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Kleine Geschichte der deutschen Literatur

Rothmann, Kurt - Deutsch-Lektüre, Deutsche Klassiker der Literatur - 17685 - 20. durchgesehen und erweitert

AutorKurt Rothmann
VerlagReclam Verlag
Erscheinungsjahr2014
ReiheReclams Universal-Bibliothek 
Seitenanzahl580 Seiten
ISBN9783159606583
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis11,99 EUR
Kurt Rothmanns 'Kleine Geschichte der deutschen Literatur' wurde für die 20. Auflage aktualisiert und fortgeschrieben. Sie bietet in klarer Diktion übersichtliche und knappe Erstinformationen über die gesamte deutsche Literaturgeschichte, für Schüler, für Neulinge und Neugierige ebenso wie Alteingesessene. Die Neuauflage wartet mit einem neuen Kapitel über uncoole, coole und phantastische Texte von biographisch und historisch ansetzenden Autoren, über Story-Teller und Romanciers sowie natürlich mit einen Überblick über die wichtigsten Entwicklungen im Bereich von Lyrik und Drama auf.

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Leseprobe

1. Die alt- und mittelhochdeutsche Literatur1 (750–1350)

a) Denkmäler aus germanischer Zeit

Die germanischen Dichter der heidnischen Zeit kennen wir nicht. Denn vor der Christianisierung im 8. Jahrhundert schrieb und las im deutschen Sprachraum kaum jemand. Die sozialen Belange, meist kultisches und kriegerisches Brauchtum, fanden ihren Ausdruck in formelhaften Zaubersprüchen, Rätseln, Sprichwörtern und Merkversen2, die ausschließlich mündlich weitergegeben wurden.

Erst im 10. Jahrhundert schrieb ein Mönch in Fulda zwei solcher Zaubersprüche aus dem frühen 8. Jahrhundert auf. In karolingischer Minuskel3 schrieb er sie auf das leere Vorsatzblatt einer Messhandschrift aus dem 9. Jahrhundert. Man entdeckte die Sprüche 1841 in Merseburg und nennt sie darum die Merseburger Zaubersprüche. Der erste Spruch sollte der Gefangenenbefreiung dienen; er lautet:

Eiris sâzun idisi4,   sâzun hera duoder.

suma hapt heptidun,   suma heri lezidun,

suma clûbôdun   umbi cuoniouuidi:

insprinc haptbandun,   invar vîgandun.

(Einst setzten sich Schicksalsfrauen, setzten sich hierhin und dorthin.

Einige knüpften Bande; einige hielten Heere auf;

Einige rissen an den Fesseln:

Entspring den Fesseln, entgeh den Feinden!)

Wie das Gebet will der Zauberspruch in die Wirklichkeit eingreifen, indem er die regierenden Mächte, Götter oder Dämonen, zur Handlung bewegt. Bewegende, magische Kraft traute man vor allem dem sprachbesonderen Wort zu. Im germanischen Zauberspruch liegt die Besonderheit in einer formelhaften Verdichtung: Auf die erzählerische Einleitung (spel ) und die dreigliedrige Vorbildhandlung (vgl. oben: Einige …; einige …; einige …) folgt in Befehlsform das eigentliche Mahn- oder Zauberwort (galstar ›Geflüster‹). Der zweite Merseburger Zauberspruch, der verrenkte Pferdebeine heilen soll, ist ebenso aufgebaut.

Ein weiteres germanisches Formelement ist der Stabreim (Alliteration). Der Stab- oder Anreim hebt die bedeutungsschweren Wörter im Vers durch gleichen Anlaut der betonten Stammsilben hervor: »hápt héptidun«. – Von den Konsonanten stabt (alliteriert) nur jeder mit seinesgleichen. Die Vokale dagegen staben sämtliche untereinander: »Éiris sâzun ídisi«.

Dem Mönch in Fulda war diese alte Form des Anreims offenbar nicht mehr geläufig; für das Mahnwort im letzten Vers benutzt er jedenfalls den viel jüngeren Endreim (vgl. Otfrid von Weißenburg, Kap.  1b):

insprinc haptbandun,   invar vigandun.

Neben den Zaubersprüchen, Rätseln, Sprichwörtern und Merkversen kannten die Germanen den singbaren Text. Da gab es zum einen den leich (von gotisch laikan ›springen, tanzen‹), ein Bewegungslied, das ursprünglich rhythmische Arbeit oder Tanz begleitete; zum anderen gab es das liod, das als wini-liod (›Liebeslied‹) oder als Preis- und Heldenlied vorgetragen wurde. In den Preisliedern verherrlichte der adlige Dichter-Sänger (Skoph ›Schöpfer‹) die lebenden Herrscher, in den Heldenliedern die toten Heroen und die Werthaltungen ihrer Gesellschaft.

Wieder waren es Mönche in Fulda, die uns das einzige Beispiel eines deutschen Heldenliedes überliefert haben. Sie schrieben das nach einer älteren Vorlage um 810 oder 820 entstandene Hildebrandslied innen auf die Deckel eines Gebetbuches. Das Hildebrandslied erzählt einen tragischen Zweikampf zwischen Vater und Sohn. Nach dreißigjähriger Abwesenheit im Dienste Dietrichs von Bern kehrt Hildebrand heim. Er trifft auf seinen Sohn Hadubrand und gibt sich als dessen Vater zu erkennen. Hadubrand aber glaubt, sein Vater sei gefallen; er hält Hildebrands Auskunft für feige List und verhöhnt ihn. Nach dieser Beleidigung ist der Kampf für jeden ritterlichen Krieger unausweichlich.

