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Kleine Hände - großer Profit

Kinderarbeit - Welches ungeahnte Leid sich in unserer Warenwelt verbirgt

AutorBenjamin Pütter, Dietmar Böhm
VerlagHeyne
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl224 Seiten
ISBN9783641211219
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis6,99 EUR
Kinderarbeit ist international verboten. Trotzdem schuften Millionen Kinder unter den unwürdigsten Bedingungen für unsere Produkte, z.B. für Schmuck, Teppiche und Natursteine. Der Kinderarbeitsexperte Benjamin Pütter ist schon über 80-mal durch Indien gereist, das Land mit den meisten Kinderarbeitern. Er berichtet von Mädchen und Jungen, die teilweise bereits mit fünf Jahren ganztags arbeiten müssen, prangert die Machenschaften skrupelloser Firmenchefs an und deckt auf, warum auch wir unwissentlich Produkte aus Kinderarbeit kaufen.
Berührend und aufrüttelnd!

'Endlich nun können viele an der spannenden Arbeit von Pütter teilhaben und nicht nur die wenigen - zu denen auch ich zähle -, die Pütter bei seinen Kontrollen und Befreiungsaktionen begleiten durften.' Norbert Blüm

Benjamin Pütter, 1958 in Freiburg geboren, ist Kinderarbeitsexperte. Als solcher reiste er in den letzten 37 Jahren über 80-mal nach Indien und war selbst mehrmals dabei, wenn Kinder aus der Sklaverei befreit wurden. Seit November 2015 ist er Berater für die Bereiche Kinderrechte und Kinderarbeit beim Kindermissionswerk Die Sternsinger.

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Leseprobe

1BEFREIUNGSAKTION

Seit Tagen sondiere ich zusammen mit Harilal und Uttam Kumar die Lage in einem Dorf in der Nähe von Allahabad, um eine Befreiungsaktion vorzubereiten. Nun geht es endlich in die heiße Phase. Wir müssen unbedingt die Arbeitsinspektoren des Distriktes, die Verantwortlichen bei der Polizei und den Regierungspräsidenten für diese Aktion gewinnen. Das größte Problem ist dabei, dass unser Vorhaben vorher keinesfalls bekannt werden darf. Es muss uns gelingen, den Ort der Razzia geheim zu halten, gleichzeitig aber müssen die Verantwortlichen in den Behörden einbezogen werden, damit die Kinder, die befreit werden sollen, später Anrecht auf das staatlich zugesicherte Befreiungsgeld haben. Und dabei wissen wir nur zu gut, dass die Regierungsvertreter mit hoher Wahrscheinlichkeit korrupt sind und monatliches Schweigegeld genau von dem Knüpfstuhlbesitzer erhalten, bei dem wir die Kinder befreien wollen. Eines ist sicher: Erfährt er vorab davon, werden wir bei der Razzia keine Kinder antreffen.

Heute, am 23. November, ist es uns gelungen, genügend Autos für die Aktion zu organisieren. Der Arbeitsinspektor sichert uns zu, dass er zwei Jeeps zur Verfügung stellt, eine für uns überraschende Zusage. Zwei weitere Fahrzeuge organisieren wir selbst.

Um 8.00 Uhr fahren wir aus einem Vorort von Allahabad zum Treffpunkt bei Childline (Kindernottelefon) in der Innenstadt. Um 9.15 Uhr kommt endlich der Arbeitsinspektor. Wie so häufig geraten sich indisches und deutsches Zeitverständnis in die Quere. Dass er 45 Minuten zu spät dran ist, stört ihn nicht.

Zusammen mit dem katholischen Priester Father Louis Mascarenhas, dem Verantwortlichen für das Übergangszentrum für befreite Kindersklaven, fahren wir noch zum Tanken. Um 9.45 Uhr sind auch die Polizisten bereit, und wir können endlich starten. Wir erreichen den Ort Handia, wo wir den Vertreter des Regierungspräsidiums abholen, der in »nur« 15 Minuten so weit ist, dass er uns begleiten kann. Unsere Wagen sind am Straßenrand geparkt, und die Vorbeikommenden fragen uns ganz offen – und als wäre es das Normalste der Welt: »Na, wo gibt es denn heute eine Razzia?« Ganz offensichtlich wissen die Menschen hier Bescheid.

