I. Die Feuertaufe
Vor dir ein Mund.
Mit seinen plombierten Backenzähnen, seiner Zunge mit den bläulichen oder wie von Staub überzogenen Papillen, dem Speichel, von dem er getränkt ist, der gespannten Haut der Lippen, die an zwei träge Nacktschnecken erinnern.
Nur näherst du dich ihm, um ihn zu küssen, und eine Verklärung findet statt. Vergessen das wenig appetitanregende Spektakel des Fleisches. Der Mund ist nun der Punkt, an dem sich die Ausdruckskraft des Gesichts konzentriert, wie ein dezentes Echo auf die Verwirrung, die sich der Augen bemächtigt, doch zitternder, sanfter.
Das ist die Magie des Kusses. Man braucht weder ein junges Mädchen noch ein Heiliger zu sein, muss durchaus nicht die Transzendenz bemühen, um zu fühlen, dass in diesem so schlichten Akt der Geist sich des Fleisches bemächtigt. So lange dieser Moment der Schwebe anhält, ist das organische Leben wie ausgeklammert, treten unter der Haut Emotionen zu Tage, wird das Tier zum Gott. Wäre ich Christ, würde ich das mit der Eucharistie oder mit dem Mysterium der Inkarnation vergleichen. Doch diese Verweise sind unnötig und drohen in diesem Stadium nur, die Aufmerksamkeit abzulenken.
So wunderbar der Kuss ist, so offensichtlich banal ist er auch. Er ist weniger intensiv und weniger raffiniert als der Liebesakt; man hat seine Freude am Küssen, doch man kann eine ganze Weile darauf verzichten, ohne einen akuten Mangel zu verspüren; es gibt langweilige oder misslungene Küsse; und man kann problemlos sein Leben mit jemandem teilen, der schlecht küsst. Der Kuss versetzt woanders hin, doch nie sehr weit weg vom Gewöhnlichen. Sein Zauber ist allen zugänglich, er ist bescheiden, schamhaft, beruhigend – was ihn umso zweideutiger macht. Philosophen und Psychologen haben überreichlich Intelligenz darauf verschwendet, zu verstehen, was beim Geschlechtsverkehr vor sich geht, doch neigten sie dazu, den Kuss allzu stiefmütterlich zu behandeln.
Höchst bemerkenswert erscheinen mir in dieser Hinsicht die Sekunden, die dem Kontakt der Lippen vorausgehen. Das Gesicht macht sich bereit zum Küssen – es verwandelt sich zusehends. Man könnte sagen, es öffnet sich. Doch das ist nicht alles. In dieser kurzen Zeitspanne, maximal zwei oder drei Sekunden, manifestiert sich eine gewisse Unordnung. Die Proportionen zwischen Augenbrauen, Nasenspitze, Grübchen, Kinn sind nicht mehr so gut geregelt. Die präetablierte Harmonie wankt. Da ist allerhand in Bewegung. Wie eine Glaskugel, in der die Schneeflocken aufwirbeln, wenn man sie schüttelt, muss sich das Gesicht wieder neu zusammensetzen. Und diese Ordnung wird in der heiteren Gelassenheit des Kusses wiederhergestellt, zumeist bei geschlossenen Lidern. Während sich die Lippen und Zungen berühren, erstarrt der Ausdruck in einem Kunstwerk der Bildhauerei. Einen Augenblick lang war die Identität verweht, pulverisiert, nun fügt sie sich wieder zusammen.
