|5|Kapitel 2 Die Entwicklung des Konzeptes
2.1 Einleitung
In den Jahren 1980 bis 1992 hat der Verfasser an der Ruhr-Universität Bochum zwei größere Forschungsprojekte durchgeführt, um die psychische Verarbeitungsstruktur von Patientinnen und Patienten mit Morbus Crohn (MC) und mit Colitis ulcerosa (CU) genauer zu untersuchen und festzustellen, wie diese Patienten auf eine spezielle Variante der Klärungsorientierten Psychotherapie reagieren.
Dabei wurde festgestellt, dass diese Patienten ein relativ typisches Verarbeitungsmuster aufweisen, das im Wesentlichen durch eine starke Vermeidung, sich mit eigenen Problemen zu befassen, einer starken Ignorierung persönlicher Belastungsgrenzen, einer mangelnden Fähigkeit, sich abzugrenzen oder durchzusetzen und einer erhöhten Alienation, also einer Entfremdung vom eigenen Motiv-System, gekennzeichnet ist.
Daraus resultierte der Versuch, so etwas wie eine typische „Verarbeitungsstruktur“ von Klienten zu finden, die sogenannte „psychosomatische Erkrankungen“ aufweisen: Also relevante psychologische Variablen zu definieren, die Psychosomatiker kennzeichnen.
Dabei wird davon ausgegangen, dass solche Variablen nicht nur bei Personen mit manifesten psychosomatischen Erkrankungen vorkommen, sondern, als eine Art von „Diathese“, auch bei Personen, die noch gar keine manifeste Psychosomatik ausgebildet haben.
Die Klienten mit Colitis ulcerosa und Morbus Crohn waren somit der Forschungs-Ausgangspunkt, um an ihnen solche Prozesse exemplarisch zu erforschen: Ziel der Forschung war es dabei nicht, ganz spezielle Variablen nur für diese Störungsgruppen zu finden, sondern eher übergreifende Variablen, die in der Lage sind, auch andere Klienten mit anderen Störungen und, wie gesagt, auch Klienten ohne manifeste psychosomatische Erkrankungen zu beschreiben.
Das nächste Ziel war nun, aufbauend auf den bisherigen Forschungsergebnissen ein Ratingsystem zu entwickeln, mit dessen Hilfe Rater und Therapeuten bei Kli|6|enten eine solche psychosomatische Verarbeitungsstruktur valide und reliabel erkennen können. Und zwar anhand von Therapieausschnitten, von Therapie, die Therapeuten mit Klienten real durchführen.
Ein solches Verfahren würde es ermöglich,
eine solche Verarbeitungsstruktur schon früh im Therapieprozess zu identifizieren,
ohne zusätzlichen diagnostischen Aufwand, abgesehen von der Anwendung des Ratingsystems,
sich als Therapeut schon früh auf relevante psychologische Klienten-Variablen im Therapieprozess zu konzentrieren.
2.2 Die Ergebnisse der Bochumer Studien
Hier werden die Ergebnisse der Bochumer Studien und ihre Schlussfolgerungen im Hinblick auf die Konzeption einer „psychosomatischen Verarbeitungsstruktur“ kurz dargestellt.
2.2.1 Chronisch entzündliche Darmerkrankungen: Colitis ulcerosa und Morbus Crohn
Der Ausgangspunkt der Untersuchungen waren Personen mit sogenannten „chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen“. Daher sollen diese Störungen hier kurz dargestellt werden.
Unter dem Begriff „chronisch entzündliche Darmerkrankungen“ werden zwei Krankheiten zusammengefasst (Köhler, 1995, S. 192), nämlich Colitis ulcerosa und Morbus Crohn (Adler, 1997). Es sind leichte bis sehr schwere Erkrankungen des Verdauungssystems, die im Wesentlichen schubweise verlaufen (Bischoff, 1997; Dietrich & Caspary, 1997a, 1997b), die zu schweren Symptomen und körperlichen Begleiterscheinungen führen können (Raedsch, 1997; Rothfuß, 2015), die mit medizinischen Methoden diagnostiziert werden müssen (Andus, 1997; Dignass et al., 2010, 2011; Escher, 2015; Ehehalt & Kramer, 2014; Götz, 2015; Hartmann & Tannapfel, 2015; Lembcke, 1997; Preiß et al., 2014; Stein, 2015) und die einer medizinischen Behandlung erforderlich machen (Frei & Rogler, 2014; Herrlicher & Stange, 1997; Kreis, 2015; Krummenerl & Fleig, 1997; Scherer et al., 2011).
Beide Störungen weisen multiple Ursachen-Faktoren auf, u. a. genetische Dispositionen (Schreiber & Rosenstiel, 2015; Wehkamp & Stange, 2015) sowie psychosoziale Probleme (Hardt et al., 2010a, 2010b).
|7|Morbus Crohn und Colitis Ulcerosa sind eher seltene Erkrankungen: Sie treten im Durchschnitt bei nicht einmal 1 % der Bevölkerung auf, insbesondere in Industrieländern (Köhler, 1995; Ott, 2015).