10.30 Uhr: In der Polizeistation von Handia bitten wir um die angeforderten Polizisten und erleben die nächste Überraschung. Normalerweise begleiten uns zwei bis drei Polizisten, die sich aber erst duschen, waschen oder anziehen müssen. Oft bedeutet dies, dass wir zwei bis vier Stunden zu warten haben. Doch heute sind sieben Polizisten sogar mit einem eigenen Polizei-Jeep bereits nach weiteren 15 Minuten abfahrbereit. In der Polizeistation entdecken wir den Pradhan, den Bürgermeister des Dorfes, in dem die Befreiungsaktion stattfinden soll. Seine Anwesenheit verunsichert mich sehr. Wissen die Knüpfstuhlbesitzer etwa schon Bescheid?

10.50 Uhr: Zum Glück gibt es zwei Zufahrtswege zu dem Dorf, in dem wir die Razzia durchführen wollen. Wir wählen einen nicht üblichen Weg, verfahren uns absichtlich und täuschen vor, dass diese Aktion misslingen wird. So gelingt es uns, die auf Motorrädern wartenden Späher der Knüpfstuhlbesitzer zu überlisten, die an der anderen Kreuzung, mit Gewehren und Pistolen bewaffnet, Wache stehen und sofort Alarm geschlagen hätten, wenn sie unsere Autos entdeckt hätten. Als wir auf einem Umweg in der Nähe des Ortes eintreffen, können wir die vier Fahrzeuge hinter einem Hügel und geschützt durch einen Mangohain abstellen. Die letzten 500 Meter bis zu den Hütten legen meine indischen Kollegen zusammen mit den Polizisten zu Fuß zurück. Ich selbst bleibe im Jeep mit abgetönten Scheiben auf der Rückbank sitzen und verberge mich, wenn jemand vorbeikommt. Nur zu gerne würden sich indische Politiker und die Presse bestätigt fühlen, wenn ein Ausländer bei einer solchen Aktion gesichtet würde. Denn immer wieder wird von ihnen behauptet, derartige Aktionen würden von der CIA gesteuert und nur deswegen erfolgen, um Indien zu diskreditieren.

Hinterher erzählen mir meine indischen Kollegen, dass sie keine Kinder entdeckt haben. Niemand arbeitete an den Knüpfstühlen. Ganz offensichtlich waren die Kinder vorher weggebracht oder versteckt worden. Die Polizisten standen duckmäuserisch vor dem Knüpfstuhlbesitzer; offensichtlich ist er ihr wahrer »Chef« – erhalten sie regelmäßig Bestechungsgelder von ihm? Ihre Inaktivität änderte sich jedoch schlagartig, als sie entdeckten, dass auch ein Kindersklavenhändler anwesend war. Diesen nahmen sich die Polizeibeamten vor, sie warfen ihn zu Boden, verprügelten und traten ihn mit ihren Stiefeln. Aber er packte nicht aus und leugnete entschieden, Kinder hierhergebracht und verkauft zu haben. War die Aktion ein Fehlschlag?

Abseits im Jeep wartend, wird mir zunehmend unwohl zumute. Eine Befreiungsaktion sollte nur wenige Minuten dauern, da sich sonst die Gundas, die bewaffneten »Schutztruppen« der Knüpfstuhlbesitzer, formieren können und es zu einem Feuergefecht kommen kann. Wo bleiben meine Kollegen? Haben wir einen Fehlschlag erlitten? Alle müssten längst zurück sein. Man wird wohl pro forma eine Regelkontrolle durchführen, und dabei kann man sich ruhig Zeit lassen, man hat ja nichts gefunden, nichts auszusetzen. Hat etwa meine Präsenz dazu beigetragen, dass es ein Fehlschlag geworden ist? Am Vorabend hatten wir den obersten Polizeipräsidenten des Bundesstaates Uttar Pradesh (rund 200 Millionen Einwohner) davon in Kenntnis gesetzt, dass am nächsten Tag eine Befreiungsaktion geplant sei und ein »Videshi«, ein Ausländer, beteiligt sein werde. Er hatte daraufhin alle Polizeidienststellen des Landes informiert und aufgefordert, Personal und Fahrzeuge zur Verfügung zu stellen, da sie sonst mit dienstrechtlichen Konsequenzen zu rechnen hätten.

