Schwester Sainte-Christine wurde die Nachfolgerin der Madame de Moni. Ach, Monsieur, dieser Unterschied zwischen den beiden! Sie wissen nun, was für ein Mensch Madame de Moni war. Die Neue dagegen hatte einen kleinlichen Charakter, war beschränkt und durch Aberglauben verwirrt, sie liebäugelte mit gewissen neuen Strömungen und hielt Konferenzen mit Sulpizianern und Jesuiten ab. Sie haßte alle Lieblinge ihrer Vorgängerin. In kürzester Frist war der Frieden des Hauses dahin; es gab nur noch Haß, üble Nachrede, Anklagen, Verleumdung und Verfolgungen; wir mußten zu theologischen Problemen Stellung nehmen, von denen wir nichts verstanden, mußten Formulare unterschreiben und uns in ungewohnte Gebräuche fügen. Die Mutter de Moni war eine Gegnerin körperlicher Bußübungen gewesen, sie hatte sich nur zweimal in ihrem Leben kasteit, das eine Mal in der Nacht vor der Ablegung meiner Gelübde, das andere Mal bei einer ähnlichen Gelegenheit. Sie pflegte zu sagen, daß man auf diese Weise keine Sünde wiedergutmachen könne, sondern lediglich stolz und überheblich werde. Sie wollte, daß ihre Nonnen sich wohl fühlten, daß sie einen gesunden Körper und einen heiteren Geist hätten. Das erste, was sie nach Antritt ihres Amtes veranlaßte, war, daß sie sich alle Büßerhemden und Geißeln bringen ließ und ihre Anwendung verbot. Ebenso war es untersagt, die Lebensmittel mit Asche zu vermischen und auf der nackten Erde zu schlafen. Die Neue hingegen gab uns Nonnen die härenen Kutten und die Geißeln zurück und ließ aus jeder Zelle das Alte und das Neue Testament entfernen. Die Günstlinge der alten Regierung sind bei der neuen nie lieb Kind. Der derzeitigen Vorsteherin war ich, gelinde gesagt, gleichgültig, und zwar deswegen, weil ihre Vorgängerin mich sehr geliebt hatte; bald aber verschlimmerte ich mein Los durch Handlungen, die Sie unklug oder entschlossen nennen werden, je nachdem, unter welchem Blickwinkel Sie mein Verhalten betrachten.
Das erste, was ich tat, war, daß ich mich ganz dem Schmerz hingab, den ich über den Verlust unserer ersten Vorsteherin empfand; ich lobte sie bei jeder Gelegenheit, ich stellte Vergleiche an, die nie zugunsten derjenigen ausfielen, die jetzt über uns herrschte, ich schilderte das Leben im Haus in den verflossenen Jahren, rief die Erinnerung wach an die Ruhe, die wir genossen, an die Nachsicht, die wir erfahren hatten, an die geistliche wie irdische Nahrung, die wir damals erhielten, und pries die Sitten, die Gesinnung und den Charakter der Schwester de Moni. Als zweites warf ich das Büßerhemd ins Feuer und entledigte mich auch meiner Geißel; ich redete auf meine Freundinnen ein und bewog einige, meinem Beispiel zu folgen. Als drittes verschaffte ich mir eine Bibel. Als viertes weigerte ich mich, Partei zu ergreifen; ich bezeichnete mich nur als Christin und lehnte es ab, als Jansenistin oder Molinistin zu gelten. Als fünftes beschränkte ich mich mit aller Strenge auf die Ordensregel und erklärte, ich würde weder mehr noch weniger tun, mit anderen Worten, ich übernahm keine zusätzlichen Pflichten, da mir die uns vorgeschriebenen schon eine genügend große Bürde dünkten. Ich spielte nur an Festtagen Orgel, ich sang nur, wenn ich zum Chor gehörte, ich ließ meine Gefälligkeit und meine Talente nicht mißbrauchen und mich nicht überall und jeden Tag anstellen. Ich las die Hausordnung wieder und wieder, bis ich sie auswendig wußte. Wenn man mir etwas befahl, was darin entweder unklar ausgedrückt oder gar nicht enthalten war oder was gegen die Vorschriften verstieß, so weigerte ich mich hartnäckig, es zu tun. Ich deutete auf das Buch und sagte: „Diese Verpflichtungen habe ich übernommen, und andere habe ich nicht unterschrieben.“
Einige Nonnen ließen sich durch meine Reden beeinflussen. Unsere Gebieterinnen sahen ihre Autorität gefährdet, sie konnten über uns nicht mehr wie über Sklavinnen verfügen. Kaum ein Tag verging, an dem es nicht zu einem stürmischen Auftritt kam. In Zweifelsfällen fragten mich meine Gefährtinnen um Rat, und ich trat immer für die Ordensregel und gegen die Willkür ein. Bald stand ich, vielleicht nicht ganz zu Unrecht, in dem Ruf, eine Aufrührerin zu sein. Immer wieder wurden die Großvikare des Herrn Erzbischofs gerufen. Ich erschien vor ihnen, ich verteidigte mich und meine Freundinnen, und man verurteilte mich kein einziges Mal, so sehr war ich darauf bedacht, das Recht auf meiner Seite zu behalten. Es war unmöglich, mir Pflichtverletzung vorzuwerfen, ich ließ mir nichts zuschulden kommen. Auf die kleinen Vergünstigungen, die eine Vorsteherin stets nach Belieben gewähren oder verweigern kann, erhob ich keinen Anspruch. Nie betrat ich das Sprechzimmer, ich erhielt auch keinen Besuch, da ich niemanden kannte. Aber ich hatte meine härene Kutte verbrannt und die Geißel weggeworfen, und ich hatte das auch anderen geraten; zudem wollte ich unter keinen Umständen von Jansenismus oder Molinismus sprechen hören. Fragte man, ob ich mich der Konstitution unterwerfe, so lautete meine Antwort: „Ich unterwerfe mich der Kirche.