Colitis ulcerosa (CU) bezeichnet eine unspezifische, geschwürbildende Erkrankung des Dickdarms: Je nach Ausdehnung der Colitis gibt es Symptome von Bauchschmerzen, Fieber, Anämie, Elektrolytverlust, gerötete und geschwollene Darmschleimhaut und (eher kleinere) Geschwüre (Adler, 1997). Die Patienten weisen bis zu 20 – 30× am Tag blutige/schleimige Durchfälle auf. Man unterscheidet drei Schweregrade mit geringer, mittlerer und hoher Krankheitsaktivität (Dietrich & Caspary, 1997a; Hoffmann, 2015; Jantschek, 2012; Melle et al., 2011; Weidenbach, 1982).
Morbus Crohn (MC) ist eine unspezifische Entzündung im Bereich des unteren Verdauungstraktes (Crohn et al., 1932; Friebel, 1995). Die Entzündungen können sich auf den gesamten gastrointestinalen Trakt ausdehnen. Es gibt Geschwürbildungen der Schleimhaut sowie Einlagerungen in der Darmwand. Die Erkrankung verläuft in Schüben: Während eines Schubes treten Diarrhoe, Bauchschmerzen, Gewichtsverlust, blutige Stühle und Fieber auf (Adler, 1997; Attenberger, 1982; Chang & Schwartz, 2001; Crohn et al., 1932; Friebel, 1992, 1995; Goebell et al., 1987; Herbert & Cohen, 1993; Schreiber, 1993; Sheffield & Carney, 1976; Stallmach, 2015; Zacher & Becker, 1988).
Auf psychologischer Ebene führen die Erkrankungen zu Depressionen, Ängsten (auch vor Verschlimmerung der Erkrankung), erhöhter Müdigkeit, hoher psychischer Belastung und insgesamt reduzierter Lebensqualität (Ananthakrishnan et al., 2013; Graff et al., 2011; Hardt et al., 2010a, 2010b; Iglesias-Rey et al., 2014; Loftus et al., 2011; Nahon et al., 2012; Vogelaar et al., 2011).
Untersuchungen zur Psychotherapie brachten widersprüchliche Ergebnisse: Einige Therapien erbrachten positive Effekte, andere hatten keinen Einfluss (Boye et al., 2011; McCombie et al., 2013; Wahed et al., 2010). Kognitiv-behaviorale Therapien hatten den größten Effekt (Knowles et al., 2013).
2.2.2 Die Bochumer Untersuchungen
In den Bochumer Untersuchungen ging ich davon aus, dass sich Patienten mit MC und CU nicht in „Persönlichkeitseigenschaften“, sondern in psychologischen Verarbeitungsprozessen von Personen ohne psychosomatische Erkrankungen unterscheiden: Darin, wie sie eigene Motive repräsentieren, damit, wie sie mit Konflikten umgehen, darin, wie sie sich in sozialen Situationen abgrenzen, darin, wie sie eigene Belastungsgrenzen erkennen und mit ihnen umgehen etc.
Die Grundhypothese war, dass diese Patienten Situationen anders verarbeiten und andere Arten grundlegender Verarbeitungsstrukturen aufweisen als Personen ohne |8|diese Erkrankungen (Sachse, 1991a, 1991b, 1993a, 1995a, 1995b, 1995c, 1997a, 1997b, 1998, 1999, 2006a, 2007). Die Annahme war, wenn es bei diesen Störungen relevante psychische Faktoren geben sollte, dann sollten diese nicht in statischen Merkmalen von „Persönlichkeitszügen“ (traits) zu finden sein, sondern in eher dynamischen Merkmalen wie Verarbeitungsprozessen und solchen Merkmalen, die solche Verarbeitungsprozesse aktuell steuern, die also Prozesse der Informationsverarbeitung und Emotionsregulation steuern. Die entscheidenden Merkmale sollten auch nicht in „psychopathologischen Symptomen“ (wie Depression, Angst etc.) zu finden sein, sondern in funktionellen psychischen Prozessen, d. h. in aktuellen Kognitionen, Affekten und Emotionen bzw. in psychischen Strukturen, die solche Prozesse bedingen (vgl. Kuhl, 1983a, 1983b, 1983c, 1992, 2001).
Und: Die relevanten psychischen Determinanten sollten nicht in Einzelvariablen zu finden sein, sondern in dem Zusammenspiel von Variablen: Es soll ein System von relevanten Variablen geben, zwischen denen es Wechselwirkungen gibt und die als System auf andere Variablen einwirken.
In verschiedenen Untersuchungen...