen Klienten umgehen, relativ schnell Beziehungskredit schaffen, was zur Folge hat, dass sie diese Klienten auch relativ schnell konfrontieren können. (Diese Aussagen gelten im Durchschnitt; natürlich gibt es auch hier einige Klienten, bei denen sich dies schwierig gestaltet; jedoch ist die Herstellung einer therapeutischen Allianz im Schnitt einfacher als bei den Distanz-Störungen.)
|10|Auf der anderen Seite werden Therapeuten von diesen Klienten aber auch recht schnell „eingespannt“, in ihr System integriert: Die Klienten nutzen die Therapeut-Klient-Beziehung auch dazu, den Therapeuten zu manipulieren. Auf diese Aspekte muss ein Therapeut daher besonders achten (vgl. Döring & Sachse, 2008a, 2008b; Sachse, 1997a, 1999, 2000, 2001a, 2001b, 2002, 2004a, 2004b, 2004c, 2005, 2006a, 2006b, 2007a, 2008, 2013, 2014a, 2014b, 2014c, 2014d; Sachse, Fasbender, Breil & Sachse, 2012; Sachse, Fasbender & Sachse, 2014; Sachse, Sachse & Fasbender, 2010, 2011, 2014; Sachse et al., 2013).
1.2 Distanz-Störungen
Distanz-Störungen sind dadurch gekennzeichnet, dass Klienten, die diese Störungen aufweisen, zu Interaktionspartnern Distanz halten: Sie gehen nur schwer oder gar nicht Beziehungen ein, Beziehungen sind nicht so wichtig, sie vermeiden Beziehungen, sie gehen Nähe aus dem Weg und stellen aktiv Distanz her; sie verteidigen ihre Grenzen und lassen nur ausgewählte Personen in ihr Territorium. Sie nutzen z. T. manipulative Strategien, um Interaktionspartner auf Distanz zu halten und um Bindungen zu verhindern (vgl. Döring & Sachse, 2008b; Sachse, 1997a, 1999, 2001b, 2004c, 2006a, 2013, 2014e; Sachse, Kiszkenow-Bäker & Schirm, 2015).
Die Distanz-Störungen sind:
Passiv-aggressive Persönlichkeitsstörung
Schizoide Persönlichkeitsstörung
Paranoide Persönlichkeitsstörung
Zwanghafte Persönlichkeitsstörung
Zu Klienten mit Distanz-Störungen bauen Therapeuten nur schwer eine Therapeut-Klient-Beziehung auf: Der Beziehungsaufbau ist in der Regel mühsam und langwierig. Therapeuten haben oft über längere Phasen hinweg den Eindruck, dass sich in der Beziehung nichts verändert. Da Therapeuten bei diesen Klienten auch nur sehr langsam Beziehungskredit herstellen können, können konfrontative Interventionen auch erst sehr spät realisiert werden. Bei diesen Klienten stellt der Aufbau einer vertrauensvollen Therapeut-Klient-Beziehung bereits eine zentrale therapeutische Aufgabe dar: Es ist ein Therapie-Ziel, keine Therapie-Voraussetzung.
1.3 Relevanz der Unterscheidung
1.3.1 Vertrauen und Beziehungsaufnahme
Wie schon ausgeführt, unterscheiden sich Klienten mit Nähe- und Distanzstörungen in ihrer Beziehungsaufnahme. Klienten mit Nähe-Störungen entwickeln relativ schnell Vertrauen zum Therapeuten, falls Therapeuten sie gut komplementär behandeln: Daher |11|gelingt meist relativ schnell eine gute Beziehungsgestaltung; daher können Therapeuten die Klienten auch relativ schnell steuern und konfrontieren.
Klienten mit Distanz-Störungen bauen jedoch nur langsam Vertrauen zum Therapeuten auf: Die Beziehungsaufnahme-Phase kann daher sehr lange dauern. Therapeuten können Klienten daher oft lange nicht gut steuern, Klärungsprozesse stoßen schnell „an die Kante des Möglichen“ und Therapeuten können die Klienten über lange Zeit nicht konfrontieren.
1.3.2 Affekte und Verarbeitungsprozesse
Klienten mit Nähe- und Distanz-Störungen unterscheiden sich aber nicht nur im Hinblick auf ihr Beziehungsverhalten. Klienten mit Nähe-Störungen haben kaum Schemata, die ihr affektives Verhalten regulieren: Sie lassen meist ihre Emotionen und Affekte zu, sie machen auch oft positive Erfahrungen und sie weisen damit auch in relativ hohem Ausmaß positive Affekte auf. Positive Affekte sind eine Voraussetzung dafür, in einem intuitiv-holistischen Modus denken zu können oder wie Kuhl (2001) sagt „Zugang zum Extensionsgedächtnis“ zu haben: Und damit ist es eine Voraussetzung dafür, komplex und kreativ denken zu können.
Klienten mit Distanz-Störungen weisen dagegen oft „Kontroll-Schemata“ auf: Sie weisen ein hohes Maß an Selbstkontrolle (Sachse, 2014b) auf, kontrollieren Emotionen und Affekte, interpretieren oft Situationen negativ und erleben damit auch häufig negative Affekte. Damit schränken sie aber nicht nur ihre eigene Spontaneität ein, sondern sie behindern intuitiv-holistisches Denken und damit ihre Kreativität und ihre Fähigkeit, komplexe Sachverhalten zu erfassen: Tatsächlich schränken sie damit ihre Kompetenzen selbst ein und behindern sich dadurch noch weiter.
1.3.3 Therapeutische Konsequenzen
Therapeuten sollten im Umgang mit Distanz-Störungsklienten beachten:
Therapeuten sollten lange und geduldig an Beziehungsgestaltung arbeiten.
Therapeuten sollten die Klienten auf keinen Fall unter Druck setzen.
Transparenz ist hier eine zentrale Variable: Therapeuten sollten alles transparent machen, erläutern, was sie tun, was sie wollen und nicht wollen usw.
Therapeuten sollten den Klienten ein hohes Maß an Kontrolle einräumen.
Dennoch sollten Therapeuten sich nicht von Klienten kontrollieren lassen und sich nicht komplementär zur Spielebene verhalten.
1.3.4 Forschungsstand
Nähe- und Distanz-Störungen unterscheiden sich auch signifikant darin, in welchem Ausmaß es
theoretische Konzeptentwicklungen,
empirische Forschungsarbeiten,
therapeutische Konzeptionen gibt.
|12|Distanz-Störungen treten in Therapien signifikant seltener auf als Nähe-Störungen: Die unmittelbare Konsequenz ist, dass wir mit Distanz-Störungen weniger praktische Erfahrungen haben als mit Nähe-Störungen; wir können daher über diese Störungen weniger differenzierte Aussagen machen. ...