“ Ob ich die Bulle anerkenne? „Ich erkenne das Evangelium an. Man durchsuchte meine Zelle und fand das Alte und das Neue Testament. Ich hatte unbedacht über die verdächtige Vertraulichkeit einiger Favoritinnen gesprochen. Die Vorsteherin zog sich oft mit einem jungen Geistlichen zurück, und ich hatte mich über die vorgeblichen und die wahren Gründe dieser langen, geheimen Unterredungen geäußert. Ich unterließ nichts, was mich gefürchtet, verhaßt, unglücklich machen konnte, und das gelang mir nur zu gut. Man führte zwar nicht mehr bei den Oberen über mich Klage, aber man trachtete danach, mir das Leben zu verleiden. Den anderen Nonnen wurde verboten, sich mir zu nähern, und bald fand ich mich allein. Ich hatte einige Freundinnen; man nahm an, sie würden sich heimlich für den ihnen auferlegten Zwang entschädigen und mich, da sie tagsüber nicht mit mir sprechen durften, bei Nacht oder zu verbotenen Stunden besuchen. Wir wurden überwacht, und man ertappte bald die eine, bald die andere bei mir. Unsere Unvorsichtigkeit wurde nach Belieben gegen uns ausgelegt, und man züchtigte mich unmenschlich dafür: Ich mußte wochenlang während der Messe von den übrigen abgesondert in der Mitte des Chors knien, mußte von Wasser und Brot leben, in meiner Zelle eingeschlossen bleiben, die niedrigsten Dienste im Hause verrichten. Meinen sogenannten Mitschuldigen erging es nicht viel besser. Konnte man mich keines Vergehens zeihen, so wurde mir eins unterstellt. Ich erhielt zu gleicher Zeit einander widersprechende Befehle und wurde bestraft, weil ich nicht imstande war, sie auszuführen; die Stunden des Gebets und der Mahlzeiten wurden vorverlegt; ohne mein Wissen stellte man die ganze Ordnung des klösterlichen Lebens auf den Kopf, und trotz größter Aufmerksamkeit sah ich mich jeden Tag eines Vergehens schuldig und wurde jeden Tag bestraft. Ich bin mutig, doch der Verlassenheit, der Einsamkeit und der Verfolgung hält auch der Mutigste nicht stand. Es kam so weit, daß man diese Quälerei wie ein Gesellschaftsspiel betrieb; etwa fünfzig Teilnehmer belustigten sich damit. Ich kann unmöglich jede einzelne dieser Niederträchtigkeiten auf zählen. Man hinderte mich am Schlafen, am Wachen, am Beten. Heute stahl man mir einige Kleidungsstücke, morgen vielleicht meine Schlüssel oder mein Brevier; mein Schloß wurde beschädigt; man hinderte mich, etwas recht zu machen, oder verdarb, was ich gut gemacht hatte; man dichtete mir Handlungen und Reden an und machte mich für alles mögliche verantwortlich. So bestand mein Leben nur noch aus wahren oder erlogenen Vergehen, die in nicht enden wollender Folge mit Strafen wechselten.
Diese unausgesetzten, harten Prüfungen schwächten mich gesundheitlich; ich verfiel in Niedergeschlagenheit, Gram und Melancholie. Anfangs versuchte ich, am Fuße des Altars Kraft zu finden, und zuweilen gelang es mir auch. Ich schwankte zwischen Ergebung und Verzweiflung; bald fügte ich mich in alle Härten meines Daseins, bald war ich entschlossen, mich gewaltsam davon zu befreien. Hinten im Garten war ein tiefer Ziehbrunnen, wie oft lenkte ich meine Schritte, wie oft meine Blicke in seine Richtung. Daneben stand eine steinerne Bank, wie viele Male habe ich dort gesessen, den Kopf auf den Brunnenrand gelegt. Wie oft sprang ich jäh auf, von meinen Gefühlen überwältigt, entschlossen, meine Leiden zu enden! Was hielt mich zurück? Warum wollte ich damals lieber weinen, laut schreien, meinen Schleier mit Füßen treten, mir die Haare ausraufen und mein Gesicht mit den Nägeln zerfleischen als meinem Leben ein Ende setzen? Wenn Gott es war, der mich zurückhielt, warum verhinderte er nicht auch all diese Erregungen?
Ich berichte Ihnen jetzt etwas, das Ihnen vielleicht sehr seltsam erscheinen mag, aber darum nicht weniger wahr ist: Ich zweifle nicht, daß meine häufigen Gänge zum Brunnen bemerkt wurden und meine grausamen Feindinnen sich der Hoffnung hingaben, ich würde doch einmal den Vorsatz ausführen, der in meinem Herzen schwelte. Wenn ich in jene Richtung ging, blieben sie absichtlich zurück und wandten sogar den Blick ab. Oft fand ich die...