Der Konflikt5 zwischen Ehrgebot und Vaterliebe ist ebenso wie seine Lösung durch das Schwert heroisch-heidnisch. Dennoch ruft Hildebrand bereits nicht mehr heidnische Götter an, sondern den christlichen Weltenlenker:

»welaga nu, waltant got [quad Hiltibrant],   wewurt skihit.

ih wallota sumaro enti wintro   sehstic ur lante,

[…]

nu scal mih suasat chind   suertu hauwan,

breton mit sinu billiu,   eddo ih imo ti banin werdan. […]«

(»Weh, allmächtiger Gott [rief Hildebrand], jetzt vollzieht sich Unheilsschicksal.

Ich zog sechzig Sommer und Winter im Ausland umher.

[…]

Nun soll mich das eigene Kind mit dem Schwert (er)schlagen,

mit seinem Schwert treffen, oder ich selbst ihm zum Tode werden. […]«)

Der Text bricht nach 68 stabenden Langzeilen6 aus Raummangel mitten im Kampf ab. Aus anderen Überlieferungen des Stoffes und dem düsteren, ernsten Ton der germanischen Heldenlieder erschließt man, dass Hildebrand seinen Sohn tötet. – Erst in der Fassung des Jüngeren Hildebrandsliedes aus dem 13. Jahrhundert endet die Begegnung untragisch mit fröhlichem Wiedererkennen im Familienkreis.

Obgleich das Hildebrandslied mit seiner Tragik7 in knapper und zugleich anschaulicher Form ein literarästhetisch bedeutsames Kunstwerk ist, wird das Fragment8 aus Fulda heute meist nur noch als Ursprungszeugnis deutschsprachiger Dichtung zur Kenntnis genommen.

b) Die geistliche Dichtung des frühen Mittelalters

Die germanischen Heldenlieder, die Karl der Große (742 bis 814) hatte sammeln lassen, ließ sein Sohn, Ludwig der Fromme (778–840), aus religiösen Bedenken verbrennen. So kam es, dass die Tradition der vorchristlichen Dichtung abriss und nur althochdeutsche Schriften, die im Dienst christlicher Bekehrung standen, überliefert wurden: Glossen9, Interlinearversionen10, Abschwörungs- und Taufgelöbnisse, Gebete, Beichtformeln usw., geistliche Gebrauchsliteratur ohne Reiz und Nachwirkung, bis auf die Evangelienharmonie (abgeschlossen 863/871) OTFRIDS VON WEISSENBURG.

Der Theologe Otfrid wollte den Vornehmen seiner Zeit das Leben Jesu nahebringen, um die frommen Herrschaften vor dem Lärm der Welt und weltlicher Dichtung zu bewahren. Zugleich wollte er beweisen, dass man Christus nicht nur in klösterlichem Latein, sondern auch in der Volkssprache loben könne. Darum verarbeitete er in südrheinfränkischer Mundart die vier Evangelien zu einem einzigen Bericht, einer sogenannten Evangelienharmonie.

Das fünfbändige Erbauungsbuch mit seinen vier Widmungen, den Anfangs- und Schlussgebeten und den zahllosen erläuternden und moralisierenden Einschüben macht einen pomphaften, gelehrten Eindruck; und doch war es für die Geschichte der deutschen Literatur von bahnbrechender Bedeutung. Denn Otfrid entwickelte hier in Anlehnung an die lateinische Hymnendichtung den deutschen Endreim, der nun den alten Stabreim für immer ablöst.

Dieser formalästhetische Wandel vom Stabreim zum Endreim war keine Äußerlichkeit. Vielmehr verlangte der neue christliche Inhalt, der sich beständig gegen germanisch-heidnisches Gedankengut durchzusetzen suchte, ganz wesentlich nach einer eigenen sprachlichen Form. Nur so erklärt es sich, dass Otfrid mit seiner formalästhetisch wegbereitenden Leistung den unbekannten Dichter des Heliand (830) überflügelte, dessen Evangelienharmonie in altsächsischen Stabreimen wohl poetischer ist, aber in einer zu vermeidenden Formtradition stand.

Otfrids großartiger Beweis, dass man Gott nicht nur in den kirchlichen »Edelzungen«, Griechisch und Latein, loben könne, verfing zunächst nicht. Mit dem Ende der karolingischen Renaissance um 900 und dem Aufblühen der lateinischen Klosterkultur unter den Ottonen verschwand alle volkssprachliche Dichtung für rund hundertfünfzig Jahre. Wer damals überhaupt lesen und schreiben konnte, der konnte auch Latein und war damit zufrieden. Erst als es darum ging, die weltverneinenden Ideen der kluniazensischen Reform11 ins Volk zu tragen, besannen sich die Geistlichen wieder der Volkssprache.

Die Bußpredigten und Erinnerungen an den Tod waren anfänglich unbeholfene Versuche. Doch am Ende der neuen Bemühungen um die deutsche Sprache steht ein glanzvolles Beispiel dichterischer Prosa,12 in der auch der dogmatische Geist Clunys einer persönlicheren, gefühlsbetonten Frömmigkeit gewichen ist. Anstelle Christi rückt nun Maria in den Mittelpunkt kultischer Verehrung.

Das St. Trudperter Hohe Lied (um 1150) ist eine für Nonnen geschriebene Auslegung des Hohenliedes Salomonis. Der Bräutigam des biblischen Buches wird darin als der Heilige Geist gedeutet und die Braut als Maria, oder aber als die gläubige Einzelseele. Marias Empfängnis wird so zum Vorbild für die göttliche Empfängnis, die sich in jedem Menschen wiederholen kann. Vorbedingung für die mystische Vereinigung der Seele...

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