Vor dem Geschlechtsakt verwandelt sich das Gesicht ebenfalls, doch auf andere Weise. Wie groß das Vertrauen oder die Lust zwischen den Partnern auch sein mag, die Blicke werden immer von einer Furcht oder einer Gier, einer nervösen Zuckung durchzogen. Unmittelbar vor der Penetration herrscht Anspannung, Konzentration der antagonistischen Kräfte. Liebe und Verführung legen Kriegsbemalung an. Die Jagdlust und ein heimlicher Raubtierinstinkt haben Anteil am Koitus. Der Kuss setzt nicht dieselben Affekte voraus. Er ist leichter und somit jenes Schleiers von Hass entledigt, der den sexuellen Blick trübt. Gott hat die Katze erfunden, damit der Mensch einen Tiger zum Streicheln hat, sagt ein Sprichwort. Ebenso erlaubt der Kuss, sich gefahrlos dem Verlangen zu nähern.
Und dennoch, welche Angst er am Anfang macht! Immer werde ich mich an jenen Gang am Collège Jacques Decour erinnern, an jenen alten, grauen, nach toter Maus stinkenden Winkel im Dachgeschoss, wo ich mit dreizehn Jahren kurz vor einer Verabredung mit einem Mädchen, das mich, wie ich mir sicher war, gleich zum ersten Mal küssen würde, vor lauter Schiss auf den Parkettboden pinkeln musste. Sie wollte mit mir gehen, soviel stand schon mal fest. Ihre Freundinnen hatten es mir bestätigt. Meine Kumpels machten bereits Witzchen über uns. Doch noch war nichts passiert. Mir ging es im Bauch um, mir war schrecklich übel, ich war in Panik wie nie zuvor. Es mag wie ein Scherz wirken, wenn ich die Szene erzähle, aber ich trieb haltlos mitten in einem Drama der Leidenschaft. In der Pause zwischen zwei Unterrichtsstunden habe ich mir einen ruhigen Flur gesucht, den vor den Physikräumen, um ein so drängendes Bedürfnis zu erledigen, dass ich es nicht einmal abwarten konnte, bis nach unten zu den Toiletten zu gehen. Ich erinnere mich, wie eine Urinlache zwischen meinen Turnschuhen hindurchlief. Dieses Mädchen würde sich meiner bemächtigen, mich aussaugen wie ein Vampir, und vielleicht würde ich gleich meine Seele aushauchen – wer weiß?
Starr vor Scham und Schrecken stand ich ihr kurz darauf im Schulhof gegenüber. Sie hatte große Brüste, groß genug, um unter ihrer Daunenjacke regelrecht pneumatisch zu wirken. Dieser Busen war für den leicht zu entflammenden Teenie, der ich war, eine echte Tortur. Ein blonder Pony, lange Haare, Himmelfahrtsnase – oh, Verzeihung, das klingt nicht nett; sagen wir, ihre Nase hatte etwas verschmitzt Aufmüpfiges. Ich war beeindruckt von ihr. Nur leider muss ich wohl gestammelt und ein erbärmliches und lächerliches Bild meiner selbst abgegeben haben. Sie hat an diesem Tag nicht mit mir geknutscht. Und auch an keinem anderen. Ich hatte umsonst gepisst. Was mag ich wohl gesagt haben, dass ich ein solches Missfallen bei ihr hervorrief? Sie hat mich keines Wortes mehr gewürdigt, und ich musste mich lange gedulden, noch ein Jahr Pickel ausdrücken, während ich mich melancholisch im Badezimmerspiegel inspizierte, bevor ich bei jemand anderem eine Chance bekam.
Auf einer Fahrt mit der Fähre von Calais nach Dover kam ich dann endlich in den Kreis der Eingeweihten. Völlig überrumpelt, hatte ich diesmal keine Zeit, in Panik zu geraten. Wir waren eine Gruppe Jugendlicher auf dem Weg zu einem Sprachaufenthalt in englischen Gastfamilien. Es war meine erste Reise ohne elterliche Aufsicht. Auf diesem Schiff gab es einen Diskosaal. Man tanzte auf der schmalen Tanzfläche zwischen den Spielautomaten und der Bar, unter einer Diskokugel. Ein Mädchen, etwas älter als ich, Bobfrisur, sehr brünett, grüne Augen, kam entschlossen auf mich zu. Sie warf mir ein »I want a kiss« entgegen. Ich tat so, als hätte ich nicht verstanden, sie wurde ärgerlich. Die Sommersprossen auf ihrem Gesicht färbten sich dunkler. »Give me a kiss … a long one.« Ich gehorchte. Alle sahen uns zu. Ich besaß keinerlei praktische Kenntnisse, doch weil ich mich der Herausforderung gewachsen zeigen wollte, habe ich sie sehr, sehr lange geküsst.
