2. Eine echte Persönlichkeit oder die Illusion davon?
Es ist immer dieser eine Blick, der fasziniert. Wenn jemand tiefgründige Blicke beliebig produzieren kann, kann in der Porträtsession fast nichts schiefgehen. Anna ist vor der Kamera Profi und konnte fast nach Belieben die Emotionen zeigen, die ich mir während der Fotosession gewünscht hatte.
100 mm | f/8 | 1/160 s | ISO 100 | Sonstiges: große, runde Softbox ohne Frontdiffusor für hartes Licht, ein Effektlicht für die Haare (Normalreflektor), Spot für den Hintergrund
Ist ein Porträt nicht grundsätzlich eine große Lüge? Man könnte argumentieren, dass eine Fotografie in einem Bruchteil einer Sekunde entsteht, man also nur einen Augenblick der Wirklichkeit quasi einfriert. Was lässt sich in einer hundertstel Sekunde schon zeigen? Emotionen, die Seele? Oder einfach nur eine zuvor für den Zweck vorbereitete Oberfläche? Im Grunde arbeiten alle Fotografen, die sich mit Menschen beschäftigen, auf Augenblicke hin und hoffen darauf, dass einer der Augenblicke beim Porträtieren genau der eine, entscheidende Augenblick ist und sie im richtigen Moment auf den Auslöser drücken. Was macht dann aber ein gutes Porträt aus, bei dem man als Betrachter das Gefühl hat, etwas von dem Menschen vor der Kamera zu erfahren?
Sieht man hier die Frau oder ein Stereotyp? Wie schafft man es, den Menschen vor der Kamera zu zeigen und nicht bloße Maske und Abziehbild?
70 mm | f/4 | 1/100 s | ISO 160 | Sonstiges: Striplight vorn links (aus Kamerasicht), Aufheller (Striplight) mit minimaler Leistung von rechts hinten
Als Fotograf hat man einige Mittel an der Hand, um bestimmte Stimmungen und Illusionen zu erzeugen. Das beginnt bei der Kleidung des Menschen, geht weiter über Make-up und Frisur, den Hintergrund bzw. die Kulisse und endet natürlich beim Licht.
Aber auch die Wahl der Kamera sowie die der technischen Merkmale wie Brennweite, Empfindlichkeit und Verschlusszeit tragen zur Gestaltung eines Porträts bei. Wenn der Fotograf mit seinem Handwerkszeug nun aber bewusst gestalten und im Prinzip beliebig festlegen kann, was vor seiner Kamera geschieht, bedeutet das aber auch, dass man keinem Porträt vertrauen darf. Man kann den Menschen vor der Kamera im Grunde als leere Leinwand sehen, die der Fotograf mit seinen Mitteln bearbeitet, um eine bestimmte Wirkung zu erzielen. Immer vorausgesetzt, der porträtierte Mensch spielt mit und macht, was der Fotograf verlangt.
Lach doch mal!
Ein Beispiel aus meiner eigenen Praxis: Eine Mutter kommt mit ihrem süßen, blond gelockten Mädchen kurz vor Weihnachten ins Studio. Es geht natürlich um Porträts, die für Oma und Opa gedacht sind. Die Mittel des Fotografen bestehen nun darin, einen hellen, himmels- oder wolkengleichen Hintergrund zu verwenden, viel Licht von vorn aufs Gesicht sowie von hinten auf die Haare zu setzen, das Mädchen dazu zu bringen, verträumt in die Kamera zu sehen.
Die Realität sieht jedoch fernab des – letztlich doch alle zufriedenstellenden – Porträts völlig anders aus. Das Mädchen war genervt, war offensichtlich überfordert mit der schrecklichen Situation. Mama war ebenso genervt, da man für den Porträttermin nur eine halbe Stunde Zeit eingeplant hatte, sich das Mädchen aber bereits beim Hairstyling nicht sonderlich kooperativ verhielt. Die Stimmung wurde also immer angespannter und hektischer.
Und dann der Klassiker: »Jetzt lach doch mal! Ist doch für Oma und Opa. Die wollen dich doch lieb lachen sehen!« Es ist ein Segen, dass meine Studioblitzgeräte in diesem Fall nur rund 1/1000 Sekunde aufleuchten. Denn hätte ich Porträts gemacht, die eine Zeitspanne von 10 Sekunden oder ein paar Minuten zeigen würden, wären Oma und Opa an diesem Weihnachten sicher nicht so glücklich und zufrieden gewesen beim Anblick ihrer süßen Enkelin. Als Fotograf muss man mit seiner Zeit haushalten und die richtigen Augenblicke erwischen. Und ab und zu muss man die Mama bitten, draußen vor der Tür zu warten. Dann klappt‘s auch mit dem Engelchen zu Weihnachten.
Die beiden hatten Spaß beim Fotografieren, was man auch deutlich sieht. Würde man versuchen, zwei Kinder gleichzeitig zu einem gekünstelten Lächeln zu bewegen, müsste man schon viel Glück oder große Fähigkeiten in Photoshop haben, um die gewünschten Aufnahmen hinzubekommen.
60 mm | f/13 | 1/100 s | ISO 100 | Sonstiges: große Okto-Softbox, zwei Blitzköpfe für den Hintergrund, die zum Teil als Aufheller wirken, da sie nicht abgeschattet wurden und ein wenig nach vorn abstrahlen
Lieber mehr als weniger
Normalerweise heißt es ja in der Fotografie, dass man sich auf eher wenige, dafür aber wichtige Details konzentrieren sollte, um dem Betrachter ein eindeutiges Ziel seiner Aufmerksamkeit zu bieten. Das trifft natürlich auch auf die Porträtfotografie zu. Je klarer ein Bild durch Pose, Blick, Licht, Farben und Schärfe strukturiert und aufgebaut ist, desto eher findet das Auge den inhaltlichen Kern eines Porträts.
