Madame,
ich möchte Ihren Wunsch als Befehl nehmen und Ihnen aus der Zeit meines Lebens berichten, die inzwischen vorbei ist, und an die ich mich naturgemäß nur ungern erinnere. Es war ein Leben, das vor der jetzigen Zeit lag, in der ich nun in Glück, Wohlstand, Zufriedenheit und Gesundheit lebe. Sie erwarten, daß ich Ihnen das berichte, wie ich als „Freudenmädchen“ mein Brot verdiente, auch wenn man mit Recht meinen darf, daß diese Bezeichnung für mich nicht unbedingt gelten mag. Dennoch habe ich, wie es eben bei Freudenmädchen üblich ist, mehr von der Welt und deren Wesen und Sitten erfahren, als dies sonst normalerweise zutrifft. Ich habe augenblicklich Muße genug, auf Grund meines durchaus respektablen Verstandes die Dinge so zu sehen, wie sie sind, während diese Mädchen stets meinen, daß jeder ernsthafte Gedanke ein furchtbarer Feind sei, der soweit wie möglich ferngehalten werden müsse, ja weitgehend auszumerzen sei. Jedoch konnten mich auch die zügellosesten Vergnügungen und ausgelassensten Freuden nicht davon abhalten, das Wesen eines Lebens dieser Art genau zu studieren.
Ich muß sagen, daß ich lange Vorreden verabscheue. Deswegen will ich mich auch nicht umständlichst entschuldigen sondern nur feststellen, daß ich im Nachfolgenden mein Leben, das heißt das Leben, von dem Sie wissen wollen, genau so nacherzählen werde, wie ich es nun mal geführt habe.
Ich werde mich bemühen, mich streng an die reine Wahrheit zu halten und ihr keinerlei beschönigendes Mäntelchen umzutun. Ich will alles, die Situationen und die Umstände, die zu diesen führten, so schildern, wie sie tatsächlich waren, und es soll mir gleichgültig sein, ob ich damit die Anstandsgesetze übertrete, die zwischen uns beiden auf Grund unserer Beziehungen zueinander ja sowieso keine Gültigkeit haben dürften. Im übrigen kennen Sie selbst die Tatsachen viel zu genau, als daß Sie aus Prüderie oder gar aus charakterlichen Gründen über derartige Schilderungen die Nase rümpfen würden. Selbst Personen aus der höchsten Gesellschaft, denen man doch guten Geschmack zuspricht, finden nichts dabei, Nacktbilder in ihren Wohnräumen aufzuhängen. Und wenn sie das nicht auch schon in der Eingangshalle tun, dann nur deswegen, weil sie die allgemeinen Vorurteile gegen Nuditäten dabei in Betracht ziehen.
Genug der Vorreden - lassen Sie mich zu meiner persönlichen Geschichte kommen. Als Mädchen hieß ich Frances Hill und wurde in einem kleinen Dorf in der Nähe von Liverpool in Lancashire geboren. Meine Eltern waren ausgesprochen arm, aber, wie ich ganz bestimmt glaube, grundehrlich.
Mein Vater war durch einen Unfall gelähmt und konnte schwere Bauernarbeit nicht mehr verrichten. So ernährte er sich und seine Familie mehr schlecht als recht durch Netzemachen. Meine Mutter unterstützte ihn dabei so gut sie eben konnte, indem sie Mädchen aus der Nachbarschaft unterrichtete. Ich hatte viele Geschwister, die alle früh starben, wohingegen ich selbst als einziges der Kinder eine ausgezeichnete Gesundheit mitbekommen habe.
Meine ganze Erziehung bestand bis zum meinem vierzehnten Lebensjahr aus einem bißchen Lesen, besser gesagt Buchstabieren, einem unleserlichen Gekritzel und etwas Nähen. Von meiner Tugend wäre zu sagen, daß ihre Grundlage lediglich aus der völligen Unkenntnis des Lasters und jener Furcht und Scheu bestand, die junge Mädchen vor allem Neuen haben, mehr als vor etwas anderem. Dabei verlieren wir diese Furcht meistens auf Kosten unserer Unschuld, und zwar dann, wenn wir die Männer nicht mehr als Raubtiere ansehen, die uns fressen wollen.
Unterricht und Hausarbeiten nahmen die ganze Zeit meiner Mutter in Anspruch, so daß für meinen eigenen Unterricht so gut wie nichts mehr übrig blieb. Da meine Mutter zudem viel zu naiv war, um irgendetwas Böses zu kennen, kam sie auch gar nicht auf die Idee, mich über das Böse in der Welt aufzuklären.
Ich war gerade fünfzehn Jahre alt geworden, als zu meinem großen Unglück meine lieben Eltern kurz nacheinander an den Pocken starben. Ich blieb als Waise ohne irgendwelche Freunde zurück, da mein Vater seiner Zeit aus Kent zugewandert war. Die schreckliche, für meine Eltern tödliche Krankheit hatte damals auch mich befallen, jedoch nur so schwach, daß ich bald wieder ganz gesund war und auch keinerlei Narben zurückbehielt. Das wußte ich damals allerdings noch nicht zu schätzen. Die Zeit wie auch meine jugendliche Unbekümmertheit ließen mich aber ziemlich bald meinen Schmerz über den unersetzlichen Verlust vergessen. Ja, es gab etwas, was mich völlig gleichgültig dagegen machte: die Aussicht, eine Stellung in London anzutreten, wozu mir Esther Davis, ein junges Frauenzimmer, riet. Sie war aus London zu Besuch von Bekannten gekommen und wollte nach einigen Tagen wieder in die Stadt zurück. Sie versprach, mich mit Rat und Tat zu unterstützen.