Unsere Zungen kreisten umeinander. Das fühlte sich gut an. Ich konnte währenddessen eine Hand unter ihre Seidenbluse schieben, die Speckröllchen an ihrem Bauch, den Flaum entlang ihrer Wirbelsäule, die Clips ihres BH abtasten; sie ließ es sich gefallen. Weil wir eng aneinandergeschmiegt bleiben mussten, ließ unser Atem unsere unteren Gesichtspartien ganz feucht beschlagen. Wir waren schweißnass, doch blieben immer im Rhythmus. Der Kreis der Zuschauer wurde zunehmend größer.
Wie lange mag dieses Schauspiel gedauert haben? Eine halbe Stunde? Wir haben erst aufgehört, als die Schiffssirenen die Ankunft im Hafen ankündigten. Nachdem ich mich losgelöst hatte von dieser Fremden, deren Name mir nicht mehr einfällt (Carol?) und mit der ich im Nachhinein kein einziges Wort mehr gewechselt habe, befand ich mich in einem schlafwandlerischen Zustand. Sie hatte mir einen Kuss gegeben, mit dem man hätte Tote aufwecken können oder eher – was aufs Gleiche herauskommt – Lebende einschläfern.
Natürlich hatte es vorher, in Grundschulzeiten, ein paar Pausenküsschen und kleine Liebeleien gegeben. Aber das zählt nicht. Falls die Anfänge der Sexualität den Eintritt ins Erwachsenenalter markieren, bleibt der erste wirkliche, bewusst erotische Kuss, mit ineinander verschlungenen Zungen, ein wichtiger Übergangsritus, dem die wirren kindlichen Vorstellungen nichts anhaben können. Er markiert die Schwelle zur Adoleszenz. Danach werden die Herzensangelegenheiten das große Ding des Daseins überhaupt sein. Der erste French Kiss läutet das Liebesleben ein und durchbricht den glücklichen Solipsismus des Kindes. Es gibt das Spiegelstadium; mit dem Ereignis eines solchen Kusses wechselt man auf die andere Seite des Spiegels. Man begnügt sich nicht mehr mit einem Spiegelbild, nunmehr braucht man den Blick des Anderen, um sich zu erkennen und zu lieben. Man dringt ein in die Welt der Anziehung und der Vortäuschungen.
Wenn der sexuelle Akt ein Punkt ist, ist der Kuss ein Komma. Eine Atempause im Satz.
Doch wie lange soll man diese Atempause dauern lassen? Die Dauer des geglückten Geschlechtsverkehrs ist ziemlich streng definiert. Das ist weniger eine Frage der Stoppuhr als des dramatischen Ablaufs. Zu kurz hieße Scheitern. Zu lang würde schon Sport, eine Suche nach Überschreitung, von Zeit zu Zeit lustig, mag sein, doch mit der Rundheit der Perfektion inkompatibel. Es besteht die Gefahr, dass einer der Partner vor dem anderen der Sache überdrüssig wird und so in die Paarung einen Hiatus hineinbringt, Quelle von Unbeholfenheiten und Verstellungen …
Zur Dauer des Kusses lässt sich nur sagen, dass sie unbestimmt ist. Die zärtliche Berührung der Lippen ist in eine Art zeitlichen Nebel gehüllt. Der Kuss ist ein konturloser Moment. Wenn er aufhört, kann er sogleich wieder einsetzen, sooft man es wünscht, nach dem Modus der...