In einer Hinsicht darf es beim Porträtieren aber durchaus etwas mehr sein: Machen Sie lieber zu viele als zu wenige Fotos!
Denn nach meiner Erfahrung findet man den einen entscheidenden »Augen-Blick« des Porträtmodels oft erst beim Sichten und Aussortieren der Aufnahmen einer Session. Man kann so viel planen, wie man will, wenn aber der eine Blick, die eine Pose nicht dabei ist, hat die Session zwar Spaß gemacht und war vielleicht ganz nett, künstlerisch jedoch war sie praktisch wertlos.
Foto – Kontrolle – Foto – Kontrolle?
Während man in der kommerziellen Porträtfotografie die Bildanzahl während einer Fotosession natürlich so gering wie möglich hält – immerhin muss man aus kalkulatorischer Sicht den zeitlichen Aufwand bei der Nacharbeit in Grenzen halten und möglichst nur diejenigen Fotos schießen, die sich auch verkaufen lassen –, sollte man bei einem eher künstlerischen Porträtprojekt weder auf die Uhr noch auf den Bildzähler schielen. Während einer Session zeigt der schnelle Blick aufs Display lediglich, ob eine Aufnahme korrekt belichtet und halbwegs gut gestaltet ist.
Die emotionale Tiefe eines Fotos erkennt man erst dann, wenn man es auf dem Monitor in hoher Auflösung begutachtet.
Nun könnte man einwerfen, dass man schließlich mit einer modernen Kamera und einem Computer direkt in den Rechner z. B. nach Lightroom, CaptureOne oder Hasselblad Phocus fotografieren und die Bilder sofort auf dem Monitor ansehen kann. Das klappt nach meiner Erfahrung tatsächlich, jedoch nur mit mehr oder weniger professionellen Models, die auch nach dem Drücken des Auslösers ihre Pose hundertprozentig beibehalten. Denn darum geht es ja bei der sofortigen Bildkontrolle am Computer – man möchte, je fortgeschrittener der fotografische Prozess ist, anhand der letzten Aufnahme nur noch kleine Details in Pose, Licht und Gestaltung verändern, um eine weitere Aufnahme zu machen.
Die meisten Menschen, die es nicht gewohnt sind, minutenlang regungslos vor der Kamera zu sitzen, sind damit überfordert, weshalb eher eine relativ schnelle Arbeitsweise und eine große Bildanzahl die Wahrscheinlichkeit erhöhen, ein wirklich gutes Porträt aus einer Session zu ziehen. Und mehr dürfte in der künstlerischen Porträtfotografie auch nicht das Ziel sein – eine oder zwei wirklich gute Aufnahmen aus einer einstündigen Session mit verschiedenen Licht- und Set-up-Experimenten ist eine zufriedenstellende Ausbeute.
Emotionen herausfordern
Wenn Sie in erster Linie mit Amateuren vor der Kamera arbeiten, gehört tatsächlich auch etwas Glück dazu, ein berührendes Porträt zu schießen. Allerdings kann man dem Glück auf die Sprünge helfen, wenn man mit Regieanweisungen arbeitet und den Menschen vor der Kamera dazu bringt, ganz bestimmte Gedanken oder Gefühle in seiner Haltung und im Blick umzusetzen. Sagen Sie doch einfach mal »Schau bitte so in Gedanken versunken wie möglich!« Oder fordern Sie Ihr Modell auf, traurig, verschmitzt, berührt, vergeistigt zu schauen.
Beim Lachen wird es schon schwieriger, wie Sie vermutlich aus eigener Erfahrung wissen. Menschen scheinen zu glauben, dass sie beim Lachen mehr von ihrer Persönlichkeit preisgeben als bei einem finsteren oder nachdenklichen Gesichtsausdruck. In der Tat ist Lachen einladend, während ein grimmiger Gesichtsausdruck eine unsichtbare Barriere aufbaut. Ihr Fotomodell kann sich also hinter einem grimmigen Gesichtsausdruck verstecken. Das kann gerade am Anfang einer Session helfen, dem Modell ein wenig Selbstvertrauen zu geben. Außerdem gewöhnt man sich so schneller an die Situation, vor der Kamera zu sitzen und etwas von der eigenen Persönlichkeit zu zeigen.
Wut ist so eine Emotion, die wohl die meisten Menschen auch vor der Kamera gut spielen können. Manchmal hilft es auch, ein bestimmtes Accessoire wie hier die Waffe einzusetzen, um dem Porträtmodel etwas in die Hand zu geben, an dem es sich im wahrsten Sinne des Wortes festhalten kann.
105 mm | f/14 | 1/100 s | ISO 100 | Sonstiges: große, runde Softbox, Effektlicht für die Haare, Hintergrundspot
Echte Persönlichkeit?
Fordert man ein Fotomodell auf, eine bestimmte Emotion zu zeigen, entspricht die Darstellung dann der Persönlichkeit des Modells? Ist die (gespielte) Emotion echt? Sagt man als Fotograf dann noch die »Wahrheit«? Oder ist die Frage nicht eigentlich müßig, wenn man in kontrollierter Studioumgebung oder bei einer geplanten Porträtsession im Wald arbeitet? Was zählt, ist schließlich das Ergebnis. Im besten Fall also ein berührendes...