Im übrigen gab es im Dorfe keinen, der mir hätte irgendwie raten können oder sich überhaupt meiner angenommen hätte. Nach dem Tod meiner Eltern kümmerte sich eine Frau um mich, die aber ebenfalls für diesen Plan sprach, und so stand mein Entschluß fest, das Abenteuer auf mich zu nehmen und nach London zu gehen. Ich wollte dort „mein Glück machen“, wie man so sagt - dabei hat ein solcher Vorsatz schon mehr Menschen verdorben als glücklich gemacht.
Außerdem verstand es Esther David, mir mit ihren ausführlichen Schilderungen von den Herrlichkeiten, die es in London gäbe, ganz und gar den Kopf zu verdrehen. Ob sie nun von großartigen Denkmälern und Bauwerken, vom König oder vom Theater, der Oper oder anderen wunderbaren Dingen erzählte - es schien mir mehr als begehrenswert, all das zu sehen.
Ich muß heute noch lachen, wenn ich an die staunende Bewunderung denke, mit der wir Dorfmädchen, deren ganzer Sonntagsstaat in einem groben Hemd und wollenen Röcken bestand, Esthers Putz begafften: ihr Kleid aus billiger Atlasseide, ihre Hauben, die mit dünnen Bändern besetzt waren, ihre bestickten Schuhe. Für uns schien dies alles in London zu wachsen - und ich wollte unbedingt, daß es das auch für mich tue.
Für Esther war der einzige Beweggrund, auf der Reise in die Stadt die Sorge für mich zu übernehmen, der, in mir als künftige Städterin eine für sie vorteilhafte Gesellschafterin zu haben. Sie erzählte, daß es schon viele Mädchen vom Lande in der Stadt erreicht hätten, sich und ihre Verwandtschaft für das ganze Leben glücklich zu machen. Ja manche, die sich anständig gehalten hätten, wären sogar von ihren Herren geheiratet worden, hätten Kutschen bekommen, und einige wären sogar zur Herzogin avanciert. Das sei eben alles eine Sache des Glücks, und sie wüßte nicht, warum es gerade mir nicht ebenso ergehen sollte wie einer anderen.
All das, was Esther so erzählte, verstärkte in mir nur den Entschluß, die Reise zu unternehmen, und ich konnte kaum erwarten, bis es so weit sein sollte. Dazu kam, daß ich keine Menschenseele im Dorf hatte, für die ich dageblieben wäre. Auch die Frau, die mich betreute, tat dies lediglich aus Mitleid und ohne jede Zärtlichkeit. Jedoch war sie so gefällig, meine wenigen Habseligkeiten, die mir nach Abzug der Unkosten verblieben waren, zu Geld zu machen und mir dies bei der Abreise auszuhändigen. Mein ganzes Vermögen bestand nun aus recht kümmerlichen Garderobestücken, die sich bequem in eine Schachtel packen und tragen ließen, sowie aus Bargeld in Höhe von acht Pfund und siebzehn Schillingen. Diese tat ich in einen verschließbaren Beutel. Soviel Geld auf einem Haufen hatte ich bisher weder gesehen noch besessen, und ich zweifelte daran, daß man einen solchen Schatz je durchbringen könne. Vergnügt ließ ich die vielen guten Ratschläge über mich ergehen, die ich mit auf den Weg bekam.
Dann saßen wir endlich in der Kutsche. Teils aus Betrübnis, teils aus Freude vergoß ich einige Abschiedstränen, doch fiel mir das Fortgehen, wie gesagt, nicht schwer. Ich kann daher auch ohne weiteres diese Szenen übergehen, wie auch die Tatsache, daß mir der Kutscher lüsterne Blicke zuwarf, und einige Passagiere sogar Pläne in Bezug auf mich machten. Esther verstand es jedoch, in mütterlicher Weise auf mich aufzupassen und für mich zu sorgen. Allerdings berechnete sie mir ihren Schutz ziemlich hoch: ich mußte nämlich alle Reisekosten für sie bezahlen. Das tat ich aber gerne, denn für ihre Hilfe war ich ihr sehr zu Dank verbunden. Außerdem war sie wirklich sparsam und sorgte dafür, daß wir nicht übervorteilt wurden.
Spät an einem Sonnabend kamen wir mit unserer nur langsamen Kutsche, auch wenn diese zuletzt sogar mit sechs Pferden bespannt war, in London an. Die breiten Straßen, die wir auf dem Weg zu unserem Gasthaus entlangfuhren, waren vom Lärm vieler Wagen und hastender Fußgänger erfüllt. Das Gedränge und die Menge großer Häuser versetzten mich in Angst und Staunen.
Als...