11:50 Uhr: Plötzlich kommt ein kleiner Junge angerannt und erzählt, dass zehn Kinder gefunden wurden. Meine indischen Kollegen entdeckten sie zufällig in einem Heuhaufen. Die Knüpfstuhlbesitzer hatten sie dort kurz vor der Razzia versteckt und dabei nicht bedacht, dass die Kinder in diesem Versteck erstickt wären, hätten wir sie nicht gefunden. Ich bin erleichtert und zugleich schockiert wegen der großen Anzahl. Es zeigt sich einmal mehr, dass wir mit unseren Vermutungen recht hatten und mit einer guten Vorbereitung doch Erfolg haben können. Fünf Minuten später eilt endlich die ganze Gruppe mit den zehn Kindern herbei. Wir halten die Türen auf, und alle springen in die Autos, die mit aufheulenden Motoren losrasen. Die 10 Kinder sitzen völlig verängstigt übereinander und verstehen nicht, was gerade mit ihnen geschieht.

Uns ist bewusst, dass wir keine Zeit verlieren dürfen. Bei der vorletzten Befreiungsaktion hatten vom Knüpfstuhlbesitzer bestochene Männer aus dem Dorf den Weg einfach aufgerissen, es war Regenzeit, und ein Ausweichen war nicht möglich gewesen. So konnte damals die Rückfahrt der Fahrzeuge verhindert werden. Nach wenigen Minuten Fahrt erreichen wir die Polizeistation. Ich bleibe draußen im Jeep mit Father Louis zurück. Es wäre viel zu gefährlich, nicht nur für mich, sondern auch für meine indischen Kollegen, wenn wir uns öffentlich zeigen würden. Für die korrupten Polizeibeamten und Regierungsvertreter wäre es dann nur zu klar, dass diese Aktion vom Ausland gesteuert worden war.

Nun werden die Kinder von den Behörden befragt und registriert. Für jedes Kind wird eine Befreiungsurkunde ausgestellt. Hierzu werden Name, Name des Vaters, Wohnort und geschätztes Alter vermerkt und Fingerabdrücke genommen. Dass eine solche Urkunde ausgestellt werden konnte, ist höchst außergewöhnlich, da sie von drei verschiedenen Behörden unterschrieben werden muss, die damit bezeugen, dass sie an der Befreiungsaktion teilgenommen haben. Alles vollzieht sich friedlich und geordnet.

Beim letzten Mal war dies ganz anders gewesen. Da hatten schwer bewaffnete Schutztruppen der Knüpfstuhlbesitzer versucht, die Polizeistation einzunehmen und »ihre« Kinder zurückzuholen. Es war ihnen zum Glück nicht gelungen. Heute allerdings ist zum ersten Mal ein Kindersklavenhändler im Allahabad-Distrikt bei einer Befreiungsaktion für Kindersklaven verhaftet worden. Er sitzt jetzt im Gefängnis von Handia ein.

Später, als wir uns im Übergangszentrum für befreite Migrantenkindersklaven befinden, erfahren wir mehr: Die Eltern dieser Kinder hatten zwischen 300 und 3000 Rupien (7 bis 70 €) erhalten und dafür ihre Kinder an den Sklavenhändler verkauft. Seitdem wurde kein Geld mehr gezahlt. Zum ersten Mal bei einer Befreiungsaktion ist es möglich, dass die Kinder ihre bescheidene Habe mitnehmen können: ihre Plastiksandalen und ihre Zweitkleidung. Ganz offensichtlich hatte der Knüpfstuhlbesitzer die Kinder gut behandelt. Da hatten wir in der Vergangenheit bei ähnlichen Aktionen viel schlimmere Situationen erlebt. Die heute befreiten Kinder bekamen zweimal am Tag zu essen und durften während der Arbeit Musik hören. Gearbeitet wurde täglich von 6 Uhr morgens bis 17.30 Uhr. Hatten die Kinder allerdings bis dahin ihr tägliches Pensum nicht geschafft, mussten sie Überstunden bis manchmal kurz vor Mitternacht machen. Ich frage bei mehreren Kindern nach, ob sie tatsächlich täglich so lange arbeiten mussten. Alle bestätigen mir dies. Weder sonntags noch an den ganz großen indischen Feiertagen wie Deepawali (Neujahr) oder Holi (dem Farbenfest im Frühjahr) hatten sie frei.

Es zeigte sich, dass unsere Vorsicht berechtigt war, mich nicht mit in die Polizeiwache von Handia zu nehmen, denn es gab dort eine heftige Auseinandersetzung darüber, dass man einen Ausländer gesehen habe und was dies zu bedeuten habe. »We have seen a fourth vehicle, a Tata Sumo, and...

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